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Ich habe beobachtet, dass des öfteren nach Erscheinen einer Studie o. Ä., deren Ergebnisse dem Leser nicht in sein „Weltbild“ passen, also nicht genehm sind, zuallererst die angewandte Methode in Zweifel gezogen wird, um so zu versuchen, die Aussagen und die Solidität zu erschüttern. Dies erlebe ich jetzt offenbar auch.
Es war für mich wie ein Geschenk, als ich gegen Ende der 1990er Jahre vom Bundesarbeitsministerium gebeten wurde, an einem großen Geschichtsprojekt zur Sozialpolitik in Deutschland seit 1945 zur Darstellung des Arbeitsschutzes in der DDR mitzuwirken. Die Arbeiten wurden von einem Beirat geführt, besetzt mit anerkannten professionellen Historikern. Sie berieten und gaben sehr konkrete Ratschläge. Meine methodischen Hintergründe sind hierdurch sehr geschärft worden. Eine klare Devise: Den Fachinhalt nicht isoliert betrachten, sondern im Umfeld und Gesamtzusammenhang. So habe ich bereits seinerzeit die Geschichte des Arbeitsschutzes aufgearbeitet, bin in zentralen Gremien damit anerkannt und in Rezensionen positiv bewertet worden. Aus diesem Projekt heraus ist ein elfbändiges Werk „Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945“ im Nomos-Verlag erschienen. Meine Darstellungen zum Arbeitsschutz der DDR sind in den Bänden 2 (2001), 8 (2004), 9 (2006) und 10 (2008) enthalten. Ich habe seitdem immer wieder und immer tiefer ein Dokumentenstudium betrieben, die sehr umfassende Literatur verfolgt, Archive durchstöbert, Internetforen gesichtet. Ich brauche keine Nachhilfe in Methodologie zur geschichtlichen Darstellung, wie ich sie jetzt in einem der Leserbriefe eher unprofessionell erhalte!
„Geschichtliche Abläufe und Ereignisse interpretiert er aus seiner neuen Sicht des Zeitgeistes“ sagt Dr. Szewczyk über mich. Genau das mache ich eben nicht. Seine Fundamentalvorwürfe zur Beschreibung mit der Sicht des Zeitgeistes bleiben abstrakt, denn jeder Versuch einer Konkretisierung dieser Vorwürfe läuft in den Leserzuschriften ins Leere und bleibt ohne Substanz. Wenn mit Zeitgeist ein populäres Arbeitsschutzverständnis vom Leser gemeint worden ist – so trifft dies auf keinen Fall zu. Mir geht es nicht um populäre Ansichten vom Arbeitsschutz der DDR. Ich stelle den Zusammenhang her zwischen den verschiedenen Fakten der damaligen Zeit in der DDR. Wie wurde das, was zum Arbeitsschutz entwickelt wurde, was auch Gesetzeskraft erlangte, was als Unterstützung von Fachleuten angeboten wurde – wie wurde das zum Teil deformiert, entstellt, verunglimpft usw., eben auch instrumentalisiert. Wie wurden auch die Fachleute des Arbeitsschutzes gesteuert durch die Vorgaben der SED. Wie erlangte vieles keine gewollte Wirksamkeit durch die politische Situation, die gesellschaftliche Realität, auch durch die wirtschaftlichen Zustände. Es gibt bei mir keinen Zeitgeist, sondern eine auf Quellen gestützte Darstellung der Fakten der Entwicklung. Die verschiedenen Sachverhalte werden mit Archivquellen sowie mit jüngeren Untersuchungen zur Geschichte der DDR allgemein und zu Sachverhalten des Arbeitsschutzes (insbesondere in jüngeren Dissertationen und anderen wissenschaftlichen Untersuchungen) untersetzt, auch über Auswertungen von Diskussionen in Internetforen u. a.
