Anzeige
Die Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) aus dem Jahr 2013 bereitet auch den Sicherheitsingenieuren und Fachkräften für Arbeitssicherheit immer wieder Probleme. Im Rahmen der Beratung zur Gefährdungsbeurteilung, auf deren Basis die spezifische Vorsorge stattfinden soll, werden nicht nur die Betriebsärzte, sondern auch die Fachkräfte für Arbeitssicherheit mit den notwendig gewordenen Umdenkprozessen konfrontiert.
Prof. Dr. Arno Weber
Seit 2013 ist nun die überarbeitete Version der ArbMedVV in Kraft getreten. War es schon schwer genug gewesen, die Fassung von 2008 mit dem Wegfall der Untersuchung über Fahr- und Steuertätigkeiten „zu verdauen“ – diese wurden in das Reich der nicht regulierten Eignungsuntersuchungen verbannt –, so stellte die neue Verordnung einen Paradigmenwechsel im Denken dar. Spricht man mit Medizin-Kollegen, dann gewinnt man den Eindruck, dass die Verordnung näher an ihre ursprüngliche Intention gerückt ist, aber aus der Perspektive des Praktikers weiter weg von den Unternehmen.
Es ist festzustellen: Die ArbMedVV wendet sich an Unternehmen und Ärzte für Arbeitsmedizin/Betriebsmediziner. Fachkräfte für Arbeitssicherheit werden in der Verordnung selbst nicht erwähnt. In der Arbeitsmedizinischen Regel AMR 6.4 „Mitteilungen an den Arbeitgeber nach § 6 Absatz 4 ArbMedVV“ wird die Fachkraft für Arbeitssicherheit immerhin als Informationsbeschaffer zu Anhaltspunk-ten für unzureichende Arbeitsschutzmaßnahmen und Partner für eine mögliche Arbeitsplatzbegehung genannt. Sind die Sicherheitsingenieure damit nun in einer Hol- oder in einer Bringschuld?
Die ArbMedVV regelt ausschließlich das Verhältnis zwischen Arbeitgeber, Betriebsarzt und Beschäftigten für die arbeitsmedizinische Vorsorge. Das The-ma Eignung(suntersuchungen) ist aus der ArbMedVV herausgenommen. Daher kann und darf der Arbeitgeber vom Betriebsarzt im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge keine Aussage zu einer Eignung bekommen, auch nicht in dem Rahmen, wie man es von früher gewohnt war.
Dies erfordert ein Umdenken, nicht nur bei den Arbeitgebern, sondern auch bei den Fachkräften für Arbeitssicherheit. Diese sind bisher davon ausgegangen, dass ein Mitarbeiter, der für eine Tätigkeit ungeeignet ist, „geschützt“ wird, wenn man ihm diese Tätigkeit aufgrund einer Untersuchung untersagt. Anders ausge-drückt: Wenn man sicherstellt, dass nur körperlich und geistig geeignete Personen mit Tätigkeiten beauftragt werden, wurde das als Teil der „Vorsorge“ betrachtet. Vorsorge wurde somit gedanklich mit der Eignungsfeststellung weitgehend gleich gesetzt. Von diesem Gedanken muss man sich ganz klar verabschieden.
Arbeitsbedingte Erkrankungen frühzeitig erkennen
Es ist Ziel der Verordnung, durch Maßnahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge arbeitsbedingte Erkrankungen einschließlich Berufskrankheiten frühzeitig zu erkennen und zu verhüten. Dazu ge-hören ein Beratungs- und Anamnesegespräch (Pflicht im Rahmen der Pflicht-Vorsorge) und eine stets freiwillige, vom Mitarbeiter verweigerbare medizinische Untersuchung. Um dem Anspruch der Beschäftigten auf ihr jeweiliges individuelles informelles Selbstbestimmungsrecht nachkommen zu können, sind die Informationswege durch die ArbMedVV deutlich beschränkt. Daher hat der Betriebsarzt das Ergebnis sowie die Befunde der arbeitsmedizinischen Vorsorge schriftlich festzuhalten, die Beschäftigten darüber zu beraten und ihnen das Ergebnis möglicher Befunde zur Verfügung zu stellen.
