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Moderner betrieblicher Arbeitsschutz soll systematisch, gestaltend, vernetzt und umfassend präventiv angelegt sein. Das bringt für alle Beteiligten Herausforderungen mit sich. Arbeitsschutzfachleute können hier ihren Handlungsspielraum erweitern, indem sie Methoden aus dem systemischen Coaching aufgreifen – gerade in der Betreuung kleinerer und mittelständischer Unternehmen (KMU).
Carola Brennert
Neben der klassischen Unfallverhütung geht es heutzutage beim Arbeitsschutz um die menschengerechte Gestaltung der Arbeit. Viele kleine und mittelständische Unternehmen KMU sind auf Unterstützung angewiesen, um die betrieblichen Strukturen, Prozesse und Abläufe entsprechend zu prägen. So müssen Fachkräfte für Arbeitssicherheit – wie auch Betriebsärzte und Betriebsärztinnen – viel stärker als früher Unternehmen beraten.
Fachliche Expertise allein reicht da nicht aus. Zusätzlich zum technischen Wissen benötigen Arbeitsschutzfachleute spezielle methodische, soziale und persönliche Kompetenzen. Nur so können sie zum Beispiel gute Unterstützung bei der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen leisten – und auch in anderen Fragen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes zu individuellen betriebsspezifischen Lösungen beitragen.
Neue Impulse für die Arbeitsschutzberatung kann eine systemische Haltung geben: Dabei rückt das Anliegen des Kunden oder der Kundin in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Auch – oder gerade wenn beim Gegenüber Widerstand oder Unwissenheit in Sachen Arbeitsschutzbetreuung zu spüren ist. Kennzeichen einer systemischen Haltung sind Neutralität, Wertschätzung des Gegenübers und Neugier auf seine Sicht der Dinge. Daraus folgt, dass man weniger selbst argumentiert und stärker versucht, die Sichtweise der anderen Seite zu verstehen.
Systematisch und systemisch
Systematisches Vorgehen ist längst als Ziel im Arbeitsschutz etabliert: Sicherheit und Gesundheit sollen in allen Abläufen und Prozessen berücksichtigt, der Arbeits- und Gesundheitsschutz konsequent in die Führung und Organisation integriert werden. Dieser Ansatz hat seinen Ursprung in Managementtheorien wie dem Qualitätsmanagement.
Systemisches Denken hingegen stammt ursprünglich aus der Psychotherapie, ist aber mittlerweile auch in allen psychosozialen Arbeitsbereichen, in Pädagogik, Didaktik und Kommunikationswissenschaften, in Personalentwicklung und Organisationsentwicklung sowie in Beratung und Coaching verbreitet. Im Mittelpunkt steht hier quasi das „Eigenleben“ sozialer Systeme.
Das systemische Denken basiert auf folgenden Grundannahmen: Soziale Systeme enthalten – im Gegensatz zu technischen oder biologischen Systemen – immer Personen als „Elemente“. Die Personen stehen in Beziehungen zueinander, sie interagieren und kommunizieren. Gleichzeitig gibt es keine „objektive Wahrheit“, sondern nur eine höchst individuelle Wahrnehmung. Es gibt immer verschiedene Perspektiven auf ein Geschehen. Menschen deuten Situationen stets subjektiv, sie machen sich ein Bild ihrer Wirklichkeit – und werten und handeln auf Basis dieses eigenen Bildes.1
Soziale Systeme existieren nicht an sich, sondern entstehen durch implizierte und explizierte Vereinbarungen darüber, wer dazugehört und wer nicht.2 Jedes Unternehmen kann als solch ein soziales System betrachtet werden. Innerhalb des „Systems Unternehmen“ wiederum gibt es eine Vielzahl an Subsystemen, zum Beispiel die Führungskräfte, bestimmte Abteilungen, alle Frauen und so weiter. Die systemische Sicht zielt darauf, diese an sich „unsichtbaren“ Subsysteme sichtbar zu machen.