Und mir wird vorgeworfen, dass ich über Erscheinungen schreibe, die auch in der Bundesrepublik nicht anders wären. Aber: Ich schreibe über die DDR, wie sie sich nach den vielfältigen Quellen darstellt. Diese Vergleiche zwischen den deutschen Staaten, die immer wieder in den Entgegnungen durchschimmern, habe ich überhaupt nicht angestellt. Sie werden unterstellt oder herbeigeholt. Außerdem sollen und dürfen diese nicht daran hindern, Wahrheiten über die DDR auszusprechen. Und es geht nicht immer und ausschließlich um verbreitete allgemeine Erscheinungen in der DDR, die Dr. Hartig in einer persönlichen Mail an mich von mir in den Darstellungen erwartet und er Ausgeglichenheit quantitativ über die Seitenzahlen fordert. Das ist eben nicht Geschichtsschreibung! Wenn Strafgefangene unter schlimmsten Arbeitsschutzbedingungen zwangsweise arbeiten müssen, ist dies zu benennen, denn auch bei kleinster Zahl und wenigen, ja bei einzelnen Menschen ist und bleibt dies kritikwürdig. Dies kann dann eben mehr Seitenzahlen erfordern als zu anderen Fakten.
Der aus der DDR stammende Historiker und Soziologe Peter Hübner, jetzt im Zentrum für Zeithistorische Forschung tätig, befasst sich intensiv mit der Sozialpolitik der DDR, speziell auch mit der betrieblichen Sozialpolitik. Er leitet aus seinen Untersuchungen 1996 ab, dass sich die SED-Herrschaft nicht demokratisch, sondern gewissermaßen historisch-theoretisch als Verkörperung des proletarischen Klasseninteresses legitimierte und deshalb zur Aufrechterhaltung dieser Legitimationsfiktion ein sehr handfestes Interesse daran hatte, die Arbeiterschaft als quantitativ und soziokulturell bedeutendste Sozialgruppe ihres Staates zu „inszenieren“. Hieraus resultiert auch das Engagement der SED für den Arbeitsschutz, eingeschlossen seine Instrumentalisierung. Hübners Untersuchungen kommen 1995 zu der Einschätzung der 1980er Jahre: Höhere Planauflagen und damit verbundene größere Leistungsanforderungen, aber auch der daraus folgende stärkere Verschleiß an den Maschinen, führten zu Beeinträchtigungen der Arbeitssicherheit. Ich kann dieses Ergebnis seiner Recherchen nur bestätigen. Da können Arbeitsschutzgesetze, Konzepte usw. noch so gut sein.
Vielleicht kommt manches in den Fachbeiträgen der Zeitschrift zu kurz. In meinem Fachbuch „Zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Historischer Abriss der zum Arbeitsschutz in der SBZ/DDR“, erschienen 2011 im GRIN-Verlag, wurden den Inhalten zum Arbeitsschutz jeweils Kapitel zu den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen der verschiedenen Zeitperioden vorangestellt; sie bilden den Rahmen für den Arbeitsschutz und seine Aufarbeitung. Und insoweit steht bei mir der Arbeitsschutz nicht im luftleeren Raum. Nein, alle Quellen können von mir nicht gesichtet worden sein. Diesen Anspruch erhebe ich nicht. Aber die Quellen, die ich gesichtet habe, sind sehr umfangreich. Beispielsweise zur Nichteinhaltung von Überprüfungsfristen der Arbeitsschutzanordnungen. Zur Nichteinhaltung, die ich beschreibe, gab es zwar keine zentrale statistische Berichterstattung, die Dr. Szewczyk als Quelle benötigt, wohl aber einen umfangreichen entsprechenden Schriftwechsel des damaligen Arbeitsministeriums bzw. späteren entsprechenden Staatlichen Amtes (Dokumente im Bundesarchiv), der vielfach die Nichteinhaltung der Fristen belegt.
„Schlussfolgerungen sollten immer nur das Resultat unvoreingenommener sachlicher Untersuchungen sein.“ (Dr. Szewczyk). Genau das tue ich. Und sein Hinweis, ich gebe mir faktisch die politische Zielstellung für die Arbeit vor, weil im Vorspann auf Verklärung verwiesen wird: Ich weiß nicht, wann Herr Szewczyk einen Vorspann oder ein Vorwort schreibt – ich jedenfalls schreibe es zum Abschluss der Arbeiten. Es ist keine vorgegebene Zielstellung, sondern eine knappe vorangestellte inhaltliche Beschreibung von Inhalten des Beitrags, wie allgemein in Fachzeitschriften üblich. Es werden dabei z. T. im Verlauf des Beitrags dargestellte Zusammenhänge vorweggenommen und nicht „Sachverhalte werden nur nach Maßgabe der Zielstellung in die Betrachtungen einbezogen“, wie Dr. Szewczyk es ausdrückt. Meine Methode ist umgekehrt seiner.
