Vor etwa zwei Jahren hat sich an dieser Stelle der Autor schon einmal kritisch mit der Anwendung von Risikoabschätzungen in der Gefährdungsbeurteilung auseinandergesetzt [1]. Standen damals vor allem instrumentelle Fragen im Vordergrund, soll es jetzt um grundsätzliche und systembedingte Probleme gehen.
Dr. Gerald Schneider
Der Risikobegriff ist unser täglicher Lebensbegleiter. In vielen Situationen ist es hilfreich, sich über mögliche Schäden klar zu werden, um entsprechende Gegenmaßnahmen rechtzeitig ergreifen zu können. Dabei wird das Wort „Risiko“ durchaus mit unterschiedlichen Gehalten verwendet. So ist dies häufig nichts anderes als ein alternativer Ausdruck für Gefahr oder Gefährdung.
In der Sicherheitstechnik und auch im Arbeitsschutz werden dagegen wohldefinierte Risikobegriffe verwendet, die immer eine irgendwie geartete Kombination aus der Eintrittswahrscheinlichkeit und der Schwere eines Schadens meinen.
Allerdings unterscheiden sie sich in Details: Die DIN EN ISO 12100 [2] beschreibt z.B. Risiko als „Kombination der Wahrscheinlichkeit eines Schadens und seines Schadensausmaßes“, während die für den Arbeitsschutz wichtige OHSAS 18001 [3] etwas komplexer definiert: „Verbindung aus Eintrittswahrscheinlichkeit eines gefährlichen Ereignisses oder einer Exponierung und der Schwere der Verletzung oder Erkrankung, die durch das Ereignis oder die Exponierung verursacht wird.“
Erstere zielt also auf die Wahrscheinlichkeit eines Schadens, zweitere auf die Wahrscheinlichkeit eines gefährlichen Ereignisses (oder einer Exponierung), setzt also gewissermaßen eine Stufe früher an. Wie auch immer, beide Definitionen sind im praktischen Arbeitsschutz mit erheblichen Problemen behaftet, wie nachfolgend exemplarisch an Leiterunfällen gezeigt werden soll.
Komplexe Interaktionen
Die im Arbeitsschutz üblichen Instrumente von Risikoabschätzungen implizieren relativ einfache und übersichtliche Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Leider sieht die Wirklichkeit viel komplizierter aus. Abbildung 1 stellt die Parameter dar, die für einen Schaden infolge eines Leiterunfalls verantwortlich sind oder sein können.
Der Schaden ist die Konsequenz eines gefährlichen Ereignisses, nämlich eines Absturzes von der Leiter. Der Eintritt dieses gefährlichen Ereignisses hängt nun sowohl von diversen physikalisch-technischen als auch von in der jeweiligen Person liegenden Faktoren ab. Die Kombination beider Parametertypen kann dann zu einem Leiterab- oder ‑umsturz führen.
Der Eintritt des Ereignisses hat aber kein klar determiniertes Schadensbild zur Folge, denn das hängt wiederum von dem Wirksamwerden einzelner oder mehrerer kombinierter Randbedingungen wie z.B. Fallhöhe, energiefangendes Körperteil und Bodenhärte ab.
Wie aus Abbildung 1 ersichtlich wird, sind also wenigstens rund 20 Parameter zu berücksichtigen, die alleine oder in unterschiedlichen Kombinationen auftreten, sich verstärken oder abschwächen können und die dann zunächst zu dem gefährlichen Ereignis und dann zum Schaden führen.
Dementsprechend ist eine einfache Schadensprognose schon aufgrund dieser vielen Parameter nicht möglich. Hinzu kommt, dass sich die Bedingungen während der Leiternutzung ständig ändern. Mit jeder Stufe, die erklommen wird, steigt das Risiko für einen bestimmten Schadenstyp, das dann auch noch modifiziert wird, wenn entsprechende Arbeiten auf der Leiter erfolgen. Das Risikogeschehen bei einer Leiternutzung und vielen anderen Tätigkeiten ist einem dynamischen Risiko unterworfen (siehe Abb. 2), wobei sich die Parameterwerte der Variablen kontinuierlich ändern. Die, in welcher Weise auch immer, erfolgte Risikobeurteilung wird daher nur eine allgemeine Aussage zulassen, sie kann das Ereignis nicht vollständig abbilden – oder nur mit einem unzumutbaren Aufwand.
