Neu ist es nicht: Bereits seit August 1996 besteht für alle Arbeitgeber die Verpflichtung, Gefährdungsbeurteilungen durchzuführen. Denn § 5 (1) des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) fordert, dass durch „eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdung“ zu ermitteln ist, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind. Die Gefährdungsbeurteilung ist damit das zentrale Instrument im betrieblichen Arbeitsschutz, sie dient dem Management der relevanten Gefährdungen und Schutzmaßnahmen.
Dipl.-Psych. Constanze Nordbrock, Dipl.-Ing. Jörg Bergmann
Im Arbeitsschutzgesetz wird auch aufgelistet, durch welche Faktoren sich Gefährdungen für die Beschäftigten ergeben können (vgl. § 5 (3) ArbSchG). Solche Faktoren sind beispielsweise die Gestal-tung und Einrichtung der Arbeitsstätte, physikalische, chemische und biologische Einwirkungen oder die Auswahl und der Einsatz von Arbeitsmitteln. Die letzte Änderung des ArbSchG vom 19.10.2013 hat der Gesetzgeber nun u. a. dazu genutzt, klarzustellen, dass hierzu auch „psychische Belastungen bei der Arbeit“ gehören (§ 5 (3) Nr. 6 ArbSchG). Die bisherigen Erfahrungen mit betrieblichen Gefährdungsbeurteilungen haben gezeigt, dass psychische Belastungen in der Praxis häufig „vergessen“ oder nur unzureichend betrachtet wurden. Nun ist also klar, dass eine Gefährdungsbeurteilung nicht vollständig sein kann, wenn nicht die psychi-schen Belastungen genau so betrachtet werden wie mechanische, chemische oder physikalische Gefährdungen.
Was sind Belastungen?
Doch was genau versteht man unter psychischen Belastungen? Psychische Belastungen sind die Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch auf ihn einwirken (DIN EN ISO 10075–1). Dies können Anforderungen aus der Arbeitsaufgabe, der Arbeitsorga-nisation, den sozialen Beziehungen, der Arbeitsumgebung oder neue Arbeitsfor-men sein (Leitung des GDA-Arbeitsprogramms Psyche, 2014). Der Begriff „Belastung“ ist dabei nicht negativ, sondern neutral zu verstehen.
Alle Belastungen wirken sich auf den Menschen aus. Maßnahmen zur Gestal-tung des Arbeitssystems sind immer dann notwendig, wenn sich durch die Belastungen Risiken für die Gesundheit der Beschäftigten ergeben. Aufgrund der zunehmenden Flexibilisierung der Arbeitswelt besteht weitgehend Konsens, dass psychische Einflussfaktoren zunehmen, zum Beispiel durch die fortlaufende Beschleunigung von Fertigungs‑, Dienstleistungs- und Kommunikationsprozessen (Badura et al., 2012). Psychische Einflussfaktoren, die nicht den menschlichen Leistungsvoraussetzungen entsprechen, können negative Folgen nach sich ziehen. Die Reaktionsmuster sind dann vielfältig. Häufig werden kurz‑, mittel- und langfristige Beanspruchungen unterschieden, die sich direkt im Verhalten, auf der emotional/kognitiven Ebene oder in körperlichen Reaktionen zeigen. Belastungen, die für einzelne Personen oder Personengruppen zu einem Sicherheits- und Gesundheitsrisiko werden können, müssen bei einer betrieblichen Beurteilung erkannt werden. Es geht also immer um die Beurteilung von Arbeitsbedingungen, nicht um die Beurteilung von Menschen!