In den Fachartikeln sind von mir immer wieder Legenden eingestreut, von denen Dr. Szewczyk erst aus meinen Beiträgen erfahren hat. Erforderlich ist das Verfolgen und Durchdenken der umfangreichen Literatur. Beispielhafte Entgegnung zu seinen Behauptungen: Legende 1 (SMAD-Befehl 150 von 1945 war Geburtsurkunde eines einheitlichen Arbeitsschutzes) wird wiederholt in der DDR publiziert (beispielsweise vom damaligen Direktor des Zentralinstituts für Arbeitsschutz in Dresden, Horst Rehtanz), noch 1975, als der einheitliche Arbeitsschutz bereits längst beseitigt und insoweit nicht mehr einer Hervorhebung wert war; Legende 2 (SMAD-Befehl Nr. 234 von 1947 war die Geburtsurkunde des Betriebsgesundheitswesens) wird mehrfach publiziert (beispielsweise vom DDR-Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger 1977), obwohl in den Archiven Materialien belegen, dass bereits knapp ein Jahr zuvor von deutschen Fachexperten eine Anordnung erlassen wurde, die dann wortgleich in den SMAD-Befehl übernommen wurde. Natürlich wurde dies in den damaligen Publikationen nie als Legende bezeichnet. Diese Einstufung resultiert aus historischer Aufarbeitung, mit der bestehende Behauptungen widerlegt werden. Liest man die enthaltenen Legenden sorgsam, so erkennt der mitdenkende Leser, dass es sich um zwei verschiedene Typen handelt. Es werden einerseits Legenden aufgezeigt, die bereits zu Zeiten der DDR durch SED und Staat gebildet wurden, und andererseits solche Legenden, die sich nach der Wende als Halbwahrheiten und insoweit als Verklärung des Arbeitsschutzes der DDR zeigen. Hinter beiden Typen stehen Quellen. Sie sind nicht erfunden, wie Dr. Szewczyk vermitteln möchte. Eine ganze Reihe von Publikationen ehemaliger DDR-Wissenschaftler, ehemaliger Gewerkschaftsvertreter u. a., die nach 1990 erschienen sind, enthalten solche Halbwahrheiten, nicht vollständig beschriebene Fakten usw. Nun stellt sich die Frage: Soll man unter Kenntnis der Vielzahl von Fakten aus den Archiven und dem Hintergrund der Realität in der DDR zu solchen Darstellungen mit Halbwahrheiten schweigen? Sollen sich solche Legenden weiter verbreiten? Oder soll man diesen Legenden entgegentreten? Ich habe mich zu Letzterem entschieden, um offen und ehrlich miteinander umzugehen durch Auseinandersetzung mit der Realität.
