Die Rolle der Fachkraft für Arbeitssicherheit (Sifa) hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert: Gefragt sind führungs- und kommunikationsstarke Persönlichkeiten, die betriebliche Prozesse in Gang setzen und aktiv gestalten. Im Interview schildert der VDSI-Vorstandsvorsitzende Professor Dr. Rainer von Kiparski, welches Profil die Sifa benötigt, um erfolgreich wirken zu können, zum Beispiel im Hinblick auf das Betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) und arbeitsbedingte psychische Belastungen.
Es wird viel darüber diskutiert, dass sich die Sifa zum Manager für Sicherheit und Gesundheit entwickeln soll. Wenn Sie die hiesige Unternehmenslandschaft betrachten: Gibt es diesen neuen „Managertypus“ bereits und wo hat er sich vor allem durchgesetzt?
von Kiparski: Es gibt diesen neuen Managertypus insbesondere in international agierenden Unternehmen. Ein wichtiger Indikator sind Stellenanzeigen in überregionalen Zeitungen. Dort wird verstärkt nach Spezialisten in den Bereichen Sicherheit, Gesundheit und Umwelt gesucht, die als EHS‑, SHE- oder HSE-Manager bezeichnet werden (Kürzel für engl. Environment, Health, Safety, Anm. d. Red.). An diese Terminologie hat sich auch der VDSI angelehnt, indem wir für den deutschen Sprachraum den Begriff des Managers für Sicherheit und Gesund-heit eingeführt haben. In kleinen und mittleren Unternehmen ist die Bezeichnung EHS-Manager allerdings nicht üblich. Dennoch ist feststellbar, dass sich das Aufgabenspektrum der hier tätigen Fachkräfte für Arbeitssicherheit immer mehr dem Profil der EHS-Manager annähert. Die Fachkräfte für Arbeitssicherheit in kleinen und mittleren Unternehmen sind oft alleinige betriebliche Ansprechpartner zu allen Fragen rund um Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz bei der Arbeit. Sie wachsen also automatisch in eine Managerrolle hinein, da es in vielen Betrieben keine weiteren Fachleute für diese Disziplinen gibt. Ein ganz aktuelles Beispiel ist der Betriebsärztemangel, von dem mittlerweile sehr viele Unternehmen in Deutschland betroffen sind. Laut einer Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) aus dem Jahr 2014 beträgt die gegenwärtig wahrgenommene Betreuungslücke bei den Betriebsärzten rund 4,7 Mio. Stunden pro Jahr. Wenn die Neuanerkennung von Ärzten auf dem gegenwärtigem Niveau stagniert, wird diese Lücke in den kommenden zehn Jahren auf 6,8 Mio. Stunden pro Jahr steigen. Schon allein aufgrund dieser personellen Konstellation füllen Fachkräfte für Arbeitssicherheit die Rolle eines Managers für Sicherheit und Gesundheit aus.
Es gibt eine ganze Reihe von Fachleuten, die im BGM aktiv sind. Wo lässt sich in diesem Umfeld die Sifa verorten – gerade vor dem Hintergrund des skizzierten beruflichen Selbstverständnisses?
von Kiparski: Die Fachkraft für Arbeitssicherheit übernimmt, auch aufgrund der oben geschilderten personellen Situation im Unternehmen, oft die alleinige Koordination von BGM-Projekten. In den Unternehmen, in denen es Betriebsärzte gibt, erledigt sie diese Aufgabe gemeinsam mit dem Betriebsarzt – häufig steht sie diesem beratend zur Seite. Die Fachkraft für Arbeitssicherheit hat einen entscheiden-den Vorteil gegenüber allen anderen Fachleuten im BGM: Diese sind oft nur projektbezogen im Unternehmen tätig und deshalb bei weitem nicht so tief in den betrieblichen Abläufen verankert wie die Sifa selbst. Daraus leitet sich die zentrale Bedeutung der Fachkraft für Arbeitssicherheit für das BGM ab. Um die damit verbundenen Chancen auch wahrnehmen zu können, gibt es zwei unab-dingbare Voraussetzungen: Erstens muss sich die Fachkraft für Arbeitssicherheit in den beiden Bereichen Gesundheit und Umweltschutz weiterbilden und zweitens muss sie mehr Verantwortung übernehmen wollen.
Ein BGM aufzubauen ist eine Sache – systematisch und nachhaltig geeignete Maßnahmen durchzuführen eine andere. Welche Aufgaben fallen Ihrer Ansicht nach in den Zuständigkeitsbereich der Sifa?
von Kiparski: Zunächst einmal gehört es in den Aufgabenbereich der Fachkraft für Arbeitssicherheit, dafür zu sorgen, dass die Grundlagen für ein BGM bereits im Betrieb vorhanden sind. Dazu zählen Gefährdungsbeurteilungen, Unterweisungen und alle anderen Elemente, die für ein modernes Arbeitsschutzsystem unerlässlich sind. Weiterhin sollte sie sich dafür einsetzen, dass ein BGM nicht isoliert von anderen betrieblichen Systemen eingeführt wird. Vielmehr muss es kompatibel zu den anderen Managementsystemen im Unternehmen sein, zum Beispiel zu Qualitätsmanagement- und Umweltschutzsystemen. Es ist also wichtig, ein integriertes System im Unternehmen zu etablieren, in dem alle Teilsysteme und deren Elemente aufeinander abgestimmt sind. Die Fachkraft für Arbeitssicherheit kann hier wesentlich zur Integration der Prozesse beitragen. Hierzu ein Beispiel: Es macht wenig Sinn – je nach Anzahl der eingeführten Managementsysteme – drei oder vier verschiedene Unterweisungen zum gleichen Thema für die Beschäftigten durchzuführen. Vielmehr müssen die Inhalte miteinander im Rahmen einer Unterweisung kombiniert werden, damit die Mitarbeiter die Zusammenhänge erkennen und dementsprechend handeln können. Darüber hinaus kann die Fachkraft für Arbeitssicherheit die Kommunikation des Arbeits- und Gesundheitsschutzes im Unternehmen mit Inhalten füllen und steuern sowie andere Multiplikatorfunktionen ausüben. Dazu gehört vor allem, dass sie Beschäftigte über Arbeits- und Gesundheitsschutz informiert, sensibilisiert und aktiviert.
… und wie kann die Sifa sicherstellen, dass BGM nicht zur „Eintagsfliege“ wird?
von Kiparski: Die angestoßenen Prozesse müssen nachhaltig sein. In der Praxis kommt es immer wieder vor, dass ein Unternehmen ein beispielsweise dreimonatiges Projekt mit BGM-Maßnahmen durchführt, sich aber im Anschluss – wenn die hierfür eigens engagierten externen Berater nicht mehr vor Ort sind – niemand um die Aufrechterhaltung und Weiterführung der neu aufgebauten Strukturen und Prozesse kümmert. Ein BGM ist ein kontinuierlicher Prozess, bei dem der Unternehmer stetig Beratung benötigt: Die durchgeführten Maßnahmen müssen laufend analysiert und angepasst werden. Die Fachkraft für Arbeitssicherheit muss also die „Flamme am Brennen halten“: Sie muss die Geschäftsführung und alle relevanten Führungskräfte immer wieder neu davon überzeugen, wie wichtig es ist, nicht im Status quo zu verharren, sondern weiter an der Optimierung des BGM zu arbeiten.
Bei der Einführung der DGUV Vorschrift 2 zeigten sich einige Fachleute – darunter auch Sie – optimistisch, dass die Vorschrift die Kommunikation zwischen Geschäftsführung und Fachkraft für Arbeitssicherheit verbessert. Dies könnte der Sifa auch neue Chancen eröffnen, eine Qualitätsverbesserung im gesamten Arbeits- und Gesundheitsschutz – und damit auch im BGM – durchzusetzen. Wie ist Ihre Meinung dazu?
von Kiparski: Die DGUV Vorschrift 2 hat uns viel gebracht. Sicherlich ist die Vorschrift noch nicht in allen Betrieben angekommen – alles braucht schließlich seine Zeit. Aber aus Unternehmen, in denen die DGUV Vorschrift 2 umgesetzt wird, habe ich sehr viel Positives gehört. Die Vorschrift sieht vor, dass der Unternehmer jährlich zusammen mit der Fachkraft für Arbeitssicherheit und dem Betriebsarzt unter Beteiligung des Betriebsrates Ziele zum Arbeits- und Gesundheitsschutz vereinbart. Diese Zielvereinbarungen – in Kombination mit der im Vorfeld vollzogenen Analyse der Maßnahmen des vergangenen Jahres – führen meiner Auffassung nach zu einer ganz eindeutigen Qualitätsverbesserung. Bei den Zielvereinbarungen geht es um ganz konkrete Projekte, die für ein Unternehmen relevant sind und bei denen alle Beteiligten kooperieren müssen. Dies verhindert den früher in vielen Unternehmen dominierenden „Partikularismus“ oder dämmt diesen zumindest stark ein. Durch eine konsequente Umsetzung der DGUV Vorschrift 2 können Vertreter der einzelnen Disziplinen eben nicht mehr einfach „ihr“ Projekt durchführen und die anderen Verantwortlichen weder informieren noch beteiligten. Mit der DGUV Vorschrift 2 wird transparent festgelegt: Wer macht was? Wer hat welche Kapazitäten, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten? Und wer verfolgt welche Interessen? Natürlich hat der Unternehmer dabei immer noch das letzte Wort, schließlich geht es auch um die Budgetplanung.
Blicken wir auf ein anderes Thema: In den vergangenen Jahren hat sich die Zahl der Arbeitnehmer, die über arbeitsbedingte psychische Belastungen klagen, sprunghaft erhöht. Wie können sich Sifas bei dieser Problematik wirkungsvoller einbringen?
von Kiparski: Die Auseinandersetzung mit der arbeitsbedingten psychischen Belastung der Beschäftigten ist in erster Linie Sache der Geschäftsführung und der Vorgesetzten im Betrieb. Der fachliche Umgang damit sollte vorrangig in den Händen der Betriebsärzte liegen, falls diese hierfür Kenntnisse und Interesse mitbringen und vor allem, wenn sie überhaupt verfügbar sind. Es ist der Sache aber nur förderlich, wenn sich auch andere Fachleute im Unternehmen mit dieser Thematik auseinandersetzen. Der VDSI leistet im Übrigen auch seinen Beitrag, um arbeitsbedingte psychische Belastungen in den Betrieben in den kommenden Jahren effektiver reduzieren zu können. Wir haben zusammen mit dem Institut für angewandte Arbeitswissenschaft (ifaa) in Düsseldorf, den Gewerkschaften sowie der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) einen Lehrgang zum Thema konzipiert, mit dem wir uns an interessierte Fachkräfte für Arbeitssicherheit wenden, die sich in ihren Unternehmen der Ermittlung, Analyse und Reduzierung psychischer Belastungen widmen wollen. Ziel ist es, die Fachkräfte für Arbeitssicherheit für diese Thematik weiter zu sensibilisieren, zu aktivieren und ihnen fachliche Unterstützung zu geben. Die Lehrgangsunterlagen dazu sind bereits fertig erstellt und können im Internet unter www.gda-psyche.de auch schon eingesehen werden. In einigen einschlägigen Studiengängen, wie etwa in Wuppertal und Dresden, werden darüber hinaus arbeitspsychologische Inhalte angeboten, das heißt, es werden bereits während der Ausbildung die Grundlagen der Ermittlung psychischer Gefährdungen und Problemfelder im Betrieb vermittelt. Fachkräfte für Arbeitssicherheit sollten sich außerdem mit arbeitsbedingten psychischen Belastungen auseinandersetzen, weil sie ausgezeichnete Kenner der Betriebsprozesse sind. Diese Problematik ist ganzheitlich zu betrachten: Arbeitsbedingte psychische Probleme entstehen aufgrund von bestimmten personellen, organisatorischen, produktionstechnisch-en und zeitlichen Umständen im Unternehmen und lassen sich nicht von diesen losgelöst sehen und angehen.
Lassen Sie uns zum Schluss noch einmal auf das Thema Ausbildung zu sprechen kommen: Hier wird der Grundstein gelegt, damit eine Sifa später ihre Rolle als Manager für Sicherheit und Gesundheit optimal ausfüllen kann. Wo gibt es entsprechende Angebote und inwieweit wird der VDSI in dieser Hinsicht aktiv?
von Kiparski: Es gibt eine Reihe von Studiengängen, in denen die relevanten Inhalte vermittelt werden. Beispiele sind die Hochschulen in Wuppertal und Furtwangen. In Dresden wird ein Masterstudien-gang der Dresden International University (DIU) angeboten, der in Kooperation mit der DGUV aufgelegt wurde. Auch der VDSI ist aktiv, vor allem durch die Wissensmanagement-Angebote im Internet unter www.vdsi.de. Im Rahmen dieses Wissensmanagement-Services können sich unsere Mitglieder einen Überblick verschaffen, welche Ausbildungsmodule und Studiengänge in Deutschland bereits existieren und welche bezüglich ihrer Qualität und Inhalte zu empfehlen sind.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Joerg Hensiek.
Unsere Webinar-Empfehlung
29.02.24 | 10:00 Uhr | Spielsucht, Kaufsucht, Arbeitssucht, Mediensucht – was genau verbirgt sich hinter diesen Begriffen? Wie erkennt man stoffungebundene Süchte? Welche Rolle spielt die Führungskraft bei der Erkennung, Vermeidung und Bewältigung von Suchtproblemen am Arbeitsplatz?…
Teilen: