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Im Gespräch mit Prof. Dr. Josef Hilbert, Geschäfts- führender Direktor und Direktor Gesundheitswirtschaft & Lebensqualität am Institut Arbeit und Technik (IAT) geht es um das Präventionsgesetz und die Frage, ob unsere Arbeitswelt dadurch tatsächlich gesünder und die enorme psychische und körperliche Belastung der Menschen spürbar geringer wird.
Ein Schwerpunktthema des IAT lautet Gesundheit und Lebensqualität, insbesondere auch im Blick auf Altern und alternde Gesellschaft. Welchen Stellenwert messen Sie in diesem Zusammenhang dem Thema Prävention bei?
Prof. Dr. Hilbert: Prävention hat in den gesundheitsbezogenen Themenfeldern des IAT eine sehr große Bedeutung. Prävention – sei es als Primärprävention oder – was bei älteren Menschen sehr bedeutend ist, als Sekundär- und Tertiärprävention – ist der Schlüssel für mehr Lebensqualität im Alter und auch der wichtigste Hebel, um die Kosten im Gesundheitswesen halbwegs unter Kontrolle zu behalten. Am IAT spielt Prävention mit Blick auf das Altern und die alternde Gesellschaft in der Forschung und Entwicklung deshalb gleich an mehreren Stellen eine Rolle: Erstens wollen wir verstehen, wie es die Menschen selbst mit der Prävention halten und haben deshalb empirische Studien dazu gemacht, das Gesundheitsverhalten Älterer zu verstehen und zu Typen zu verdichten. Wir wissen jetzt etwa, was Couch-Potatoes auszeichnet. Zum zweiten ist uns unser Standort in Gelsenkirchen ein Ansporn, auf die Gegebenheiten, Bedarfe und Interessen von sozial- und bildungsschwachen Menschen und von Menschen mit Migrationshintergrund besonders einzugehen. In diesem Themenfeld bearbeiten wir derzeit beispielsweise einen Forschungsauftrag der Forschungsstelle Pflegeversicherung des GKV-Spitzenverbandes zu den gesundheitlichen Lebensbedingungen älterer Migranten. Drittens befassen wir uns seit Jahren damit, wie integrierte Versorgungsstrukturen entstehen und wie dabei auch die Tertiär- und Sekundärprävention optimiert werden können. Und schließlich hatte ich 2014/15 die Chance, unsere Kenntnisse und Erfahrungen in einen Arbeitskreis der Friedrich-Ebert-Stiftung einzubringen, in dem es um die Zukunft der Rehabilitation, also der Tertiärprävention, ging.
Ist Prävention aus Ihrer Sicht eher eine Sache in der persönlichen Verantwortung des Einzelnen, oder hat Prävention eine politische Dimension und ist damit auch Sache von Parteien, Krankenkassen, des Gesetzgebers?
Prof. Dr. Hilbert: Ohne den Einzelnen geht es nicht, ohne öffentliches Engagement aber auch nicht. Das sind zwei Seiten ein- und derselben Medaille! Einen ganz wichtigen Auftrag für Parteien, den Gesetzgeber, die Kassen, aber auch die Forschung sehe ich darin, diejenigen, die sich mit Gesundheit besonders schwer tun oder sogar besonderen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt sind – nämlich die sozial- und bildungsschwachen Bevölkerungsteile – mit angemessenen Strategien zu adressieren. In dieser Frage haben wir große und in manchen Kontexten sogar wachsende Probleme. Für einen modernen Sozialstaat ist dies politisch-moralisch nicht zu ertragen und auch finanziell eine große Belastung. Die Forschung hat auf die Herausforderung der sozialen Gesundheitsungleichheit immer wieder hingewiesen. Jetzt sind aber auch Forschung und Entwicklung gefordert, bessere Lösungen vorzuschlagen. Der mahnende Zeigefinger allein reicht nicht!
Zweifellos ist eine Gesellschaft, der es auf Dauer gut gehen soll, auf eine leistungsfähige Wirtschaft angewiesen. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem neuen Präventionsgesetz und Interessen der Wirtschaft? Oder ist das Gesetz längst überfällig und mehr als notwendig für die arbeitende Bevölkerung?
Prof. Dr. Hilbert: Ja sicher, leistungsfähige Unternehmen brauchen möglichst gesunde Belegschaften. Wie wir alle wissen, neigen Einzelunternehmen, insbesondere dann, wenn sie unter hohem Wettbewerbsdruck stehen, dazu, bei der betrieblichen Gesundheitsförderung den Euro zweimal umzudrehen. Gerade deswegen ist es ja so wichtig, dass wir Gesetze haben, die vorgeben, was und wo geschehen soll. Insofern ist das Präventionsgesetz keine längst fällige Wohltat, sondern eine dringend überfällige Regulierung. Allerdings wurde der Gesetzgeber sicher auch dadurch unter Druck gesetzt, dass die in den letzten Jahren in Deutschland vielerorts gewachsenen Probleme bei der Fachkräftesicherung ein weiteres Hinausschieben des Präventionsgesetzes nicht zuließen.
Der Gesetzgeber lobt sich selbst und sagt: „Ein Schwerpunkt des Präventionsgesetzes ist die Stärkung der Gesundheitsförderung in Betrieben (betriebliche Gesundheitsförderung): Zukünftig sollen verstärkt gesundheitsfördernde Strukturen in den Betrieben unterstützt werden, etwa in Gestalt von gesundem Kantinenessen, Workshops zur Förderung eines gesundheitsgerechten Führungsstils oder durch Kurse zur Förderung der individuellen Stressbewältigungskompetenzen der Beschäftigten.“ Reicht das? Wird dadurch Arbeit gesünder?
Prof. Dr. Hilbert: Gesundes Essen, ein gesundheitsgerechter Führungsstil und Kurse zur Stressbewältigung, ja das ist doch schon was! Aber das ist nicht genug. In den Branchen, mit denen ich viel zu tun habe, Pflege, Schule, öffentlichen Verwaltungen, steigen gerade die psychischen Belastungen enorm und die gängigen Konzepte der Gesundheitsförderung und des Gesundheitsmanagements scheinen hier an ihre Grenzen zu kommen. Viele sagen, die wachsenden Probleme hätten vor allem ihre Ursache darin, dass die Finanz- und Personalausstattung in diesen Bereichen zu eng sei. Ja, das ist sicher zutreffend. Unsere Forschungen am IAT, beispielsweise in unserer Online-Befragung zum Arbeitsreport Krankenhaus in 2014, legen auch nahe, dass die Arbeitsgestaltung alles andere als gesundheitsgerecht ist. Es wird unheimlich viel verändert, aber vieles läuft nach wie vor unrund, geht auf Kosten der Beschäftigten und manchmal – so die Auskunft zahlreicher Befragungsteilnehmer – auch zu Lasten der Patienten. In den nächsten Jahren brauchen wir in diesen Branchen eine Arbeitsgestaltungsoffensive für gute und produktive Arbeit. Sie schaffen dann hoffentlich bessere Grundlagen zur Vorbeugung von arbeitsbedingten psychischen Erkrankungen.
Laut Gesetzgeber sollen auch die „betriebliche Gesundheitsförderung und der Arbeitsschutz … künftig enger miteinander verknüpft werden, etwa durch eine stärkere Einbeziehung der Betriebsärztinnen und Betriebsärzte in die Konzeption und Durchführung von Maßnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung.“ Bedeutet das mehr Schutz oder mehr Kontrolle für die Betriebsangehörigen? Und haben wir dafür überhaupt ausreichend qualifizierte betriebsärztliche Kapazitäten?
Prof. Dr. Hilbert: Einen Ausbau von Kontrolle kann ich zwar nicht ausschließen, befürchte ich aber nicht. Durch die bessere Abstimmung von Gesundheitsförderung und Arbeitsschutz erhoffe ich mir konstruktive Beiträge für die Arbeitsgestaltung. In den letzten Jahren ist einiges passiert, um die Arbeitsmedizin in Deutschland zu stärken. Sie genießt aber immer noch kein hohes Ansehen an medizinischen Hochschulen und Fachbereichen. Und ein Problem ist auch, dass viele Arbeitsmediziner in den nächsten Jahren in Rente gehen. Der Prozess der berufspolitischen und fachlichen Aufwertung der Arbeitsmedizin wird wohl noch weitergehen müssen.
Der Gesetzgeber will, dass „gesundheitsfördernde Strukturen dort geschaffen oder ausgebaut werden, wo sich Menschen tagtäglich aufhalten“, auch am Arbeitsplatz. Was sind für Sie gesundheitsfördernde Strukturen in einer Ballungsregion wie dem Ruhrgebiet aus industrie- und arbeitspolitischer Sicht?
Prof. Dr. Hilbert: In den Großbetrieben der Industrie und auch bei größeren Dienstleistern ist Gesundheitsförderung bereits heute ein großes Thema. Und bei uns im Ruhrgebiet wie auch in vielen anderen Regionen gibt es Arbeitskreise und Gremien, in denen betriebliche Gesundheitsförderer, Betriebsärzte und andere Arbeitsschutzexperten, Kassenvertreter etc. zusammenarbeiten. Diese Zusammenarbeit wird mit dem neuen Gesetz wahrscheinlich breiter und fokussierter, und es gibt auch mehr Ressourcen, um auf Klein- und Mittelbetriebe zuzugehen. Darüber hinaus wäre zu wünschen, dass auch die Zusammenarbeit mit den anderen Gestaltungsfeldern der gesundheitsbezogenen Prävention besser wird. Im Hinblick auf Fragen der Prävention für ältere Menschen ist allerdings noch sehr viel Luft nach oben. Hier gibt es großen und drängenden Bedarf, jedoch ist die Kakophonie der Interessen und Akteure „vor Ort“ oft so groß, dass die notwendige Konzertierung nicht gelingt. Ob das jetzt nach dem Präventionsgesetz besser wird, ist zu hoffen, aber noch keineswegs ausgemacht. Mut macht allerdings, dass in den letzten Jahren bei uns in NRW und im Ruhrgebiet mit den kommunalen Gesundheitskonferenzen, den Gesundheitsregionen – im Ruhrgebiet ist das die MedEcon-Ruhr – und auch mit der Initiative Altengerechte Quartiere.NRW Infrastrukturen entstanden sind, die jetzt von den neuen rechtlichen und finanziellen Möglichkeiten profitieren können.
Es gibt auch Kritik am Gesetz. Pointiert formuliert: Ist das Gesetz ein indirektes Instrument zur Erhöhung des Renteneintrittsalters und soll die Alten fit halten für noch mehr und noch längeres Arbeiten?
Prof. Dr. Hilbert: Na ja, so richtig schlimm finde ich es nicht, wenn Menschen eine längere Lebensarbeitszeit haben. Viele wollen das, die Alterforscher sagen uns, dass wir mit einer sinnstiftenden Tätigkeit bessere Chancen haben gesund und zufrieden zu sein und länger zu leben, und die überwiegende Mehrheit aller Rentenforscher meint, dass eine längere Lebensarbeitszeit auch unerlässlich ist, um die Renten halbwegs sicher zu halten. Vor diesem Hintergrund kann ich gegen ein Gesetz, das zum aktiven und gesunden Altern beiträgt, wenig haben. Aber noch einmal: Uns muss etwas einfallen, wie wir die Gesundheitschancen der bildungs- und sozialschwachen Bevölkerungsteile verbessern. Das ist die wichtigste Weichenstellung und Gestaltungsaufgabe. Wenn vom Präventionsgesetz vorwiegend die Bildungsbürger und Gutverdiener profitieren und die anderen weiterhin unter besonderen Gesundheitslasten leiden, ist das nicht nur ungerecht, sondern könnte auch bei den Gesundheitskosten zu unnötig wachsenden Problemen führen.
Der Gesetzgeber lädt die wichtigsten Player der Gesellschaft aus unterschiedlichsten Interessensvertretungen, Organisationen, Verbänden, Versicherungen und der Medizin zur aktiven Mitgestaltung und Umsetzung des Gesetzes ein. Ganz ungeachtet, ob die Umsetzung gelingt: Ist dieses Gesetz tatsächlich ein großer Wurf für einen noch größeren Gesellschaftsentwurf zur Zukunft unserer immer rasanter alternden Gesellschaft? Oder ist das Gesetz sogar schon veraltet, wenn es auf den Weg kommt. Stichwort: Unsere Arbeitsplätze werden in der Arbeitswelt der digitalisierten Industrie 4.0 wahrscheinlich anders aussehen – Vernetzung und Robotereinsatz statt Werkbank und Betrieb mit starkem körperlichen Einsatz.
Prof. Dr. Hilbert: Dieser Gesetzentwurf erhöht die Ausgaben für die Prävention auf deutlich mehr als eine halbe Milliarde Euro. Das ist mehr als ein Tropfen auf einen heißen Stein. Aber das Gesetz ist dennoch kein großer Wurf. Eine halbe Milliarde ist angesichts der Größe der Herausforderung wenig. Und bei der fachlich-inhaltlichen Ausrichtung fehlt mir auch einiges – etwa der Blick auf die besonderen Probleme der Sozial- und Bildungsschwachen oder ein besserer Fokus auf die Arbeitsgestaltung als Antwort auf die Burn-Out-Probleme in den großen Bereichen der personenbezogenen und gesellschaftlich notwendigen Dienstleistungen. Ja, und Sie haben Recht. Die Digitalisierung unserer Arbeitswelt wird die Zukunft der Arbeit nachhaltig prägen und dabei wahrscheinlich den psychischen Stress noch deutlich weiter erhöhen.
Ist das Gesetz tatsächlich ein Hebel für mehr Lebensqualität oder nur mehr für die typisch deutsche Regelungswut auf hohem administrativen Niveau?
Prof. Dr. Hilbert: Ja, bei der Auseinandersetzung mit dem Gesetz schoss mir schon manchmal das böse Wort von der „Initiative Bürokratieaufbau“ durch den Kopf! Aber ohne eine bessere und organisierte Koordination geht es wiederum auch nicht. Ob es eher mehr Lebensqualität geben wird oder ob doch am Ende nur mehr Bürokratie stehen wird, dass hängt auch davon ab, wie die kontinuierliche Evaluation der Aktivitäten läuft. Geplant ist ja, dass alle vier Jahre ein Präventionsbericht über die Entwicklung der Gesundheitsförderung und Prävention vorgelegt wird. Wenn die einschlägigen interessierten Akteure aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft diesen nutzen, um der Präventionsszene auf den Zahn zu fühlen, kann das helfen, zielführender und wirkungsmächtiger zu werden. Ein ähnlich angelegtes Instrument wie den Präventionsbericht gibt es im Bereich der Beruflichen Bildung mit dem Berufsbildungsbericht. Hier sind die Erfahrungen eher gut.
Sie sind augenscheinlich geistig und körperlich richtig fit. Was tun Sie persönlich für die Prävention Ihrer Gesundheit, was leistet das IAT für Sie betrieblich?
Prof. Dr. Hilbert: Für diese Frage ist bei uns unsere Mutter, die Westfälische Hochschule, zuständig. Die hält sich an alle rechtlichen Vorgaben und ist vor allem beim Arbeitsschutz recht aktiv. Die Kantine an unserem Standort im Wissenschaftspark in Gelsenkirchen kocht nicht nur lecker, sondern auch sehr vielfältig und gesund – zumindest für die, die so essen wollen. Aber dennoch sind unsere Arbeitsplätze keineswegs besonders gesundheitsfördernd: In den öffentlich getragenen Institutionen der Forschung und Entwicklung herrscht gewaltiger Leistungsdruck und die Arbeit wird sehr häufig auf zeitlich befristeten Arbeitsplätzen geleistet, mit oft unklaren Anschlussperspektiven. Solche Arbeitsplätze sind in der Welt der öffentlichen Forschung und Entwicklung leider die Regel und nicht die Ausnahme. Leider bringen sie für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr viel Stress, und auch der Begriff „Work-Life-Balance“ klingt in dieser Welt wie eine Botschaft aus einem fremden Universum. Ja, in meiner Einrichtung gibt es Arbeitsschutz und gibt es auch ein paar gute Ansätze der Gesundheitsförderung; die Kernprobleme der Arbeitsgestaltung bleiben aber weitgehend außen vor!
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Dr. Ralph Kray.
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