Das Ergebnis eines Leiterabsturzes ist somit nicht grundsätzlich vorhersehbar, es erscheint mehr oder weniger zufällig. Eine auf mathematischen Modellen beruhende Vorhersage ist kaum möglich, da hierzu alle Anfangsparameter bekannt sein müssten und auch die hohe Empfindlichkeit des Systems gegen kleine Änderungen erfasst werden müsste. Eine genaue Kenntnis aller relevanten Systemparameter ist aber nicht gegeben. Damit gehorchen Unfälle (und auch Erkrankungen) zumindest weitgehend den Regeln deterministischer Chaosprozesse.
Diese inhärente Systemkomplexität auf einfache Wirkketten zu reduzieren, ist nicht angemessen, aber üblich. So unterstellen wir schnell, dass die Höhe, in der sich ein Arbeitnehmer befindet, für die Höhe des Schadens entscheidend ist. Das ist theoretisch richtig, aber die Tatsache, dass tödliche Absturzunfälle aus Höhen unter 3 m nicht seltener sind als aus über 10 m Höhe, belehrt uns über unsere eingeschränkte Sicht [4].
Generalisiert darf festgehalten werden, dass praktisch alle Arbeitssysteme von dieser hohen Komplexität beherrscht werden und Unfallschäden/Erkrankungen eine multivariante Entstehung aufweisen, die zumindest äußerlich hohe Ähnlichkeit mit deterministischen Chaosprozessen aufweisen.
Eingeschränkte Realität
Diese prinzipielle Unvorhersagbarkeit der konkreten Folgen eines Unfalles ist den meisten Arbeitsschützern zumindest implizit bekannt. Deswegen wird gerne auf die Statistik bereits eingetretener Unfälle oder Erkrankungen geschaut, um herauszufinden, welche Folgen mit welcher Häufigkeit auftreten. Im Rahmen einer Extrapolation können dann die dokumentierten Ergebnisse auf die jeweilige Situation übertragen werden.
Das führt zu einem weiteren Problem: Die gesammelten Daten aus vielen Unfallauswertungen zeigen ein höchst breit gespanntes Schadensspektrum. Tabelle 1 gibt ein rein fiktives Ergebnis einer Untersuchung von 1.000 Leiterabstürzen wieder. Wie leicht zu erkennen ist, reichen die Unfallfolgen von Schädigungslosigkeit bis Tod. Die realen Unfallschäden im Umgang mit Leitern spannen in ähnlicher Weise, die Daten sind aber nicht so lückenlos zugänglich, weshalb hier auf fik- tive, aber vollständige Fallzahlen zurückgegriffen werden musste.
Nun zur Risikoanalyse: Nach den Definitionen ist das Risiko die Kombination aus Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß. Aber welchen Schadens? Tod? Arm- und Beinbrüche? Oder vielleicht alle? Die Anwendung eines Risikotools muss immer mit der Frage verknüpft werden, welcher Schaden denn betrachtet werden soll und führt dann immer zu einer eingeschränkten Sicht der komplexen Realität.
Auf den ersten Blick könnte man sich hier für den Tod als den schwersten Schaden entscheiden. Der tritt aber in unserem Beispiel nur in einem Prozent der Fälle ein, wir erhalten damit also keine Aussagen über 99 % der anderen Schäden. Nimmt man dagegen die Arm- und Beinbrüche der mittleren Kategorie werden zwar rund 40 % der Fälle erfasst, aber immerhin 60 % nicht und dabei besonders die beiden schwersten Kategorien.
Wie man es auch immer dreht: Wenn eine ordentliche Risikoanalyse stattfinden soll, so sind die Wahrscheinlichkeiten aller Schadenskategorien zu ermitteln und nicht nur einer, die gegebenenfalls den Großteil möglicher Schäden gar nicht berücksichtigt (siehe Abb. 3) und zudem eine mehr oder weniger gut begründete subjektive Auswahl darstellt.
Eintrittswahrscheinlichkeit
Das nächste Problem ergibt sich bei der Erfassung der Eintrittswahrscheinlichkeit. Dieses Problem ist nicht trivial und weitaus komplexer als es meist diskutiert wird.
Wenn bereits vorhandene Daten auf neue reale Situationen übertragen werden, wird dabei der sogenannte frequentische Wahrscheinlichkeitsbegriff angewendet: Die Eintrittswahrscheinlichkeit eines bestimmten Ereignisses wird der Gesamtzahl aller Ereignisse gegenübergestellt. Wenn bei zehn Münzwürfen vier Mal der Kopf „fällt“ so ist die Wahrscheinlichkeit 4/10 = 0,4. Dieses frequentische Wahrscheinlichkeitsmodel setzt also eine entsprechende Statistik bzw. Ereignisdokumentation voraus, um überhaupt angewendet werden zu können.
In der Praxis gibt es solche Zahlen aber nicht. Zwar haben wir eine gewisse Vorstellung, wie viele Leiterunfälle es pro Jahr gibt (mit meldepflichtigen Schäden), aber wir wissen nicht wie viele Leitereinsätze es überhaupt gibt.
Genau dies ist aber die relevante Grundgesamtheit, denn wir wollen ja nicht die Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Schadens als Teilmenge der Unfälle sondern als Teilmenge der Leitereinsätze ermitteln. Die Frage lautet: „Wie gefährlich ist die Verwendung von Leitern?“ und nicht „Wie viele Armbrüche ereignen sich bei Leiterunfällen?“. 2010 gab es insgesamt 26.000 Leiterunfälle, davon verliefen 20 tödlich [5]. Wie hoch war also die Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Leiterunfalls? Sie war nicht 20:26 000 = ca. 0,001, sondern 20:X, wobei „X“ die Anzahl aller Leiternutzungen in Deutschland darstellt. Und dieses „X“ kennen wir nicht, ist aber deutlich größer als 26.000.
In ähnlicher Weise stellen sich die Fragen nach Strom, mechanischen Gefährdungen, Einsatz von Injektionsnadeln usw.: Ohne Kenntnis der Einsatz-/Expositionshäufigkeit im jeweiligen Betrieb kann eine frequentische Wahrscheinlichkeit nicht bestimmt werden. Die Anwendung frequentischer Wahrscheinlichkeitsmodelle erfordert immer die notwendigen Grunddaten und darf keine Einschätzungen enthalten. Ist das genug?
Nehmen wir für unsere Diskussion mal an, jeder deutsche Arbeitnehmer würde im Schnitt pro Jahr nur einmal eine Leiter verwenden, was sicher keine Überschätzung ist. Dann wären das rund 40 Millionen Leiternutzungen (= „X“). Die Wahrscheinlichkeit eines Absturzes liegt nach den oben genannten Daten aus 2010, wie leicht zu errechnen ist, bei 1:1500 und die eines tödlichen Unfalls gar bei 20:40 Millionen = 1:2.000.000.
Die Implikation ist, dass Leitern – zumindest mit Bezug auf tödliche Abstürze – ein extrem sicheres Arbeitsmittel sind. Dies ist aber eine Fehlinterpretation, denn ein Teil der Unfälle ereignete sich, obwohl Schutzmaßnahmen getroffen wurden und viele unfallfreie Leiterbesteigungen sind geglückt, obwohl keine Schutzmaßnahmen ergriffen wurden. Damit ist unser „X“ keine einheitliche Größe, sondern zerfällt in X1 = Einsätze unter vollständigen Schutzmaßnahmen und X2 = Einsätze ohne oder ohne ausreichende Schutzmaßnahmen. Statistisch gesehen haben wir es also mit zwei Grundgesamtheiten zu tun und nur die Grundgesamtheit X2 und die ihr zugeordneten Unfälle interessieren für eine Risikoanalyse zur Feststellung der Gefährlichkeit von Leitereinsätzen.
Und schon drängt sich das nächste Problem auf: Welche Bezugsgröße ist eigentlich die wirklich wichtige, welche beschreibt die Gefährdung am besten?
Dazu ein Beispiel anderer Art. In Deutschland gab es 2012 rund 1 Million meldepflichtige Arbeitsunfälle. Bei einer Arbeitnehmerzahl von gerundet 40 Millionen Personen könnte man die Wahrscheinlichkeit eines Arbeitsunfalles mit 1:40 angeben. Betrachtet man jedoch das Jahresarbeitsvolumen (wir haben jeden neuen Tag eine erneute Chance auf einen Arbeitsunfall) von rund neun Milliarden Arbeitstagen, so ist die Wahrscheinlichkeit insgesamt 1:9.000. Beides ist nach der Wahrscheinlichkeitstheorie möglich. Der erste Fall ist einer Urne vergleichbar, die n Kugeln enthält, von denen eine Teilmenge entnommen und nicht wieder zurückgetan wird. Im zweiten Fall werden die gezogenen Kugeln jedoch wieder zurückgeführt, so dass wieder alle „im Spiel sind“.
Bezogen auf unsere Leiterunfälle ist daher das Problem, ob eine Fallbetrachtung oder eine Zeitbetrachtung das Problem besser repräsentiert. Fiktive 200 „Mannleiterstunden“ können ja z.B. durch 400 Einsätze von jeweils einer halben Stunde erfolgen, es können aber auch 100 Einsätze mit jeweils 2 h vorstellbar sein. Je häufiger wir auf die Leiter steigen, umso höher ist die Gefahr, dass etwas schief geht. Das Risiko eines „gefährlichen Ereignisses“ steigt aber auch, wenn wir länger auf der Leiter verbleiben und dort arbeiten. Der Autor wagt hier keine Prognose, welcher Ansatz der bessere ist.
Eine frequentische Risikoanalyse, die diesen Namen verdient, stellt also einerseits höchste Ansprüche an die Qualität der Daten und benötigt andererseits eine klare Kenntnis über die relevanten Parameter, die die Gefährdungen bewirken. Beides ist zumindest im praktischen Arbeitsschutz nie gegeben.
Praxis mit Theoriewechsel
Diesen Schwierigkeiten entgehen Praktiker durch Anwendung der einfachen Matrixmethode: Eine n x n – Matrix (meist 3x3 oder 5x5, siehe z.B. [6]) listet Schadenskategorien gegen Eintrittswahrscheinlichkeiten auf und legt durch z.B. unterschiedliche Färbungen Risikostufen in der Feldbelegung fest (siehe Abb. 3). Der Sicherheitsingenieur oder die Fachkraft für Arbeitssicherheit gibt nun aufgrund seiner/ihrer Ausbildung, Erfahrung und in Prüfung des vorhandenen Arbeitssystems eine Prognose, welche Schadens-/Eintrittswahrscheinlichkeit und damit welches Risiko zu erwarten ist.
Dieses Verfahren ist aber kein Ergebnis von Messungen etc., sondern eine qualifizierte Einschätzung. Das frequentische, auf Statistik bezogene Wahrscheinlichkeitsmodell trifft deswegen hier nicht mehr zu, sondern es gilt die sogenannte bayesanische Wahrscheinlichkeit (benannt nach dem Mathematiker und geistlichen Thoma Bayes, 1701–1761), die als Grad von Überzeugung interpretiert oder als Sicherheit in der persönlichen Einschätzung eines Sachverhaltes verstanden wird. Letztlich würde eine entsprechende Prüfung nicht mehr die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses zum Gegenstand haben, sondern die Richtigkeit der durch den Sicherheitsingenieur getroffenen Aussage, also letztlich, wie wahrscheinlich sich das Vorwissen und die Einschätzung des Beurteilers mit der Realität decken.
Damit verbunden ist eine völlig andere wahrscheinlichkeitstheoretische Blickrichtung und so leben wir in der pikanten Situation, dass Theorie und Praxis zwei unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsmodellen verpflichtet sind; letzteres notgedrungen, da die mit den üblichen Risikodefinitionen geforderten Grundlagen nicht verfügbar sind und eher als theore-tisches Schreibtischkonstrukt denn als ein an der Praxis geschultes Beurteilungsinstrument aufzufassen sind.