Kennwerte
Die Bedeutung der Beurteilung psychischer Belastungen muss auch vor dem Hintergrund sich verändernder Kennwerte im Gesundheitssystem verstanden werden. Eindeutig feststellbar ist der seit Jahren andauernde deutliche Anstieg von Arbeitsunfähigkeits-Tagen wegen psychi-scher Erkrankungen. Nach Erkrankungen des Muskel-Skelett-System sind sie damit die Diagnosegruppe mit den dritthäufigsten (bzw. bei Frauen sogar zweithäufigsten) Arbeitsunfähigkeits-Tagen (Knieps & Pfaff, 2014). Außerdem wurden psychische Erkrankungen 2013 erstmals zur häufigsten Ursache von Frühverrentungen (Deutsche Rentenversicherung Bund, 2014). Psychische Belastungen am Arbeitsplatz führen natürlich nicht automatisch zu einer psychischen Erkran-kung, aber der Zusammenhang zwischen bestimmten psychischen Belastungen und Erkrankungsrisiken gilt als wissenschaftlich gesichert (Rau & Buyken, 2015). Auch Zusammenhänge zwischen psychischen Belastungen und dem Unfallgeschehen sind Gegenstand wis-senschaftlicher Studien und zeigen entsprechende Zusammenhänge auf (z.B. Kahlow, 2011).
Die Gefährdungsbeurteilung
Grundsätzlich können psychische Belastungen zu positiven, neutralen oder auch negativen Beanspruchungsfolgen führen. Bei der Beurteilung der Arbeitsbedin-gungen geht es zunächst darum, die Risiken für die Gesundheit und Sicherheit der Beschäftigten zu erfassen. Es bietet sich aber auch gleichzeitig die Chance, Entwicklungspotenziale zu entdecken. Grund genug, entschlossen auch psychische Belastungen und deren Folgen in den Fokus der Arbeitsgestaltung zu rücken. Der Schlüssel dazu liegt in einer geeigneten Beurteilung und damit auch der Umsetzung der gesetzlichen Forderung der betrieblichen Gefährdungsbeurteilung.
Da die Gefährdungsbeurteilung, wie bereits erwähnt, das zentrale Instrument im betrieblichen Arbeitsschutz ist, sollte es für einen Arbeitsplatz oder eine Tätigkeit auch nur eine Gefährdungsbeurteilung geben. Diese Beurteilung muss dann eben alle relevanten Gefährdungen (auch die psychischen!) enthalten und alle durchzuführenden Maßnahmen umfassen. Nur so ist ein wirkungsvolles Management, das heißt ein Steuern und Lenken der Risiken überhaupt möglich. Eine Aufteilung auf verschiedene Dokumente, die dann noch durch verschiedene betriebliche Akteure/Stellen verwaltet werden, funktioniert erfahrungsgemäß nicht und ermöglicht auch nicht die Berücksichtigung von Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Gefährdungsfaktoren und den festgelegten Maßnahmen. Dennoch kann es erforderlich sein, im Rahmen des Gesamtprozesses „Gefährdungsbeurteilung“ für bestimmte Gefährdungen und Belastungen auch spezielle, vertiefte Beurteilungen mit eigenen Werkzeugen und Hilfsmitteln durchzuführen. Die Beurteilung psychischer Belastungen etwa erfordert in der Regel die Anwendung spezieller Methoden.
Folgende Vorgehensweise ist dabei empfehlenswert: Ausgehend von der Aufteilung des Gesamtbetriebs in sogenannte „Betrachtungseinheiten“, d.h. in Arbeitsplätze bzw. Tätigkeiten mit gleichartigen Arbeitsbedingungen, erfolgt zunächst eine stichwortartige Beschreibung der Arbeitsabläufe. Wenn die sich daran anschließende Gefährdungsermittlung ergibt, dass psychische Belastungen vorliegen, so werden diese mit einem geeigneten Instrument genauer analysiert. Je nach Problemlage und Bedarf gibt es dazu eine ganze Reihe von Instrumenten und Verfahren – dabei kann es sich um schriftliche Mitarbeiterbefragungen, Workshops oder Interview-Verfahren handeln (Leitung des GDA-Arbeitsprogramms Psyche, 2014, Beck et al., 2012).
Bevor eine Methodik ausgewählt wird, sollten bewusst die individuellen Voraussetzungen des Betriebs im Hinblick auf dieses Themenfeld bedacht werden. Es ist hilfreich, alle Prozessschritte einer Gefährdungsbeurteilung im Vorfeld zu planen:
- Ist ein ausreichendes Basiswissen zur Thematik im Betrieb vorhanden? Die Unfallversicherungsträger haben z.B. verschiedene Qualifikationsange-bote zum Themenfeld „Beurteilung psychischer Belastungen“.
- Ist die Personalvertretung informiert? Betriebs- bzw. Personalräte besitzen bei der Organisation von Gefährdungsbeurteilungen Mitbestimmungsrechte und müssen miteinbezogen werden.
- Welche Ausgangsinformationen liegen im Betrieb bereits vor und welche Methode ist in die bisherige betriebliche Arbeit gut integrierbar? Für den Betrieb kann auch entscheidend sein, ob die Methodik eher für Klein- oder Großbetriebe geeignet ist oder ob branchenspezifische Aspekte beson-dere Berücksichtigung finden sollen. Das Internetportal zum GDA-Arbeitsprogramm Psyche enthält aktuelle Informationen zum Thema und benennt Ansprechpartner der Sozialpartner, Unfallversicherungsträger und der Länder, die zur Thematik beraten können (www.gda-psyche.de).
Unabhängig vom ausgewählten Verfahren ist die enge Einbeziehung der Beschäftig-ten unverzichtbar. Die Instrumente unterstützen die betrieblichen Akteure, psychische Belastungen zu erkennen, aber wie sind diese zu beurteilen? Wann wird eine bestimmte Belastungsausprägung zu einer Gefährdung für Sicherheit oder Gesundheit? Wie bei anderen Belastungsfaktoren z.B. Lärm, Beleuchtung oder mechanischen Faktoren muss zunächst die Gefährdung identifiziert werden, um dann das Risiko für die Betroffenen zu bestimmen. Die Beurteilung der psychischen Gefährdungen ist nicht ganz einfach, denn verbindliche Grenzwerte in Rechtsverordnungen oder Technischen Regeln existieren hier nicht.
Aber wie bei anderen Belastungen auch, kann man normierte Instrumente nutzen, die „Schwellenwerte“ definieren. Diese beruhen dann auf arbeitswissenschaftlich gewonnenen Erkenntnissen. Es können natürlich auch Vergleichswerte genutzt werden – entweder betriebsinterne, z.B. durch Vergleich von verschiedenen Standorten untereinander, oder durch den Vergleich mit Daten aus der Branche. Auch Workshops, die interne oder externe Expertenurteile berücksichtigen, können zur Entscheidungsfindung genutzt werden. Gerade bei der Beurteilung psychischer Gefährdungen sollte dieser Schritt im Vorfeld thematisiert werden und transparent nachvollziehbar sein.
Nach Abschluss der Beurteilung werden Maßnahmen festgelegt und deren Zielerreichung überprüft. Die gefundenen Belastungen und die festgelegten Maßnahmen sollten dann auch wieder in die zentrale Dokumentation der (Gesamt-)Gefährdungsbeurteilung übernom-men werden, so dass dann eine zentrale, abgestimmte Steuerung und Durchführung von Maßnahmen (z.B. Arbeitsplatz- und Arbeitsablaufgestaltung, Qualifizierung, Unterweisung, Information) ermöglicht wird. Die zusammengefasste Dokumentation dient auch zur Vorlage bei Prüfungen durch die zuständigen Behörden.
Um die Beurteilung psychischer Belastungen in der Praxis zu erleichtern hat die BGN branchenspezifische Hilfen entwickelt, die auch kleinbetriebstauglich sind (Internet: http://praevention.portal. bgn.de/9793/27506?wc_lkm=6608).
Darin werden Beobachtungs-Interviews angeboten, die relevante Belastungskonstellationen abfragen und als (Kurz-)Interview durchgeführt werden können. Die unmittelbare Beteiligung der Betrof-fenen kann so sichergestellt werden. Auf den Beurteilungshilfen können Lösungsvorschläge direkt notiert und Maßnahmenplanungen dokumentiert werden. Beobachtungsinterviews können aber nur dann effektiv eingesetzt werden, wenn die Rollenbesetzungen der Interviewer und der Befragten sinnvoll geklärt sind. Sie sind dann eine geeignete Methode, um die allgemeine betriebliche Gefährdungsbeurteilung zu ergänzen.
Als geeignete Verfahren können auch moderierte Analyse-Workshops genutzt werden. Diese setzen schon bestimmte Ressourcen an Räumlichkeiten und Moderatoren voraus. In der Broschüre „Der Ideentreff“ (DGUV, 2014) ist das Verfahren anschaulich beschrieben. Zur Erläuterung der Methode existieren auch kurze Filmsequenzen (www.bgn.de). Die Vorgehensweise ist besonders für Kleinbetriebe geeignet und wird sowohl von den Unfallversicherungsträgern als auch von Seiten der Ländern als Methodik empfohlen. In Großbetrieben hat sich in den letzten Jahren die Arbeitssituationsanalyse als Werkzeug zur Bearbeitung von Sicherheits- und Gesundheitsthemen bewährt. Hierbei handelt es sich um ein moderiertes Gruppenverfahren. Anlei-tungen zur Durchführung der Methode sowie zur geeigneten Qualifikation von Moderatoren sind verfügbar (http://quali fizierung.portal.bgn.de/8803/20283/1).
In Betrieben, die bereits Mitarbeiterbefragungen durchführen (z.B. im Rahmen des Gesundheitsmanagements), kann die Beurteilung psychischer Belastungen mit dieser Verfahrensweise verknüpft werden. Zu bedenken ist, dass aus den Ergebnis-sen einer Mitarbeiterbefragung manchmal erst Risikobereiche identifiziert werden. Das Ableiten geeigneter Maßnahmen muss im Prozessablauf gewährleistet sein. Praxisbeispiele zur erfolgreichen Durchführung solcher Befragungen sind z.B. auf www.inqa.de zu finden.
Fazit
Die angemessene Beurteilung psychischer Einflussfaktoren ist gesetzlich gefordert, vor dem Hintergrund der sich wandelnden Arbeitswelt und aktuellen Herausforderungen der Arbeitssystem-Gestal-tung aber auch ein Gewinn für alle Beteiligten. Sicherheits- und Gesundheitsrisiken können erkannt und verringert werden, eine menschengerechte Gestaltung der Arbeit kann gefördert werden. Die psychischen Leistungsvoraussetzungen der Beschäftigten im Arbeitssystem bewusst zu thematisieren ist kein Nachteil für wirtschaftliches Arbeiten, sondern eine Voraussetzung.
Literatur:
Badura, B., Ducki, A., Schröder, H., Klose, J. & Meyer, M. (Hrsg.) (2012). Fehlzeitenreport 2012: Gesundheit in der flexiblen Arbeitswelt: Chancen nutzen, Risiken minimieren. Berlin: Springer.
Beck, D., Richter, G., Ertel, M., Morschhäuser, M. (2012). Gefährdungsbeurteilungen bei psychischen Belastungen in Deutschland. Verbreitung, hemmende und fördernde Bedingungen. Berlin: Springer Verlag.
Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg.) (2014). Rentenversicherung in Zeitreihen. DRV-Schriften, Bd. 22.
Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) (Hrsg.) (2014). So geht‘s mit Ideen-Treffen. Tipps für Wirtschaft, Verwaltung und Dienstleistung. DGUV Information 20 6–007.Berlin.Fehlzeiten Report 2012 (Hrsg. Badura, B. & Antja Ducki); Gesundheit in der flexiblen Arbeitswelt. Chancen nutzen – Risiken minimieren.
DIN EN ISO 10075–1 Ergonomische Grundlagen bezüglich psychischer Belastungen; Teil 1: Allgemeines und Begriffe
Kahlow, A. (2011). Negatives Betriebsklima erhöht das Unfallrisiko. Sicherheit und Gesundheitsschutz, S. 6–7.
Knieps, F. & Pfaff, H. (Hrsg.) (2014). BKK Gesundheitsreport 2014: Gesundheit in Regionen. Zahlen, Daten Fakten. Berlin: MWV.
Leitung des GDA-Arbeitsprogramms Psyche (Hrsg.) (2014): Empfehlungen zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung. Berlin.
Rau, R. & Buyken, D. (2015). Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, Volume 59, Issue 3.
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