Dr. Hartig stellt u. a. die Frage: „Können Fakten/Tatsachen, ´die ja wirklich gut waren´, durch Hemmnisse, unter denen sie entstanden sind, schlecht und verdammenswert werden?“ Und er selbst sagt: „Ich glaube nicht, dass sich das logisch erklären lässt.“ Dies ist eine sehr grundlegende Diskussion. Es ist etwas völlig anderes, über die politische Situation, über entsprechende Machenschaften, wirtschaftliche Rahmenbedingungen usw. zu sprechen, unter denen vieles nicht so wirksam werden konnte, wie es vom Fachmann gewollt war. Und es geht auch nicht primär um das Entstehen von Konzepten usw., sondern um deren Wirksamkeit unter den politischen und wirtschaftlichen Bedingungen. Ich polemisiere an keiner Stelle gegen entstandene Konzepte, Instrumente usw. Nur im Einzelfall mache ich auf Lücken, Unvollkommenheit, die Gefahr der Bürokratisierung usw. aufmerksam. Ich kritisiere nicht die Fachleute oder allgemein die Menschen, im Gegenteil: Ich erkenne an, dass sie unter den gegebenen Bedingungen fachlich Bedeutsames geleistet haben. Ich hebe hervor, dass es den trotz allem guten Arbeitsschutz in der DDR nicht gegeben hätte, wenn trotz zentralistischer Planwirtschaft usw. nicht die Fachleute gewesen wären, die sich engagiert eingesetzt haben, mit Erfindungsreichtum alles am Laufen hielten. Wenn ich nun die Situationen und Bedingungen hinterleuchte, kritisiere ich noch lange nicht die engagierten Fachleute, die aktiven Praktiker des Arbeitsschutzes. Wenn ich durchaus positiv von vielen Konzepten, Theorien, Instrumenten des Arbeitsschutzes berichte – was sagt das allein aber über die praktische Wirksamkeit dieser Konzepte, Theorien usw. aus? Gar nichts. Man muss die verschiedenen Facetten beleuchten. Und ich sage damit: Nicht Konzepte sind schlecht, sondern was unter den politischen Bedingungen daraus wurde. Das ist eine andere Betrachtungsweise als die von Dr. Hartig. Und ich stimme ausdrücklich Herrn Brüggemann zu, der ausführlich und überzeugend darüber schreibt, dass vieles von der Persönlichkeit abhängt, wenn im Betrieb etwas durchgesetzt werden soll oder muss. Nur dadurch sind in der DDR überhaupt Fortschritte zur Senkung der Arbeitsunfälle usw. möglich geworden, trotz aller widrigen Umstände. Und um diese Differenzierung geht es mir. Und es geht dabei nicht nur um eine Schere zwischen Gesetzen und Praxis, sondern es geht auch um bewusste durch SED und Staat gesteuerte Umgehung von Gesetzen!
Neben dem Vorwurf, eine falsche Methodologie zu nutzen, besteht Kritik in den Leserbriefen an einzelnen fachlich-inhaltlichen Darstellungen. Dabei gibt es drei Hinweise darauf, dass ich nicht tief und breit genug aufarbeite; in fünf Fällen werden fehlerhafte Darstellungen unterstellt.
So erschien der Inhalt als nicht umfassend genug:
- Proklamationen, Direktiven und Gesetze des Alliierten Kontrollrates wurden nach Dr. Szewczyk nicht einbezogen. Diese Zusammenhänge sind in meinem erschienenen Fachbuch sehr ausführlich enthalten (insbes. Kapitel 2), soweit sie den Arbeitsschutz betreffen. Und zum Arbeitsschutz ist das minimalistisch. Ein Fachartikel in der Zeitschrift muss sich konzentrieren. Fehlende Aussagen darüber, dass im März 1946 die Alliierte Kontrollkommission einen Gesetzesentwurf billigte, der sich für eine Einheitsversicherung im gesamten Besatzungsgebiet aussprach, vermisst Dr. Szewczyk. Das ist im Fachbuch enthalten, auch dass in den Westzonen sehr wohl intensiv darüber debattiert wurde: „Noch während auf gesamtdeutscher Ebene die Erörterungen um eine Neuordnung der Sozialversicherung andauerten, wurde in der SBZ im Laufe des Jahres 1946 damit begonnen, kaum mehr umzukehrende Weichenstellungen vorzunehmen.“ (als kleiner Auszug). Die Entwürfe des Kontrollrates zur Einheitsversicherung datierten vom April 1946 und ein weiterer Entwurf vom August 1946. Die Arbeiten an dem Gesetzentwurf sind endgültig im Juni 1948 eingestellt worden, nachdem Briten und Amerikaner die Reform der Sozialversicherung zur innerdeutschen Angelegenheit erklärt hatten. In den westlichen Besatzungszonen überwog die Ablehnung der Einheitsversicherung. Die Entscheidungen zur einheitlichen staatlichen Kontrolle des Arbeitsschutzes fielen in der SBZ bereits 1945. Ich befasse mich nämlich nicht mit dem Versicherungssystem oder Entschädigungsregelungen, sondern insbesondere mit dem präventiven Anliegen des Arbeitsschutzes, der Verhütung von Gesundheitsschäden. Und der SMAD-Befehl 150 zur Organisation einer Überwachung des Arbeitsschutzes verbunden mit der Abschaffung der Aufsichtsbeamten der Berufsgenossenschaften, denn darum geht es insbesondere, datiert bereits von 1945. Zu diesem Sachverhalt gab es keinerlei Entwürfe oder verabschiedete Gesetze des Kontrollrates. Alliierte Kontrollratsgesetze betreffen den sozialen Arbeitsschutz, den ich aber in den Fachbeiträgen der Zeitschrift ausspare. Inhalte hierzu enthält Kapitel 2.4.6 meines Fachbuches über etwa fünf Seiten (z. B. zur Direktive des Kontrollrates Nr. 26 zur Regelung der Arbeitszeit von 1946; zum Verbot der Beschäftigung von Frauen auf Baustellen durch Gesetz Nr. 32 des Kontrollrats von 1946) einschl. beigefügten Dokumenten.
- Bei der Aufgabenzuweisung an Arbeitsschutzinspektoren zum Werkküchenessen fehlt Dr. Szewczyk der Hinweis, dass kostenloses Werkküchenessen Bestandteil der Arbeitsbedingungen und der Reallohngestaltung bildete. Hier wird im Fachartikel von mir diese Verbindung deutlich gemacht, die sicher auch breiter hätte dargestellt werden können. Aber es ist trotzdem nur bedingt Bestandteil des Arbeitsschutzes. Es sollten in der SBZ Entlohnungsfragen durch die Inspektoren überwacht werden. Dabei ist das Werkküchenessen eher ein Randproblem. Wichtiger ist die Zuweisung von fachfremden Aufgaben an die Arbeitsschutzinspektoren prinzipiell in dieser Zeit. Sie sollten generell allgemeine Arbeitsrechtsfragen überwachen. Das ist die Grundaussage, mit der deutlich werden sollte, dass damit die für den Arbeitsschutz erforderliche und mögliche Kraft reduziert wurde.
- Dr. Szewczyk vermisst tiefere und präzisere Darstellungen zum fehlenden Gefahrstoffrecht in der DDR. Es gab in der Realität der DDR keinen systematischen Gefahrstoffschutz. Dies habe ich deutlich sagen wollen. Und das ist nicht Zeitgeist, sondern ein aufmerksam machen auf Defizite damaliger Zeit. Da es hierzu keine Rechtsvorschriften in der DDR gab, kann ich auch nichts Konkretes dazu sagen. Es gab Grenzwerte zu Luftschadstoffen (TGL 32610) und zu nichttoxischen Stäuben (TGL 32620) mit dazugehörigen sehr allgemeinen Forderungen – das war es im Wesentlichen schon und das ist für Prävention im Arbeitsschutz von der Substanz her inakzeptabel. Es fehlten grundlegende Schutz- und Maßnahmenanforderungen. In der Bundesrepublik wurde bereits sehr früh die Verordnung über die Kennzeichnung gesundheitsschädlicher Lösemittel und lösemittelhaltiger anderer Arbeitsstoffe (Lösemittelverordnung) vom 26.2.1954 (Bundesanz. Nr. 43 vom 3.3.1954) erlassen. Zunächst war das Gefahrstoffrecht auch hier lange Jahre lückenhaft, aber es hat sich entwickelt. In der DDR eben höchstens punktuell, und zwar von Anfang bis Ende der DDR. Und wenn es nichts Wesentliches außer Grenzwerten gibt, kann ich dies nur konstatieren, aber nicht detailliert beschreiben. Das Bedauerliche ist, dass der DDR-Arbeitsschutz die großen SED-Programme zur Entwicklung der Chemie nicht für sich nutzen konnte und hierzu politisch geblockt wurde (ich erinnere mich an diskutierte Vorschläge des Zentralinstituts in Dresden in den 1980er Jahren), weil dies die Produktionsforcierung gehemmt hätte. Im November 1958 hatte die DDR ein Chemieprogramm verabschiedet („Chemie bringt Brot, Wohlstand und Schönheit“), dass die chemische Produktion in Zusammenarbeit mit den RGW-Staaten, die Erdöl lieferten, bis 1965 verdoppeln sollte. Demgegenüber blieben aber rechtliche Grundlagen zum Arbeitsschutz auf diesem Gebiet ein weißer Fleck. Fritz Rösel, Vorsitzender des Volkskammerausschusses für Arbeit und Sozialpolitik, verwies 1968 in einem streng vertraulichen Papier gerichtet an die Staatliche Plankommission auf die „Möglichkeit einer zunehmenden Gesundheitsgefährdung“ durch die Chemisierung der Volkswirtschaft (SAPMO-BArch, DY 34/6787, 1968). Es gab in der DDR also durchaus objektive Erfordernisse zur Ausgestaltung des Gefahrstoffrechts. Trotzdem blieb gerade dieses Gebiet ohne nachhaltige Beachtung (umfassend dargestellt in meinem Fachbuch, S. 234 und an einigen weiteren Stellen).
Insgesamt sind diese Hinweise auf verkürzte Darstellungen sicherlich generell berechtigt, wohl aber der knappen Möglichkeit einer Fachzeitschrift geschuldet.
In folgenden fünf Punkten sehen die Leserbriefe fachliche Fehler in meinen Beiträgen, denen ich begegnen möchte:
- Herr Brüggemann spricht im Leserbrief von einer umfassenden fleißigen Sammelarbeit an Fakten, kritisiert aber ein Ausblenden von politischen und gesellschaftlichen Einflüssen und Gegebenheiten, die einer ganzheitlichen wissenschaftlichen Betrachtung und Bewertung kaum gerecht werden. Dr. Szewczyk spricht von einem „Spannungsbogen“ zwischen „Unrechts- u. Unterdrückungsstaat“ einerseits und der „anspruchsollen Theorie“ und „Meilensteinen“ in den Vorschriften andererseits und dass ich dies „weder ideologisch noch fachlich glaubhaft erläutern bzw. erklären“ kann. Er unterstellt mir „einen Spagat zwischen einer fachlich/historischen Darstellung der Entwicklung des Arbeitsschutzes […] und der politischen Bewertung eines Systems und schreibt: „Im Ergebnis kann er keiner der beiden Seiten gerecht werden.“ Dr. Hartig urteilt, dass „der kleinste positive Ansatz negiert oder ins Gegenteil verdreht“ wird. Eine Beurteilung zu diesen Vorwürfen überlasse ich dem kundigen Leser, aber nicht nur dem der Fachartikel im Sicherheitsingenieur, sondern auch dem Leser meines Fachbuchs im GRIN-Verlag bzw. den Ausführungen zum DDR-Arbeitsschutz von mir in der „Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945“. In einem Zeitschriftenbeitrag sind zwangsläufig Verknappungen geboten. Aber es ging gerade um die gesellschaftlichen Einflüsse, die den Arbeitsschutz positiv (z. B. wenn die Parteibeschlüsse den Arbeitsschutz thematisierten, war manches durchsetzbar) oder negativ (z. B. der Plan und die Planerfüllung im Betrieb ließ den Arbeitsschutz oft außer acht) beeinflussten. Ich sehe die Ausblendungen der Einflüsse gerade nicht. Wesentlich war, die Zusammenhänge nicht nur und einseitig auf eine ökonomisch-technologische Basis zurückzuführen. Wichtig ist ebenso die politische Situation und deren Wirkung auf den Arbeitsschutz. Was aber nie meine Absicht war, ist die von Dr. Szewczyk benannte Bewertung eines Systems. Ich konzentriere mich auf den Arbeitsschutz und seine Einordnung in das System SED und Staat. Eine Gesamtbewertung der DDR kann ich in meinen Arbeiten nicht erkennen.
- Es gäbe nach Dr. Szewczyk verschiedene Brüche in der Arbeit: „So werden die Begriffe Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit verwendet ohne das erkennbar ist, ob er sie als Synonyme verwendet oder tatsächlich begrifflich.“ Ich war um Klarheit hierzu bemüht: Arbeitsschutz als Komplex der verschiedensten Maßnahmen, Mittel und Methoden zur Gewährleistung arbeitssicherer Bedingungen; Arbeitssicherheit, wenn es um den (anzustrebenden oder erreichten) Zustand, um Maßnahmen für die Sicherheit geht. Ich sehe die Begriffe nicht als Synonyme und finde auch keine Stelle, an der sie falsch verwendet wurden. Ich empfehle das „Kleine Lexikon des Arbeitsschutzes“ der DDR.