Zur Praxis systemischer Beratung
Systemische Beratung erfordert einen intensiven Kommunikationsaustausch zwischen allen Beteiligten. Es werden hier weniger die technischen Einrichtungen begutachtet, Arbeitsstätten begangen oder Arbeitsplätze besichtigt. Vielmehr ist systemische Beratung darauf ausgerichtet, mit den Beteiligten zu sprechen, sie zu interviewen, die Kommunikations- und Interaktionsmuster der Menschen eines Unternehmens kennenzulernen und zu verstehen.
Unterschiedliche Meinungen werden dabei unbedingt respektiert. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Die Haltung ist eher ein Sowohl-als auch als ein Entweder-oder. Systemische Beraterinnen und Berater agieren hier nicht als „allwissende“ Fachleute, sondern orientieren sich vorrangig an den Anliegen und Ressourcen ihrer Kundinnen und Kunden. Diese sollen mithilfe der Beratung Problemlösungen finden, die für sie selbst stimmig sind. Sofern diese sich im rechtlich vorgegebenen Rahmen bewegen, spielt es keine Rolle, ob der Berater oder die Beraterin denselben Weg gewählt hätte. Diese neutrale Haltung ist für viele Fachleute ungewohnt und braucht oft ein wenig Übung.
Die Herangehensweise in der systemischen Beratung ist eher forschend als argumentierend. Zu den zentralen Methoden gehört dabei das aktive Zuhören. Das heißt: Mit der Aufmerksamkeit ganz beim Gegenüber sein, ihn oder sie wirklich verstehen wollen, bewusst Informationen zu empfangen statt zu senden. Weitere Techniken, mit denen das Anliegen des Gegenübers erfragt, untersucht und erkundet wird, sind die Hypothesenbildung sowie spezielle Frageformen.
Hypothesenbildung
Im Kontakt zu anderen Menschen machen wir uns unbewusst ein Bild davon, was die anderen annehmen oder denken, welche Meinung sie haben, was ihnen guttun könnte, was sie tun sollten. Egal, wie kurz der Moment der Begegnung ist: Wir haben eine Meinung oder Phantasie über den anderen oder die andere. Häufig sind wir dann nicht mehr offen zu hören, was ihn oder sie wirklich bewegt. Ein Beispiel: Ein Kunde fragt als erstes nach dem Stundensatz der Beratungsleistung. Der Berater nimmt an, dass dieser Kunde wenig Interesse hat, Arbeitsschutz im Unternehmen umzusetzen und die Beratung möglichst kostenfrei als Alibi haben möchte. Diese Annahme führt möglicherweise zu einer eher ablehnenden Haltung gegenüber dem Kunden. Der wiederum erhält dadurch vielleicht den Eindruck, dass der Berater ihn gar nicht als Kunden haben möchte.
Durch Hypothesenbildung kann man sich von solchen Vorab-Annahmen frei machen. Dazu werden in der Vorbereitung eines Beratungsgesprächs möglichst viele unterschiedliche Deutungen des bisherigen Kontakts zusammengetragen. Zum angeführten Beispiel wären etwa folgende Hypothesen möglich:
- Der Kunde möchte in Wirklichkeit keine Betreuung und versucht billig davon zu kommen.
- Der Kunde hat schlechte Erfahrungen mit Arbeitsschutzbetreuung gemacht und ist misstrauisch.
- Der Kunde steht kurz vor der Insolvenz und hat Sorge, weitere finanzielle Verpflichtungen einzugehen.
- Der Kunde hat überhaupt keine Ahnung, was die Dienstleistung kostet und will einen ersten Eindruck haben, über welche Summen gesprochen wird.
- Der Kunde vermutet, dass es sehr teuer ist oder hat das von anderen gehört.
- Der Kunde möchte für eine Dienstleistung angemessenen Lohn zahlen und „Lohndumping“ nicht unterstützen.
- Der Kunde holt gerade drei unterschiedliche Angebote ein und möchte, dass sie sich preislich unterscheiden.
- Der Kunde hat sich schon für diesen Berater entschieden und will nun die zu erwartenden Kosten in seinen Haushalt einstellen.
Schon anhand dieser Sammlung wird deutlich, dass die Frage nach dem Stundensatz ganz unterschiedliche Hintergründe haben kann. Im weiteren Gespräch gilt es nun herauszufinden, welche Hypothesen sich bestätigen und welche zu verwerfen sind. Wichtig ist, auch solche Hypothesen, die man selbst favorisiert, fallen zu lassen, wenn sie sich nicht bestätigen. Auf diese Weise kommt man den Motiven und dem Anliegen des Gegenübers näher. Das Gespräch bleibt offen und liefert im besten Fall beiden Seiten neue Erkenntnisse.
Systemisches Fragen
Beratungsgespräche zwischen Arbeitsschutzfachleuten und ihrer Kundschaft enthalten immer eine Fülle von Fragen. Wer berät, sammelt Informationen über das Unternehmen und dessen Stand im Arbeitsschutz, erfragt Anlass und Bedarf der Beratung. Wer beraten wird, hat fachliche Fragen und möchte etwas zum Vorgehen und den Abläufen der Beratung wissen.
Systemische Fragen erweitern diesen Fokus. Bei ihnen steht nicht der Erkenntnisgewinn über das, was ist, im Vordergrund. Erforscht wird vielmehr das, was sein könnte, und das, was noch nicht offensichtlich ist. Systemische Fragen widmen sich zum Beispiel den Unterschieden von Situationen und von Personen. Sie helfen, Möglichkeiten, wie etwas noch sein könnte, zu erörtern. Das hat zum Ziel, die Konstruktion der Wirklichkeit des Gegenübers zu erweitern. Häufig entsteht auf diese Art bereits ein Mehrwert bei der befragten Person. Sie berichtet dann nicht nur über etwas, was sie selbst schon weiß. Stattdessen entwickeln sich neue Gedanken, Vorstellungen, Erkenntnisse und Meinungen.
Es gibt eine Vielzahl von Fragetypen, die genau dies hervorrufen können.
- Fragen, die Unterschiede verdeutlichen:
- Wer in Ihrem Unternehmen ist mit der bisherigen Betreuung zufrieden, wer ist es nicht?
- Mit welcher Leistung Ihrer letzten Betreuung waren Sie zufrieden, mit welcher nicht?
- Auch zirkuläre Fragen decken Unterschiede auf. Sie sind ein sehr starkes Instrument, da man in der Regel nicht sofort darauf antworten kann und nachdenken muss:
- Was glauben Sie, wie würden Ihre Beschäftigten die frühere Betreuung bewerten?
- Was denken Sie, wie bewertet Ihr früherer Berater oder Ihre frühere Beraterin die Zusammenarbeit mit Ihnen?
- Daneben verdeutlichen auch Prozent‑, Rang- oder Skalierungsfragen Unterschiede:
- Zu wie viel Prozent waren Sie zufrieden?
- Waren Sie eher zufrieden mit Person A oder mit Person B?
- Waren Ihre Beschäftigten zufriede-ner als Sie?
- Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie zufrieden waren Sie mit der Beratung?
- Fragen, die nicht nur die aktuelle Wirklichkeit konstruieren, sondern auf die Zukunft gerichtet sind, regen an, darüber nachzudenken, wie eine Lösung möglicherweise aussehen könnte. Das sind zum Beispiel hypothetische Fragen:
- Mal angenommen die Beratung wäre erfolgreich, was wäre dann anders?
- Fragen nach Ausnahmen enthalten möglicherweise erste Lösungsideen:
- Waren Sie schon einmal mit der Betreuung zufrieden, was war da anders?
- Was wäre anders, wenn die Beratung gut wäre?
- Die Wunderfrage lässt Raum, sich eine Zukunft auszumalen:
- Wenn eine Fee käme und würde das Problem lösen, wie sähe die Lösung aus, wie sähe dann eine gute Betreuung aus?
- Fragen, die in scheinbarem Widerspruch zur eigentlichen Absicht stehen, nennt man paradoxe Intervention. Der enthaltene Humor kann dem Gespräch eine neue Richtung geben:
- Was muss ich tun, damit Sie mich schnell wieder loswerden?
- Welchen Nutzen hat das Problem für Sie?
- Welchen Nutzen hat es, dass Sie das Problem noch ein wenig behalten?
- Was können Sie tun/was kann ich tun, damit es noch schlimmer wird?
- Was können Sie tun/was kann ich tun, damit Sie auch mit meiner Beratung unzufrieden sind?
