Viele teure, komplexe und langlebige Investitionsgüter in Unternehmen sind Arbeitsmittel im Sinne der neuen Betriebssicherheitsverordnung vom 3.2.2015 („BetrSichV 2015“). Der Arbeitsmittelbegriff ist in § 2 Absatz 1 der BetrSichV 2015 sehr umfassend definiert. Danach sind Arbeitsmittel alle Werkzeuge, Geräte, Maschinen oder Anlagen, die für die Arbeit verwendet werden. Da ist es verständlich, dass Arbeitgeber teure Arbeitsmittel über lange Zeiträume verwenden möchten. Gleichzeitig besteht jedoch die arbeitsschutzrechtliche Forderung, nach der der Arbeitgeber sicherzustellen hat, dass die Arbeitsmittel durch die Beschäftigten jederzeit sicher verwendet werden können. Zudem muss er berücksichtigen, dass der Arbeitsschutz bereits nach dem Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) dynamisiert ist. Gemäß § 3 Absatz 1 Satz 3 ArbSchG hat er (stets) eine Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten anzustreben.
Dipl.-Ing. Hans-Peter Raths
Für den Arbeitgeber, der dafür zu sorgen hat, dass seine Arbeitsmittel sicher verwendet werden können und dabei Rechtssicherheit benötigt, ob eine sicherheitstechnische Nachrüstung notwendig und gerechtfertigt ist, stellen sich folgende Fragen:
- Was bedeutet die Weiterentwicklung des Standes der Technik bei der Arbeitsmittelsicherheit für Arbeitsmittel im Bestand?
- Inwieweit können Altmaschinen als Arbeitsmittel weiterverwendet werden?
- Inwieweit gibt es also bei Arbeitsmitteln einen Bestandsschutz und wie weit geht er?
Dieselben Fragen stellen sich auch für die Vollzugsbehörden. Daher war es ein wichtiges Ziel der BetrSichV 2015, diese Fragen ausreichend zu klären (vgl. BR-Drs. 400/14 v. 28.08.2014 S. 73), da die BetrSichV 2002 in diesem Punkt häufig unterschiedlich ausgelegt wurde.
Produktsicherheitsrecht
Nach dem Produktsicherheitsrecht müssen Arbeitsmittel den zum Zeitpunkt ihres Inverkehrbringens auf dem Markt geltenden Rechtsvorschriften entsprechen. Früher waren die Standards, denen z.B. Maschinen entsprechen mussten, in Unfallverhütungsvorschriften geregelt. Heute gelten in der Regel europäische Rechtsvorschriften (z.B. EU-Maschinenrichtlinie), die EU-weit einheitliche Standards setzen und die Produkte EU-weit verkehrsfähig machen sollen. Dabei legen EU-Richtlinien die grundlegenden Sicherheitsanforderungen an die jeweiligen Produkte fest. Diese können durch harmonisierte Normen konkretisiert werden. Die EU-Richtlinien sind durch nationalstaatliche Rechtsvorschriften in das Recht der jeweiligen Mitgliedstaaten umzuset-zen (in Deutschland z. B. durch Produkt-sicherheitsgesetz, Maschinenverordnung, Druckgeräteverordnungen oder Medizinproduktegesetz). Die EU geht zunehmend dazu über, statt EU-Richtlinien EU-Verordnungen zu erlassen, die für die Marktteilnehmer in allen Mitgliedstaaten unmittelbar gelten und keiner nationalen Umsetzung mehr bedürfen.
Der in den harmonisierten Normen für Produkte (Vermarktungsrecht) niedergelegte Stand der Technik ist nicht statisch, sondern er entwickelt sich mit der Zeit weiter und wird in aktualisierten Normen fortgeschrieben. Was bedeutet dies für einen Arbeitgeber, der in seinem Betrieb Arbeitsmittel zur Verfügung stellt, die dem aktuellen Stand der Technik – beispielsweise Normen zum Inverkehrbringen – nicht mehr entsprechen?
Betriebssicherheitsverordnung 2015
Grundsätzlich gilt: Die materiellen Anforderungen der BetrSichV 2015 gelten für alte und neue Arbeitsmittel gleichermaßen (vgl. BR-Drs. 400/14 v. 28.08.2014, S. 69). Die Verordnung kennt keine Beschränkung auf neue Arbeitsmittel. Die Schutzziele der Verordnung sind in jedem Fall einzuhalten. Die Kernforde-rung an den Arbeitgeber lautet also: Die Verwendung der Arbeitsmittel muss stets und dauerhaft sicher sein (vgl. BR-Drs. 400/14 v. 28.08.2014 S. 73).
Gemäß § 5 Absatz 3 der BetrSichV 2015 darf der Arbeitgeber nur solche Arbeitsmittel zur Verfügung stellen und verwenden lassen, die den für sie geltenden Rechtsvorschriften über Sicherheit und Gesundheitsschutz entsprechen. Zu diesen Rechtsvorschriften gehören neben den Vorschriften der BetrSichV 2015 insbesondere Rechtsvorschriften, mit denen Gemeinschaftsrichtlinien in deutsches Recht umgesetzt wurden und die für die Arbeitsmittel zum Zeitpunkt des Bereitstellens auf dem Markt gelten oder galten. Dies gilt hinsichtlich der grundlegenden Sicherheitsanforderungen der anzuwen-denden Gemeinschaftsrichtlinien auch für Arbeitsmittel, die der Arbeitgeber für eigene Zwecke selbst hergestellt hat.
Die so über das Vermarktungsrecht „mitgebrachte“ inhärente Sicherheit leistet als Basissicherheit einen grundlegenden Beitrag für die sichere Verwendung der Arbeitsmittel. Mit der in § 5 Absatz 3 getroffenen Bezugnahme auf den „Zeitpunkt des Bereitstellens auf dem Markt“ wird allerdings klargestellt, dass grundsätzlich keine Nachrüstpflicht für das Arbeitsmittel entsprechend dem jeweils neuesten Vermarktungsrecht besteht. Dennoch kann der Arbeitgeber bei den im Betrieb eingesetzten Arbeitsmitteln einen fortentwickelten Stand der Technik im Inverkehrbringensrecht nicht ignorie-ren; er hat diesen bei der Festlegung von Schutzmaßnahmen im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung für alle Arbeitsmittel, die im Betrieb verwendet werden sollen, zu berücksichtigen (§ 4 Absatz 1 Nummer 2 BetrSichV 2015).
Gemäß § 4 Absatz 1 BetrSichV 2015 dürfen Arbeitsmittel erst verwendet werden, nachdem der Arbeitgeber eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt, die dabei ermittelten Schutzmaßnahmen nach dem Stand der Technik getroffen und festgestellt hat, dass die Verwendung der Arbeitsmittel nach dem Stand der Technik sicher ist. Die Grundpflicht des § 4 Absatz 1 der BetrSichV 2015 gilt auch dann, wenn die beschafften Arbeitsmittel dem aktuellen Vermarktungsrecht genügen und hierüber entsprechende Dokumente und Kennzeichnungen vorliegen. Denn die Gefährdungsbeurteilung durch den Arbeitgeber erfolgt im Hinblick auf die vorgesehene Verwendung der Arbeitsmittel, nicht im Hinblick auf die Vermarktung. Gemäß § 3 Absatz 2 BetrSichV 2015 sind bei der Gefährdungsbeurteilung alle Gefährdungen einzubeziehen, die bei der Verwendung von Arbeitsmitteln ausgehen, und zwar von den Arbeitsmitteln selbst, aber auch von der Arbeitsumgebung und von den Arbeitsgegenständen, an denen Tätigkeiten mit Arbeitsmitteln durchgeführt werden. Bei der Gefährdungsbeurteilung ist insbeson-dere die Gebrauchstauglichkeit von Arbeitsmitteln einschließlich der ergonomischen, alters- und alternsgerechten Gestaltung, die sicherheitsrelevanten und die ergonomischen Zusammenhänge zwischen Arbeitsplatz, Arbeitsmittel, Arbeitsverfahren, Arbeitsorganisation, Arbeitsablauf, Arbeitszeit und Arbeitsaufgabe sowie die physischen und psychischen Belastungen der Beschäftigten, die bei der Verwendung von Arbeitsmitteln auftreten, zu berücksichtigen. Das bedeutet aber, dass über die durch die Vermarktungsvorgaben bereits erreichte Sicherheit hinaus in den meisten Fällen weitere Anforderungen zum Arbeitsschutz zu erfüllen sind.
Die sichere Verwendung der Arbeitsmittel wird also über die vom Vermarktungsrecht „mitgebrachte“ inhärente Sicherheit der Arbeitsmittel und zusätzlich über die nach der Gefährdungsbeurteilung erfor-derlichen zusätzlichen Schutzmaßnah-men erreicht (vgl. Abbildung 1). Für ältere Arbeitsmittel bedeutet dies, dass deren sichere Verwendung über die Gefährdungsbeurteilung und die daraus abgeleiteten Schutzmaßnahmen auch dann gewährleistet werden kann, wenn die älteren Arbeitsmittel selbst nicht mehr dem Stand der Technik des gegenwärtigen Vermarktungsrechts entsprechen. Der Arbeitsschutz wird dann durch andere Maßnahmen sichergestellt. Bei diesen Maßnahmen gilt grundsätzlich das T‑O-P-Prinzip. Danach haben technische Schutzmaßnahmen Vorrang vor organisatorischen, diese wiederum haben Vorrang vor personenbezogenen Schutzmaßnahmen (§ 4 Absatz 2 Satz 2 BetrSichV 2015). Die zu treffenden Schutzmaßnahmen müssen dem Stand der Technik entsprechen (§ 4 Absatz 1 Nummer 3 BetrSichV 2015).
Gemäß § 3 Absatz 7 BetrSichV 2015 muss der Arbeitgeber die Gefährdungsbeurteilung regelmäßig überprüfen. Auch dabei ist der Stand der Technik zu berücksichtigen. Im Rahmen der Überprüfung der Gefährdungsbeurteilung muss der Arbeitgeber eigenverantwortlich entscheiden, ob und gegebenenfalls welche Maßnahmen vor dem Hintergrund von Weiterentwicklungen des Standes der Technik im Vermarktungsrecht getroffen werden müssen, damit die dadurch mitgeprägten Schutzziele der BetrSichV erreicht werden.
Fazit
Die Betriebssicherheitsverordnung 2015 enthält keine ausdrückliche Bestandsschutzregelung für Arbeitsmittel. Die Verwendung von Arbeitsmitteln muss stets sicher sein. Ältere Arbeitsmittel, die nicht mehr dem Stand der (Sicherheits-)Technik gemäß dem aktuellen Vermarktungsrecht entsprechen, können weiterverwen-det werden, wenn die Verwendung sicher ist. Bei der entsprechenden Beurteilung ist das aktuelle Schutzniveau bei der Arbeitsmittelsicherheit auch mit dem Schutzniveau nach dem Vermarktungsrecht zu vergleichen. Der Arbeitgeber kann die bei älteren Arbeitsmitteln gegebenenfalls fehlende „inhärente Sicherheit“ durch ergänzende Schutzmaßnahmen nach dem Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung ausgleichen. Bei den zu treffenden Schutzmaßnahmen sind der Stand der Technik und das T‑O-P-Prinzip zu beachten.
Der Autor ist Herausgeber der Broschüre „Betriebssicherheitsverordnung 2015“ (ISBN 978–3‑609–61949‑1, ca. 180 Seiten) und der Loseblattwerke „Handbuch Betriebssicherheit“ und „Sicherheit bei brennbaren Stoffen“, erschienen bei der ecomed-Stork GmbH (Anm. d. Red.).
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