Es liegt dann in der Entscheidungsmacht des Beschäftigten, in eigener Verantwor-tung die Erkenntnisse aus der arbeitsmedizinischen Vorsorge dem Arbeitgeber mitzuteilen (oder nicht). Alternativ könn-te der Mitarbeiter auch den Betriebsarzt ganz oder teilweise von der ärztlichen Schweigepflicht entbinden.
Der Arbeitgeber kann allerdings nur tätig werden, wenn ihm entsprechende Kenntnisse vorliegen. Ohne Einverständnis des Mitarbeiters erfährt er jedoch nur „allge-meine Erkenntnisse aus der Vorsorge“, jedoch keine personalisierten Daten.
Anzahl der Untersuchten von großer Bedeutung
Hier liegt der erste Knackpunkt. Nehmen wir folgendes Szenario an: Wenn aus einer größeren Abteilung alle Mitarbeiter zeitgleich zur arbeitsmedizinischen Vorsorge gehen und der Betriebsarzt hinterher dem Arbeitgeber (und der Fachkraft) die allgemeine Erkenntnis mitteilt, dass es in der Abteilung zu auffälligen Befunden im Biomonitoring oder in der Audiometrie kam, kann gehandelt werden. Die Ursache, die vorher scheinbar nicht erkennbar war, kann nun ermittelt werden. Gehen aber auf Grund unterschiedlicher zeitlicher Taktung aus der gleichen Abteilung nur ein oder zwei Mitarbeiter im Zeitraum x zur Vorsorge und liegen dann die gleichen Auffälligkeiten vor, darf der Arzt hingegen keine Informationen weiterleiten, da die Daten dann nicht mehr anonymisiert sind. In diesem Falle kann es dazu führen, dass – ganz entgegen dem Vorsorge-Gedanken – alle Mitarbeiter der ganzen Abteilung weiterhin geschädigt werden, weil das Problem anderweitig nicht auffällt. Ist die Abteilung ohnehin klein, können formal, außerhalb eines wie auch immer gearteten „kurzen Dienstweges“, keine Informationen anonymisiert fließen.
Es stellt für die Fachkräfte für Arbeitssicherheit allerdings keinen befriedigen-den Zustand dar, wenn sie auf Infor-mationen aus inoffiziellen und teilweise rechtswidrigen „kurzen Dienstwegen“ angewiesen sind. Andererseits ist es angeraten, mit diesen Informationen aus derar-tigen Quellen sorgsam und vertrauensvoll umzugehen, um seine „Informanten“ zu schützen.
Einen Ausweg aus dem Dilemma, sowohl für Fachkräfte als auch Betriebsärzte, ist derzeit nicht erkennbar. Die Notwendigkeit zu einem vertrauensvollen Umgang untereinander wird aber umso mehr unterstrichen.
Die allgemeine Pflicht des Arbeitgebers nach § 3 ArbSchG zur Ergreifung von Maßnahmen wird mit der ArbMedVV konkretisiert. Das ergibt sich auch aus § 4 Ziffer 3 ArbSchG, nach der bei Maßnahmen unter anderem der Stand der Arbeitsmedizin (wie er durch die ArbMedVV definiert wird) zu berücksichtigen ist. Im Rahmen seiner Fürsorge-pflicht hat der Arbeitgeber grundsätzlich auch immer die Selbstbestimmungs- und Grundrechte des Beschäftig-ten zu beachten. Dieser notwendigen Fürsorgepflicht kommt der Arbeitgeber nach, wenn er sowohl das Arbeitsschutzgesetz als auch die ArbMedVV beachtet.
Personal- und Betriebsräte bleiben auch außen vor
Neben den Fachkräften für Arbeitssicherheit sind auch die Personal- und Betriebsräte in die arbeitsmedizinische Vorsorge nicht eingebunden. Der Personal- oder Betriebsrat erhält lediglich Informationen über Maßnahmen, die sich aus der arbeitsmedizinischen Vorsorge ergeben. Nach mittlerweile weit verbreiteter Rechtsauffassung kann durch eine Betriebsvereinbarung nicht geregelt werden, dass der Arzt grundsätzlich über die Vorsorgebescheinigung (Teilnahme bzw. Nicht-Teilnahme) hinausgehende Informationen an den Arbeitgeber weiterleitet. Eine generelle Schweigepflichtbefreiung des Arztes ist nicht zulässig!