Hier sieht der Autor das große Missverständnis in der Anwendung der Risikobetrachtung in der Gefährdungsbeurteilung. Risikoanalysen leisten Hervorragendes, wenn entweder die Bedingungen mehr oder weniger kontrollierbar und dokumentierbar sind (etwa bei Produktprüfungen), oder ausgefeilte, aber eben nicht leicht anzuwendende mathematische Prognose- oder Simulationsmodelle mit bekannten Parameterwerten angewendet werden können. In beiden Fällen bewegt sich Theorie und Praxis im Rahmen des frequentischen Wahrscheinlichkeitsmodells. Bei der Übertragung auf den Arbeitsschutz entfallen jedoch diese notwendigen Voraussetzungen.
Akzeptables Risiko?
Eng verknüpft mit dem Risikobegriff ist das akzeptable Risiko. Sowohl z.B. die OHSAS 18001 als auch die „Handlungsanleitung zur Überprüfung der Gefährdungsbeurteilung“ [7] der Länderbehörden legen dem Arbeitgeber auf, ein akzeptables/nicht akzeptables Risiko zu bestimmen. Das ist schnell gesagt, allein es entstehen erhebliche Fragen.
Zunächst wäre zu diskutieren, wie hoch das akzeptable Risiko denn sein darf. Hier gibt es keinerlei Festlegungen und Hilfen für die Anwender. In der Regel müssen sie sich an verstreuten Angaben orientieren, etwa an der Marke 1:2500 der TRGS 910, die sich aber eigentlich nur auf krebserzeugende Stoffe konzentriert und sicher nicht einen Leiterunfall und andere sicherheitstechnische Aspekte im Blick hat. Hier fehlt eine klare Aussage.
Dadurch entsteht eine empfindliche Lücke, die von den Verantwortlichen nur teilweise gefüllt werden kann. Im Matrixmodell dürften die „roten Bereiche“ als jene „verbotenen Zonen“ anzusehen sein, die jenseits der akzeptierten Grenze liegen. Wie aber werden die festgelegt? Die Übernahme aus z.B. einer DGUV-Vorschrift mag bequem sein, aber sie sagt nichts über das absolute Risiko bzw. die absolute Gefährdung der Mitarbeiter im roten Bereich aus.
Außerdem sind unterschiedliche Modelle im Umlauf und jeder Arbeitgeber kann im Rahmen seiner Gesamtverantwortung selbst die Verteilung der Ampelfarben bestimmen. Das kann dann dazu führen das die gleiche Tätigkeit als unterschiedlich risikobehaftet beschrieben wird (siehe Abb. 3). Wohl dem Arbeitnehmer, der bei einem vorsichtigen Arbeitgeber beschäftigt ist.
Und genau das wirft nun die Frage auf, wer denn das Risiko akzeptiert. Der Arbeitgeber? Die Mitarbeiter? Die Behörde?
Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes garantiert jedem das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Ein akzeptiertes Risiko birgt aber immer auch die potenzielle Schädigungsmöglichkeit bzw. nimmt diese in Kauf. Damit werden die Arbeitnehmer einer Gefährdung ausgesetzt, deren Höhe der Arbeitgeber festlegen soll, womit er dann Herr über Leben und Gesundheit seiner Mitarbeiter wird.
Dieser Umstand könnte erheblichen juristischen Sprengstoff enthalten, denn es könnte sein, dass Arbeitnehmer gegen die arbeitgeberseitige Akzeptanz eines Risikos klagen. Sie sind schließlich davon betroffen. Dem Arbeitgeber die Festlegung des akzeptablen Risikos aufzubürden ohne gleichzeitig eine im politischen Raum und in der gesellschaftlichen Diskussion abgestimmte Maßzahl oder Interpretationshilfe anzubieten, ist ein höchst fragwürdiges Vorgehen. Oder wartete man darauf, dass der Klagefall eintritt und die Gerichte die Arbeit der Politik machen? Jedenfalls greift in dieser Situation die Mitbestimmung der Betriebs- und Personalräte und das akzeptable Risiko ist zwischen den Betriebsparteien abzustimmen.
Eine Ausnahme bildet der Fall, dass das akzeptable Risiko dem „Restrisiko“ entspricht. Restrisiko beschreibt die verbleibenden Risiken, die trotz aller Maßnahmen verbleiben und sich aus diversen Umständen ergeben, die nicht vorhersehbar sind. Im Arbeitsschutz ist das Restrisiko jene Ungewissheit, die immer noch jenseits der stringenten Anwendung aller Schutzmaßnahmen nach der Kunst der Sicherheitstechnik und Prävention verbleibt. Daher sind Arbeitgeber gut beraten, diese Kunst von Sicherheitstechnik und Prävention voll auszuschöpfen.
Psychologie der Risikobewertung
Da eine Risikobewertung nach dem frequentischen Wahrscheinlichkeitsmodell meist nicht möglich ist, kommt der Übereinstimmung zwischen Realität und subjektiver Einschätzung eine herausragende Bedeutung zu. Gerade daran hapert es aber. Die psychologische Forschung hat festgestellt, dass es zu systematischen Wahrnehmungsverzerrungen kommt [8] (siehe Abb. 4) So werden alltägliche Dinge in ihrer Gefährlichkeit unterschätzt und seltene überschätzt.
Das Ergebnis ist, dass die meisten Arbeitsunfälle gerade in diesem alltäglichen Bereich erfolgen. Dagegen sind Tätigkeiten mit vermeintlich hohen Gefährdungen unterdurchschnittlich an Arbeitsunfällen beteiligt. In einem Stahlwerk trugen z.B. unterschätzte Tätigkeiten zu 53 % der Unfälle bei. Bei den überschätzten waren es nur 17 %. Wäre es nach den „mittleren Bedingungen“ gegangen, hätten es bei den unterschätzten Tätigkeiten nur 18 % sein dürfen.
Dies zeigt, dass unsere Risikowahrnehmung nicht den objektiven Gegebenheiten entspricht. Insbesondere Risikobeurteilungen auf Matrixebene unter Nutzung des bayesianischen Wahrscheinlichkeitsmodells sind hiervon betroffen und die häufig in Betrieben anzutreffende Sorglosigkeit im Umgang mit weit verbreiteten Werkzeugen oder bei häufig ausgeübten Tätigkeiten führt diese „psychische Hürde“ plastisch vor Augen. Es wäre vermessen, anzunehmen, eine Fachkraft für Arbeitssicherheit oder ein Sicherheitsingenieur wäre durch seine Ausbildung „nachjustiert“ und würde diesem – im übrigen hochwichtigen – psychologischen Effekt nicht erliegen.
Daher dürften alle Risikobeurteilungen von Routinetätigkeiten falsch unter‑, die bei ungewöhnlichen Arbeiten falsch überbewertet eingestuft sein. Dies zeigt, dass frequentische Risikobeurteilungen eindeutige Vorteile haben – wenn es denn die entsprechenden Daten dazu gäbe.
Ohne geht’s besser
Die bisherigen Punkte zeigen, dass Risikobeurteilungen im Arbeitsschutz erhebliche Probleme verursachen, die der Komplexität der Situationen, dem Mangel an verfügbaren Bezugsgrößen und theoretischen Inkohärenzen geschuldet sind. Ganz davon abgesehen darf bezweifelt werden, ob spezifische Aspekte, wie z.B. psychische Belastungen, überhaupt einer einfachen Risikobetrachtung zugänglich sind.
Diese Probleme lassen sich auf zweierlei Art lösen: Es wird „hingeluschert“, was sicher nicht sinnvoll ist, oder man verzichtet ganz darauf. Das ist die bessere Lösung.
Risikobetrachtungen im Arbeitsschutz entstammen dem Denken der 70er und 80er Jahre (siehe z.B. [9]), in dem man versuchte, an Maschinen und Anlagen erprobte Sicherheitskonzepte auf den Arbeitsschutz zu übertragen.
Dem gegenüber eröffnete das Arbeitsschutzgesetz von 1996 und die darin verankerte Gefährdungsbeurteilung eine völlig andere Herangehensweise. Nicht die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Unfalls oder Schadens spielt die entscheidende Rolle, sondern die prinzipielle Möglichkeit eines Schadens ohne spezifische Anforderungen an die Eintrittswahrscheinlichkeit. Das Begründungspapier zum Arbeitsschutzgesetz entkoppelt sehr bewusst die Gefährdung von der Eintrittswahrscheinlichkeit [10].
Daher reicht es zu erkennen, dass eine Gefährdung eintreten wird, um entsprechende Schutzmaßnahmen nach dem Stand der Technik einzuleiten. Die separate Ermittlung einer Eintrittswahrscheinlichkeit ist weder notwendig noch hilfreich. Dabei gilt, dass Gefährdungen an der Quelle zu bekämpfen sind (§ 4, Satz 1, Nr. 2 ArbSchG), also alles getan werden muss, um den Eintritt eines gefährlichen Ereignisses zu verhindern.
Die prinzipielle Unvorhersehbarkeit des Schadensausmaßes erzwingt geradezu diesen strikt präventiven Ansatz, es erst gar nicht zu einer Gefährdung kommen zu lassen. Dabei helfen die Erfahrungen aus Jahrzehnten und die Ergebnisse der Forschung, die durch diverse staatlichen Ausschüsse und die Unfallversicherungsträger als Hilfestellungen und Musterlösungen bereitgestellt werden.
Es kann durchaus hilfreich sein, sich darüber klar zu werden, welche etwaigen Schäden nach allgemein menschlichem Ermessen möglich sind. Dies hat aber keinen direkten Einfluss auf das Schutzniveau, da es darum geht, das schadenauslösende Ereignis auszuschließen.
Der Sturz von einem Dach aus 40 m Höhe ist daher prinzipiell nicht anders zu behandeln als der Sturz aus 2 m Höhe von einer Leiter, auch wenn der zu erwartende Schaden im ersteren Falle ungleich höher ausfallen dürfte. In beiden Fällen ist der Absturz zu vermeiden und hierfür sind keine Eintrittswahrscheinlichkeiten erforderlich, sondern die konsequente Anwendung präventiver Schutzmaßnahmen zur Unfallvermeidung.
Im Gegensatz dazu können insbesondere relativ niedrige Eintrittswahrscheinlichkeiten dazu verführen, das Sicherheitsniveau zu senken und entsprechende Darstellungen wie z.B. in der DGUV- Information 211–032 bestärken diese Ansicht. Ein solches Vorgehen wirkt dann jedoch gefährdungsverstärkend und deckt sich nicht mit der Intention des Arbeitsschutzgesetzes.
Alle Risikobetrachtungen im Arbeitsschutz stehen auf tönernen Füßen und der Autor geht davon aus, dass sich bei scharfem Nachfragen die große Mehrzahl derartiger Beurteilungen als falsch oder inkonsistent erweisen würde. Es ist ein Instrument, das nicht mehr zu einem modernen Arbeits- und Gesundheitsschutz passt und daher in diesem Kontext aufgegeben werden sollte.
Anmerkungen und Quellen
- Schneider, G., 2013: Risikokritik. – Sicherheitsingenieur, 6/2013, 8 – 14
- DIN EN ISO 12100: Allgemeine Gestaltungsleitsätze Risikobeurteilung und Risikominderung (ISO 12100:2010)
- OHSAS 18001:2007: Arbeits- und Gesundheitsschutz-Managementsystem – Anforderungen
- So verteilen sich die tödlichen Leiterabstürze auf folgende Höhenbereiche: Unter 3 m = 25 %; 3 – 5 m = 17 %, 5 – 10 m = 38 %, über 10 m = 18 %; Information der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt vom 12.02.2013, als Quelle dienet die BG Bau, die Zahlen stammen aus 2010
- Quelle: Steine und Erden Ausgabe 5 / 2010
- z. B. DGUV-Information 211–032, Gefährdungs- und Belastungskatalog – Beurteilen von Gefährdungen und Belastungen am Arbeitsplatz
- Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik (LASI): Handlungsanleitung zur Überprüfung der Gefährdungsbeurteilung. LV 59, 2014
- Musahl, H.-P. 2005: Zur Psychologie der Gefahrenperzeption. – Österreichisches Forum Arbeitsmedizin 2 / 2005, 4 – 12
- Nohl, J. 1989: Grundlagen zur Sicherheitsanalyse. – Verlag Peter Lang, 252 pp
- Bundestagsdrucksache 13 / 3540 vom 22. 01. 1996, Seite 16: „Gefährdung“ bezeichnet im Gegensatz zur „Gefahr“ die Möglichkeit eines Schadens oder einer gesundheitlichen Beeinträchtigung ohne bestimmte Anforderungen an deren Ausmaß oder Eintrittswahrscheinlichkeit“
Autor
Dr. rer nat. Gerald Schneider
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