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Die Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW) hat in Zusammenarbeit mit der DAK-Gesundheit im April 2016 erstmals einen Branchenreport für den Groß- und Einzelhandel vorgelegt. Dieser erarbeitet als Schwerpunktthema die Sicherheits- und Gesundheitskultur im Handel. Das Interview mit Sandra Rulinski, Leiterin des Dezernats Gesundheitsschutz der BGHW, fasst die Ergebnisse zusammen.
Frau Rulinski, mit welcher Zielsetzung wurde der Branchenreport Handel erstellt?
Rulinski: Nicht erst seit dem Präventionsgesetz (PrävG) ist eine Zusammenarbeit von gesetzlicher Unfall- und Krankenversicherung wichtig. Die BGHW und die DAK-Gesundheit zeigen, dass sie den Kooperationsgedanken aktiv vorantreiben und die gesetzlichen Forderungen konkretisieren. Im Branchenreport Handel werden Sicherheit und Gesundheit im Betrieb ganzheitlich betrachtet. Der Branchenreport liefert praxisrelevante Erkenntnisse über die Zusammenhänge zwischen Arbeitsbedingungen, deren gesundheitliche Auswirkungen und einer sicherheits- und gesundheitsförderlichen Unternehmenskultur.
Bitte geben Sie uns einen Einblick zum Krankheitsgeschehen im Groß- und Einzelhandel: Durch welche Krankheiten werden die meisten Fehltage verursacht? Gibt es Personengruppen, die besonders häufig von Fehlzeiten betroffen sind?
Rulinski: Der Krankenstand im Einzelhandel entspricht mit 4 Prozent ungefähr dem Durchschnitt über alle Versicherten. Der Großhandel liegt mit 3,4 Prozent deutlich darunter. In beiden Branchen ist der Krankenstand in den vergangenen sieben Jahren angestiegen. Das entspricht dem generellen Trend eines allgemein leicht steigenden Krankenstandes. Für mehr als die Hälfte aller Fehltage im Groß- und Einzelhandel waren drei Krankheitsarten verantwortlich: An der Spitze stehen Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE), gefolgt von psychischen Erkrankungen und Krankheiten des Atmungssystems.
Können Sie genaue Zahlen nennen?
Rulinski: MSE haben vor allem im Einzelhandel mit 25 Prozent einen hohen Anteil am Krankenstand. Im Großhandel entfallen rund 21 Prozent aller Arbeitsunfähigkeitstage (AU-Tage) auf MSE, bei den DAK-Versicherten sind es 23 Prozent. Bereits jeder sechste Fehltag im Einzelhandel geht auf eine psychische Erkrankung zurück. Die „depressive Episode“, also eine ausgeprägte depressive Symptomatik, die mindestens zwei Wochen lang besteht und unterschiedlich schwer verlaufen kann, führt dabei die Liste der Einzeldiagnosen an. So waren depressive Episoden im Jahr 2014 für 6,3 Prozent aller Fehltage verantwortlich, im Großhandel für 5,8 Prozent.
Wie sieht das Unfallgeschehen im Groß- und Einzelhandel aus?
Rulinski: Die Zahl der Unfälle ist im Groß- und im Einzelhandel in den vergangenen Jahren zurückgegangen. Beide Branchen folgen damit dem allgemeinen Trend in der gewerblichen Wirtschaft. Der Einzelhandel verzeichnet mehr Unfälle als der Großhandel. Diese sind jedoch weniger schwerwiegend als im Großhandel – hier kommt es häufiger zu schwerwiegenden und tödlichen Unfällen. Die meisten Unfälle sind im Vieh- und Schrotthandel zu verzeichnen. Sowohl im Groß- als auch im Einzelhandel gibt es die mit Abstand meisten Unfälle bei alltäglichen Tätigkeiten wie Gehen, Laufen sowie beim Hinauf- oder Hinabsteigen. In beiden Branchen kommt es dabei auch oft zu schweren Unfällen. Weitere Ursachen von schweren Unfällen sind das Führen von kraftbetriebenen Transport- oder Fördermitteln sowie der Absturz von Personen.
Welche Faktoren sind nach den Ergebnissen des Branchenreports Handel besonders wichtig, um die Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten im Groß- und Einzelhandel nachhaltig zu verbessern?
Rulinski: Der Erfolg von Arbeitsschutz und betrieblicher Gesundheitsförderung hängt entscheidend davon ab, dass Regeln und Strukturen im Unternehmen „gelebt“ werden. Hierauf zielt der Begriff der Sicherheits- und Gesundheitskultur (SGK) ab. Im Branchenreport wurde die SGK zum Schwerpunktthema gemacht und als „Muster von grundlegenden Annahmen und Werten mit Bezug auf Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“ definiert. Da die SGK ein komplexes Konstrukt ist, wurde diese in insgesamt elf Kulturdimensionen (vgl. Abbildung, Anm. d. Red.) zerlegt. Diese Dimensionen stellen den Bezug zu Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit her.
Welche Ergebnisse liefert der Branchenreport?
Rulinski: Die SGK eines Unternehmens hat einen deutlichen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit: Je besser sie ausgeprägt ist, desto besser ist auch die Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten. Neben gesunder Führung und dem Umgang mit Fehlern ist vor allem der Stellenwert von Sicherheit und Gesundheit ein wichtiges Handlungsfeld, um die SGK zu verbessern. Der tatsächliche Stellenwert von Sicherheit und Gesundheit zeigt sich dann, wenn diese mit anderen Zielen in Konflikt geraten oder gegen andere Güter abgewogen werden. Ein konkretes Praxisbeispiel ist der Verzicht auf Pausen bei einem hohen Kundenaufkommen. Ein hoher Wert drückt aus, dass Sicherheit und Gesundheit auch dann Beachtung finden, wenn es vermeintlich konkurrierende Anforderungen gibt.
Was lässt sich zur SGK im Groß- und Einzelhandel sagen?
Rulinski: Die SGK im Handel kann derzeit nur als mittelmäßig gut ausgeprägt bewertet werden. Selbstverständlich gibt es im Groß- und Einzelhandel auch Unternehmen mit hervorragender SGK. Der Branchenreport zeigt allerdings, dass über die Gesamtheit der Beschäftigten im Handel hinweg vor allem Partizipationsmöglichkeiten, konkrete Angebote in Bezug auf Sicherheit und Gesundheit sowie der Stellenwert von Sicherheit und Gesundheit verbessert werden können. Einige Bedingungen sind im Handel eher positiv ausgeprägt: Die Arbeit ist vielfältig und die Beschäftigten arbeiten seltener als in anderen Branchen in ungünstigen Arbeitsumgebungen und unter Lärm.
Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus den Ergebnissen des Branchenreports?
Rulinski: Die Kulturdimensionen sind die Stellschrauben zur Veränderung auf dem Weg hin zu einer positiven SGK. Der Branchenreport zeigt Wege und Handlungsfelder auf, wie wir die Kultur in den Betrieben im Sinne eines ganzheitlichen Präventionsansatzes positiv verändern und fördern können. Wir konnten wichtige Erkenntnisse zur Sicherheit und Gesundheit im Handel gewinnen und weitere Ansatzpunkte für unsere Präventionsarbeit ableiten. In vielen Bereichen sind wir bereits auf dem richtigen Weg. Beispiele sind unsere Schwerpunktaktionen zum Fußschutz bei Flurförderzeugen oder zu Raubüberfällen sowie zu den Themen Betriebliches Eingliederungsmanagement oder Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen.
Im kommenden Jahr startet die neue Präventionskampagne der Unfallversicherungsträger zur Kultur der Prävention. Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen den Ergebnissen des Branchenreports und der Präventionskampagne?
Rulinski: SGK oder Kultur der Prävention bieten die Chance, die Lücke zu schließen zwischen Strukturen und Regeln einerseits und deren Umsetzung bzw. dem Handeln andererseits. Dies gilt gerade bei Unfällen, bei denen es oftmals um das Verhalten geht, wie zum Beispiel Stolperunfälle.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Nina Gruber.
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