- Herr Szewczyk bestreitet, dass Arbeitsschutz von der SED für wichtig gehalten wird. „Als Beweis [für die Wichtigkeit] führt er [der Autor Wienhold] an, dass Ulbricht sich persönlich dagegen verwahrte, dass die Regierung die Arbeitsschutzverordnung beschließen wollte ohne einen entsprechenden Beschluss des SED-Politbüros. Ich interpretiere diesen Vorgang genau gegensätzlich: Für die Regierung war die Arbeitsschutzverordnung politisch nicht so bedeutsam, dass man sie dem Politbüro vorlegen musste. Ulbricht ging es in erster Linie um die Durchsetzung der führenden Rolle der Partei – nicht um den Arbeitsschutz.“ Abgesehen davon, dass damit die generelle starke politische Einflussnahme der SED auf den Arbeitsschutz und auch seine Instrumentalisierung mit dem Leserbrief bestätigt wird, betrachte ich dies differenzierter. Andere Fachleute der ehemaligen DDR sehen dies auch so. Beispielsweise verwies der Sozialwissenschaftler Prof. Gerhard Tietze mir gegenüber erst kürzlich in einem Telefonat, dass gerade Ulbricht sehr aufgeschlossen zum Arbeitsschutz war (insbesondere auch der damalige Vorsitzende des FDGB Herbert Warnke, der auf Ulbricht direkt Einfluss nahm; im Gegensatz zu dem FDGB-Vorsitzenden Harry Tisch in der Zeit Honeckers). Und es gibt eine Reihe von Beispielen, dass Ulbricht direkt in Inhalte des Arbeitsschutzes eingriff. Ulbricht positionierte sich auf der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 auch öffentlich zu Arbeitsschutzfragen. Dies trifft übrigens ebenso auf Otto Grotewohl zu, der sich sehr pointiert zum Arbeitsschutz äußerte. Es ist für die rund 40 Jahre DDR das einzige Mal, dass 1956 ein Ministerpräsident auf einer zentralen Arbeitsschutzkonferenz spricht, und zwar sehr pointiert (vgl. den Abdruck seiner Rede als Dokument 3.12 im Anhang meines Fachbuches). Und die andere Sicht, die Dr. Szewczyk hier einbringt, dass es um die Durchsetzung der führenden Rolle der Partei ging – das spreche ich überhaupt nicht ab. Das war sicher so. Aber beides ist richtig und nicht alternativ zu sehen.
- Dr. Szewczyk spricht von „politischer Polemik auf niedrigstem Niveau“ und das es „mit einer sachlichen Analyse nichts zu tun“ hätte, wie beispielsweise Legende 5 (Bezug zwischen Arbeitsschutz u. dem Volksaufstand 1953) sowie Legende 6 (Verkürzung der Arbeitszeit bei gefährlichen Bedingungen, Ausgleich durch Erschwerniszuschläge u. Ä. werden als Surrogate bezeichnet). Wenn der zugehörige Text zur Legende 5 richtig gelesen wird, ist erkennbar, wie nach dem Volksaufstand in der Arbeitsschutzpolitik reagiert wurde. Es entstand regelrechter Aktionismus mit neuen Beschlüssen zum Arbeitsschutz, nur um die Menschen zu beruhigen. Die erlassene Verordnung über die weitere Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter und der Rechte der Gewerkschaften vom 10.12.1953 (vgl. Dokument 3.9 im Anhang meines Fachbuches) hatte kaum neue Arbeitsschutzinhalte, wurde aber politisch benötigt. Dies sind keine agitatorischen Darstellungen durch mich, sondern die Nutzung von Agitation für den Arbeitsschutz durch die SED direkt im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953. Der 17. Juni war Auslöser für eine breite Welle von Beschlüssen und Vorschriften zum Arbeitsschutz, mit großem Aufwand in der Öffentlichkeit seinerzeit dargestellt. Da diese Beschlüsse überwiegend nichts Neues brachten, sind sie inzwischen auch in Vergessenheit geraten, waren seinerzeit aber „Beruhigungspillen“. Und Surrogate sind für mich schon Erschwerniszuschläge, die sogenannte „Arbeitsschutzmilch“ usw. Wir haben als Arbeitsschützer bereits in der DDR dagegen gesprochen, dies als Arbeitsschutzmaßnahmen zu sehen. Das hat mit anspruchsvollen Konzepten der Gestaltung von Arbeitssicherheit wenig bis gar nichts zu tun.
- Dr. Szewczyk bezeichnet es als „grotesk, um nicht zu sagen dumm“, dass ich auf fehlende Auseinandersetzung in der Zeit der SBZ mit dem Begriff „Betriebsarzt“ abhebe. Dies kritisiert auch Dr. Hartig in seinem Leserbrief und bezeichnet meine Ausführungen hierzu als „ungeheuere politische Provokation“. Meine Position dazu: In der SBZ wurde die Bezeichnung etabliert in einer Zeit, da der Nationalsozialismus noch im Denken der Menschen verwurzelt war. Das öffentliche Bewusstsein über den Betriebsarzt der NS-Zeit wird in meinem Buch charakterisiert („verhasster Gesundschreiber“ u. v. m.) und aus diesen Zusammenhängen wird klar, dass im Nachkriegsdeutschland diese Bezeichnung völlig diskreditiert war. Ein direktes Einordnen der Fabrikärzte in den Betrieb, wie sich dies bereits vor dem Ersten Weltkrieg in der chemischen Industrie oder in anderen Großbetrieben in der Weimarer Zeit entwickelt hatte, wurde ja in der SBZ abgeschafft, also auch die Weimarer Erfahrungen hierbei eben nicht genutzt. Dieses neue Modell nach 1945 knüpfte direkt an die Einordnung der Betriebsärzte im Nationalsozialismus an. Aber es gab dazu keine Diskussion oder Aufklärung, die sich durchaus aufgedrängt hätte. Gerade auch, weil von Anfang an in der SBZ kurative Tätigkeit gefordert wurde und der Betriebsarzt krank und gesund schreiben konnte, wie dies unter Hitler Praxis war. Die SBZ/DDR ist ja auch nicht bei der bis 1945 üblichen Bezeichnung des Sicherheitsingenieurs geblieben, weil das für irreführend gehalten wurde. Der „Sicherheitsinspektor“ wurde etabliert, obwohl diese Bezeichnung nicht den Kern des Tätigkeitsprofils traf. Gerade dieses Umdenken im Aufgabenverständnis u. a. durch neue Begrifflichkeiten ist für den Betriebsarzt in der Öffentlichkeit verpasst worden. Beispielsweise sprach die Ärztekammer Westfalen 1948 vom „Werkgesundheitsdienst” und engagierte sich um dessen Auf- und Ausbau, wählte also durchaus eine andere Bezeichnung. Als das ASiG in der Bundesrepublik in sehr viel späterer Zeit rund 30 Jahre danach kam, waren die belasteten Deutungen der Vergangenheit nicht mehr gegenwärtig. Und diesen Zusammenhang in den Leserbriefen herzustellen ist indiskutabel.
Sehe ich diese inhaltlichen Kritikpunkte zusammenfassend, so erschüttern sie Grundaussagen meiner Publikationen in keiner Weise. Es kommt keine substanzielle Kritik an den historischen Fakten, sondern eher ein Bekritteln einzelner Darstellungen, die sogar bei sorgfältigem Lesen und Denken nicht einmal aufgetreten wären. Ich habe keinen Grund, von den Fundamenten meiner Aussagen abzurücken.
Und schließlich werden mir persönlich Vorwürfe in den Leserbriefen gemacht. Sie kommen von Dr. Hartig, Dr. Szewczyk und auch von Herrn Brüggemann. Fachlicher Meinungsstreit verbietet von Haus aus jede auf die Person gezielte Äußerung. Deshalb werde ich mich an solchen Diskussionen zur Person nicht beteiligen.
Lassen Sie mich als Resümee zu den Leserbriefen sagen: Kritik ist immer nützlich, wenn sie sachlich und konstruktiv ist. Ich nehme für mich in Anspruch, dass durch meine Arbeiten Lücken in den Darstellungen der historischen Prozesse und Tatbestände geschlossen werden konnten. In dieser Breite und Tiefe wurde der Arbeitsschutz der DDR bisher nie historisch aufgearbeitet. Sachlich-inhaltliche Ergänzungen sind geradezu wünschenswert.
Dr. Lutz Wienhold
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