Systemisches Fragen hilft, auch herausfordernde Themen im Unternehmen anzu-sprechen wie zum Beispiel die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung oder die Beteiligung von Beschäftigten. Damit können Fachkrafte für Arbeitssicherheit auch in kleinen Unternehmen Impulse setzen und so neue Geschäftsfelder erschlossen werden.
Anwendungsbeispiel: „Bei uns ist noch nie was passiert“
Gerade in Kleinbetrieben ist häufig der Satz „Bei uns ist noch nie was passiert…“ als „Argument“ gegen Arbeitsschutzmaßnahmen zu hören. Das widerspricht zwar den Unfallstatistiken, entspricht aber der Realität des einzelnen Kleinbetriebs. Fachleute für Arbeitsicherheit würden vielleicht argumentieren, dass die Chancen, dass etwas passiert, gerade steigen, weil noch nie etwas passiert ist. Oder man würde anführen, dass das Unternehmen deshalb gerade vorsorgen und präventiv handeln muss, damit auch weiter nichts passiert. Oder man würde gleich auf die rechtliche Verpflichtung hinweisen, die nun einmal zu erfüllen sei. All das würde eine echte inhaltliche Auseinandersetzung aber erschweren oder vielleicht sogar verhindern.
Welche möglichen Hypothesen können nun zu dieser Aussage gebildet werden?
- Der Kunde beschreibt wirklich eine Tatsache: Es ist noch nie etwas passiert.
- Der Kunde möchte sich nicht mit Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit beschäftigen und äußert so Abwehr und Ablehnung.
- Der Kunde hat kein Wissen zum Thema und will das nicht zugeben. Er hat keine Idee, worum es überhaupt gehen könnte.
- Im Unternehmen haben Sicherheit und Gesundheit keinen Stellenwert und werden als persönliche Angelegenheit betrachtet.
- Der Kunde hat schlicht keine Zeit und will das Gespräch schnell beenden.
Die gebildeten Hypothesen werden nun mit entsprechenden Fragen auf ihre Stimmigkeit exploriert:
- Worauf führen Sie das zurück, dass bei Ihnen noch nie etwas passiert ist? Was können Sie tun, damit das auch so bleibt? Welche Maßnahmen führen Sie bereits durch? Wo sind Sie gut aufgestellt? Was fehlt Ihnen noch?
- Welchen Stellenwert haben Sicherheit und Gesundheit in Ihrem Unternehmen? Welchen Stellenwert haben die Themen für Sie persönlich?
Im nächsten Schritt könnte man die Perspektive der Beschäftigten hinzuziehen, um die Wirklichkeitskonstruktion des Gegenübers im Dialog zu erweitern:
- Was denken Sie, würden Ihre Beschäftigten sagen? Wie bewerten diese die Sicherheit und Gesundheit in Ihrem Unternehmen?
- Wären Ihre Beschäftigten an präventiven Maßnahmen interessiert? Welche könnten das sein?
Mit diesen Fragen kann es gelingen, das Gespräch auf eine inhaltliche Ebene zu holen, vor allem, wenn Widerstand gegenüber dem Thema vorhanden war und eine echte Auseinandersetzung noch gar nicht erfolgt ist.
Mehr erfahren
Arbeitsschutzfachleute, die sich intensiver mit systemischer Beratung auseinandersetzen möchten, können dazu beispielsweise folgende Qualifizierungsangebote nutzen:
- „Systemische Arbeitsschutzberatung in KMU“ – angeboten von der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), weitere Informationen: www.bgw-online.de (Suchstichwort: QSAB)
- „Coaching für Trainer und Dozenten im Arbeitsschutz“ – angeboten vom Institut für Arbeit und Gesundheit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IAG), weitere Informationen: www.dguv.de (Suchstichwort: Coachingausbildung)
Literaturhinweise
- König, E., Vollmer, G.: Systemische Organisationsberatung, Weinheim 2000.
- Radatz, S.: Einführung in das systemische Coaching, Heidelberg 2010.
- von Schlippe, A., Schweitzer, J.: Systemische Interventionen, Göttingen 2010.
Fußnoten
1 König, E., Vollmer, G.: Systemische Organisationsberatung, Weinheim 2000, S. 18ff.
2 Ebd., S. 35ff.
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