Da die arbeitsmedizinische Vorsorge keine Tauglichkeit feststellt, bleibt § 7 Arbeitsschutzgesetz1 hinsichtlich Befähi-gung der Beschäftigten unberührt. Die ArbMedVV verbietet allerdings auch keine Eignungsuntersuchungen und schränkt ihre Zulässigkeit auch nicht zusätzlich ein.
Die Fragestellung, wie der Arbeitgeber seinen Pflichten aus §7 des Arbeitsschutzgesetzes nachkommen soll, bleibt gänzlich unbeantwortet. Denkbar sind arbeitsvertragliche Einzelvereinbarungen, die jedoch einen konkreten Bezug zur Gefährdungsbeurteilung haben sollten, das heißt auf konkreten Notwendigkeiten basieren. Außerdem stoßen solche Vereinbarungen bei bestehenden Arbeitsverträgen auf Umsetzungsschwierigkeiten. Betriebsvereinbarungen zu Eignungsuntersuchungen führen zu denselben rechtlichen Problemen wie bei der Vorsorge. Sie sind daher kritisch zu sehen. Der Versuch einer Hilfestellung durch die DGUV Information 250–010 „Eignungsuntersuchun-gen in der betrieblichen Praxis“ ist leider fehl geschlagen, da sich diese von der Stellungnahme des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) „Zum Thema Eignungsuntersuchungen“ (Stand: 30.07.2014) teilweise sehr deutlich, zum Beispiel in Bezug auf die Zulässigkeit von Betriebsvereinbarungen oder auch den möglichen Untersuchungsanlass, inhaltlich unterscheidet.
„Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts können Eignungsuntersuchungen vonseiten des Arbeitgebers im bestehenden Beschäftigungsverhältnis verlangt werden, wenn tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die Zweifel an der fortdauernden Eignung des oder der Beschäf-tigten begründen.“2 Die bloße Feststellung in einer Gefährdungsbeurteilung reicht jedoch nach Ansicht des BMAS nicht aus. „Schließlich ist auch die Gefährdungsbeurteilung nach dem Arbeitsschutzgesetz kein geeignetes Instrument zur Begründung von Eignungsuntersuchungen. Die Gefährdungsbeurteilung ist arbeitsplatz- beziehungsweise tätigkeitsbezogen und grundsätzlich unabhängig von der dort tätigen Person durchzuführen. Eignungsuntersuchungen sind keine aus der Gefährdungsbeurteilung ableitbaren Arbeitsschutzmaßnahmen.“3
Die Gefährdungsbeurteilung ist jedoch Grundlage bei der Feststellung der Arbeitsmedizinischen Vorsorge. So heißt es unter anderem in Zusammenhang mit biologischen Arbeitsstoffen: „Auf der Grundlage der Gefährdungsbeurteilung muss entschieden werden, ob Angebotsvorsorge, beispielsweise für Tätigkeiten mit HIV, angeboten werden muss.“4
Eignungsfeststellung, aber wie?
Es ist schwierig, bei der Beratung zur Gefährdungsbeurteilung diesen Unterschied plausibel zu machen. Zudem beantwortet das BMAS nicht, was denn nun die konkreten Anhaltspunkte sein können, die eine Eignungsfeststellung (ohne vorher vereinbarte individuelle vertragliche Regelung) mittels einer medizinischen Untersuchung möglich machen könnte. Vielleicht wären ja das die Punkte, die in die Gefährdungsbeurteilung aufgenommen werden können, um für den Arbeitgeber die Rechtssicherheit zu verbessern.
Ist es den Fachkräften möglich, derartige Kriterien zusammen mit den Betriebsärz-ten aufzustellen? Kann das nach derzeiti-ger Lage rechtssicher geschehen? Können die beiden Akteure des Arbeitssicherheitsgesetzes dafür haftbar gemacht werden, wenn der Arbeitgeber den möglichen Arbeitsgerichtsprozess verlieren sollte?
Aus präventiver Sicht ist es weiterhin sinnvoll, wenn bei bestimmten Tätigkei-ten regelmäßig Eignungsuntersuchungen stattfinden. Bekanntlich verändern sich der Mensch und seine Sinnesorgane im Laufe des Lebens. Frühzeitig zu erken-nen, dass ein Kranführer oder Staplerfahrer eine Brille benötigt – um dieses plakative Beispiele zu nennen – ist im Interesse aller, und sollte nicht ausschließlich in der Eigenverantwortung des Arbeitneh-mers liegen. Letztere kann, ohne bösen Willen zu unterstellen, durchaus unzureichend sein. Schleichende Veränderungen werden vom Mitarbeiter erst spät wahrge-nommen und der Faktor Bequemlichkeit beziehungsweise Eitelkeit spielt manchmal auch eine Rolle.
Fachexperten widersprechen öfters, dass ja nicht gesagt ist, dass bei bestimmten „kritischen“ Erkrankungen (z.B. Diabe-tes) der Mitarbeiter die Tätigkeit nicht mehr ausführen kann. Es ist auch garantiert, dass durch die medizinische Untersuchung mögliche unsichere Zustände durch eine Leistungsminderung treffsicher erkannt werden können. Hier fehlen sicher noch die schlüssigen evidenzbasierten Studien. Aber: Lohnt es sich nicht, in diesen Fällen zumindest genauer hinzu-schauen? Wenn Leib und Leben des Mitarbeiters selbst oder unbeteiligter Dritter bedroht ist, kann man nicht erst warten, bis etwas passiert ist. Erkenntnisse aus der Verkehrsmedizin – dort sind Unfälle aufgrund von medizinischer Vorschädigung bekannt – könnten zum Beispiel auf die betrieblichen Verhältnisse übertragen werden.
Vielleicht sollten, solange es keine konkreten Regelungen gibt, die Fachkräfte für Arbeitssicherheit und die Betriebsärzte so mutig sein, Kriterien für Eignungsuntersuchungen in den Betrieben im Rahmen der Beratung zur Gefährdungsbeurteilung festzulegen. Diese beiden Akteure im betrieblichen Arbeitsschutz verkörpern schließlich die geballte Arbeitsschutzkompetenz des Unterneh-mens. Solange die Vorschläge für sich plausibel und begründbar sind, erscheint auch das Haftungsproblem als wenig relevant. Derartige Vorschläge passen auch in das Bild eines „Managers für Sicherheit und Gesundheit“, wie es vom VDSI seit Jahren entwickelt worden ist.
Das Umdenken, die klare Trennung der Vorsorge von der Eignung, das Einspielen der Erkenntnisse aus der Vorsorge und die rechtliche Unsicherheit bei der Umsetzung der Eignungsfeststellung ist es, was es den Fachkräften, den Betriebsärzten und den Arbeitgebern so schwierig macht, mit der nun eingetretenen Situation umzugehen. Jede Schwierigkeit kann aber auch als Herausforderung verstanden werden. In diesem Sinne wird das Thema spannend bleiben.
Literatur:
VDSI (Hrsg.): Handlungsvorschlag zur Beratung der Unternehmen durch die Fachkraft für Arbeitssicherheit zur Umsetzung der ArbMedVV, Veröffentlicht auf der Arbeitsschutz aktuell, 20.08.2014
Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Zum Thema Eignungs-untersuchungen (Stand: 30.07.2014). www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Thema-Arbeitsschutz/zum-thema-eignungsuntersuchungen.pdf?__blob=publicationFile; Download am 02.09.15
Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Arbeitsmedizinische Vorsorge nach der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) – Fragen und Antworten (Stand: April 2014) www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Thema-Arbeitsschutz/Fragen-und-Antworten-ArbMedVV.pdf?__blob=publicationFile&v=1; Download am 02.09.15
DGUV-Information 250–010 „Eignungsuntersuchungen in der betrieblichen Praxis“ vom Juni 2014
1 ArbSchG, § 7 Übertragung von Aufgaben
Bei der Übertragung von Aufgaben auf Beschäftigte hat der Arbeitgeber je nach Art der Tätigkeiten zu berücksichtigen, ob die Beschäftigten befähigt sind, die für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz bei der Aufgabenerfüllung zu beachtenden Bestimmungen und Maßnahmen einzuhalten.
- 2 Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Arbeitsmedizinische Vorsorge nach der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) – Fragen und Antworten (Stand: April 2014), Ziff. 2.7
- 3 Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Zum Thema Eignungsuntersuchungen (Stand: 30.07.2014)
- 4 Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Arbeitsmedizinische Vorsorge nach der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) – Fragen und Antworten (Stand: April 2014), Ziff. 2.15
Teilen: