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Psychische Belastungen in der Automobilproduktion

Psychische Belastungen am Arbeitsplatz Teil 6
Psychische Belastungen in der Automobilproduktion

Die Arbeits­be­din­gun­gen in der deutschen Auto­mo­bilin­dus­trie sind oft­mals geprägt von starkem Ter­min- und Leis­tungs­druck, von schneller Arbeit­serledi­gung, von Störun­gen oder Unter­brechun­gen der Arbeit, von Stress und auch von ständig wiederkehren­den Arbeitsvorgän­gen im Pro­duk­tion­sprozess. Im sech­sten Teil der Rei­he „Psy­chis­che Belas­tun­gen am Arbeit­splatz“ sollen die in der Auto­mo­bilin­dus­trie auftre­tenden psy­chis­chen Belas­tun­gen aufgezeigt wer­den, denen Mitar­beit­er bei ihrer täglichen Arbeit aus­ge­set­zt sind. Par­al­lel dazu wer­den mögliche präven­tive Maß­nah­men im Bere­ich der Auto­mo­bilin­dus­trie skizziert, um Beanspruchun­gen vorzubeugen.

Glob­al­isierung und per­ma­nen­ter Wan­del haben die Weltwirtschaft fest im Griff. Im Zeital­ter von Indus­tri­al­isierung 4.0, Arbeit 4.0 und „Dig­i­tal­isierung infini­tum“ kom­men zahlre­iche Anforderun­gen auf die Arbeit­nehmerin­nen und Arbeit­nehmer in Wirtschaft und Ver­wal­tung – also auch auf die der Auto­mo­bil­pro­duk­tion – zu:
  • Zunehmender Wet­tbe­werb, tech­no­lo-gis­ch­er Wan­del: mehr lebenslanges Ler­nen, Aufgabenwechsel
  • Glob­al­isierung: mehr Mobil­ität, Fremd­sprachenkom­pe­tenz, kul­turelles Verständnis
  • Wach­s­tumssek­tor Dien­stleis­tun­gen: mehr Kom­mu­nika­tions­fähigkeit, emo­tionale Belas­tung, Zunahme von Nacht-/Schichtar­beit
  • Pro­duk­tiv­ität: Rück­gang grob­mo­tori-sch­er Anforderun­gen, Zunahme der Anforderun­gen an Fein­mo­torik und Ent­fall prozess­be­d­ingter Arbeitsunterbrechungen
  • Qual­ität: opti­mierte = immer genauer definierte Abläufe in der Fer­ti­gung; Zunahme der Kom­plex­ität, eingeschränk­ter Handlungsspielraum
  • Mitar­beit­er­beteili­gung: mehr Anfor-derungsvielfalt, Kom­mu­nika­tion, Ver­ant­wor­tung, Team­fähigkeit, Eigenini­tia­tive = „psy­chis­che Belastung“
  • Anhebung des Renten­zu­gangsalters: Wan­del der Lebensen­twürfe und Per­spek­tiv­en, alterns­gerecht­es Führen, Ein­stel­lun­gen zur Erwerbsarbeit
  • Trend zu „frag­men­tiert­er Erwerb­s­bi­ografie“; häu­fig eingeschränk­te Arbeit­splatzsicher­heit, Anpas­sungs­druck, mehr Zeitar­beit, „brüchige“ Berufsbiografien
In der vom Bun­desin­sti­tut für Berufs­bil­dung (BIBB) in Koop­er­a­tion mit der Bun­de­sanstalt für Arbeitss­chutz und Arbeitsmedi­zin (BAuA) durchge­führten BIB­B/BAuA-Erwerb­stäti­gen­be­fra­gung im Jahr 2012 wird deut­lich, worunter die Beschäftigten in der deutschen Auto­mo­bilin­dus­trie lei­den. Hierzu wur­den die Ein­schätzun­gen von männlichen Vol­lzeitbeschäftigten, die nicht über eine Zeitar­beits­fir­ma angestellt waren, zusam­menge­fasst. Es spie­len sowohl kör­per­liche als auch psy­chis­che Belas­tun­gen eine entschei­dende Rolle. Etwa 50% der Befragten lei­den unter monot­o­nen, ständig wiederkehren­den Tätigkeit­en, 60% empfind­en starken Ter­min- und Leis­tungs­druck, 61% der Befragten bekom­men Stück­zahl, Leis­tung und Zeit exakt vorgegeben. Das Arbeit­en bis an die Gren­zen der per­sön­lichen Leis­tungs­fähigkeit wird von 16% berichtet.
Je mehr sich Stress-Fak­toren wie etwa hohe Arbeitsin­ten­sität, Ter­min- und Leis­tungs­druck und weit­ere Aspek­te bün­deln, desto wahrschein­lich­er wird eine Erschöp­fung des Arbeit­nehmers. Liegt zum Beispiel kein­er dieser Fak­toren vor, fühlen sich nur sieben Prozent der Befragten erschöpft, kom­men mehrere vor, steigt der Prozentsatz der gestressten Mitar­beit­er auf etwa das Sechs­fache (45%).
Neben den zuvor genan­nten psy­chis­chen Belas­tun­gen sind es eben­falls die kör­per­lichen Arbeit­en, die den Beschäftigten zu schaf­fen machen: 83% der Befragten bericht­en von Ste­har­beit, 56% müssen beson­ders viel Arbeit mit den Hän­den ver­richt­en. Dabei sind die Beschäftigten oft Lärm und Dreck aus­ge­set­zt. Die Hälfte der Beschäftigten hat Schmerzen im Rück­en, 43% lei­den unter Schmerzen im Nack­en- und Schulterbereich.
Diese Ergeb­nisse zeigen deut­lich, dass eine Gefährdungs­beurteilung für physis­che und psy­chis­che Arbeits­be­din­gun­gen regelmäßig durchge­führt und doku­men­tiert wer­den sollte. Denn let­ztlich kön­nen sehr ein­seit­ige Arbeit­san­forderun­gen, geprägt durch hohe Wieder­hol­häu­figkeit­en iden­tis­ch­er Arbeitsabläufe, langfristig zu kör­per­lichen und psy­chis­chen Beein­träch­ti­gun­gen führen.
In der Auto­mo­bilin­dus­trie herrschen atyp­is­che Arbeits­for­men wie die Schicht‑, Abend‑, Nacht- und Woch­enen­dar­beit vor, deren Lage von der klas­sis­chen Nor­malar­beit­szeit abwe­icht. Hierunter wird die Arbeit, die am Tag zur jew­eils gle­ichen Zeit von Mon­tag bis Fre­itag ver­richtet wird, ver­standen (siehe Kas­ten „Schichtar­beit“).
Für die deutsche Auto­mo­bilin­dus­trie ergeben sich durch Arbeit­san­forderun­gen sowie physis­che und psy­chis­che Ein­wirkun­gen zen­trale Einzel­be­las­tun­gen auf mehrere Ebe­nen. Im Einzel­nen zu nen­nen sind hier:
  • Hohe Anforderun­gen bei gle­ichzeit­ig geringem Handlungsspielraum
  • Monot­o­nie: ständig wieder­holen­den Tätigkeit­en mit gle­ichzeit­ig hohen Anforderungen
  • Repet­i­tive Strain Injury-Syn­drom (RSI)-Erkrankungen (siehe Kas­ten „RSI-Erkrankun­gen“) durch die kon­tinuier­liche Durch­führung ein und der­sel­ben Bewegung
  • Kör­per­lich anstren­gende Tätigkeiten
  • Man­gel­nde Anerken­nung durch Vorgesetzte
  • Hohe Lärm­be­las­tun­gen mit der Gefahr des allmäh­lichen Hörverlusts
  • Kon­takt mit branchen­spez­i­fis­chen Chemikalien und Behand­lun­gen (z.B. Lacke)
  • Möglich­es Risiko ein­er Großmaschi-nenstörung
  • Ein- und Durch­schlaf­störun­gen als wesentliche Folge der Schichtarbeit
  • Bei Schichtar­beit haben Beschäftigte mit einem höheren Erwerb­salter häu­figer Übergewicht und bewe­gen sich sel­tener in der Freizeit als ihre gle­ichal­tri­gen Normalarbeitszeitbeschäftigten.
  • Fehlende Vere­in­barkeit von Fam­i­lie und Beruf
Richtet man das Augen­merk ein­mal auf unter­schiedliche Bere­iche inner­halb der Auto­mo­bilin­dus­trie, so lassen sich – bere­ichsspez­i­fisch – fol­gende physis­chen und psy­chis­chen Belas­tungs­fak­toren feststellen:
  • Lack­ier­ar­beit­en: andauern­der Umgang mit chemis­chen und gifti­gen Stof­fen (z.B. Lösungsmit­tel, Lacke)
  • Mon­tage: andauern­des Ste­hen, sta­tis­che Arbeit in ungün­sti­gen Kör­per­hal­tun­gen (z.B. Ein­bau der Sitze), Hand­habung von Las­ten, kli­ma­tis­che Belas­tun­gen, ungün­stige Arbeit­szeit­en, Zeit­druck, Monotonie
Im Gespräch mit einem Angestell­ten der deutschen Auto­mo­bilin­dus­trie in ein­er deutschen Großs­tadt wer­den die poten­tiellen Gefahren und Risiken der Tätigkeit deut­lich. Wie ins­beson­dere die psy­chi-schen Belas­tun­gen der Mitar­bei­t­erin­nen und Mitar­beit­er in der deutschen Auto­mo­bilin­dus­trie konkret ausse­hen, soll im fol­gen­den Fall­beispiel näher dargestellt wer­den. Wie immer wird über Experten­beiträge das beschriebene Erleben kom­men­tiert und es wer­den Hin­weise zu Ansätzen der Präven­tion und Inter­ven­tion bezüglich psy­chis­ch­er Belas­tun­gen am Arbeit­splatz gegeben:
Der Pro­duk­tion­s­mi­tar­beit­er im Fall­beispiel ist um 5 Uhr aufge­s­tanden und löst um 6 Uhr die Nachtschicht ab, der übliche Arbeit­stag beginnt.
Pro­duk­tion­s­mi­tar­beit­er: „Heute Mor­gen habe ich um 5:30 Uhr das Haus ver­lassen, bin zur Arbeit gefahren und habe um 6 Uhr meine Schicht begonnen. Inzwis­chen ist es 8 Uhr und die Früh­stückspause ist ger­ade vor­bei. Meine zwei kleinen Kinder und meine Frau sehe ich auf­grund mein­er wech­sel­nden Arbeit­szeit­en nur unregelmäßig, da meine Frau eben­falls im Schicht­di­enst tätig ist und unsere Kinder auf­grund unser­er Arbeit­szeit­en in ein­er Kindertagesstätte ganztägig betreut wer­den. Während der Ferien­zeit­en der Kindertagesstätte passen meine Eltern auf die Kinder auf, wenn dies jedoch irgend­wann ein­mal nicht mehr möglich ist, dann ste­hen wir vor einem großen Prob­lem. Über­mor­gen beispiel­sweise habe ich wieder Nachtschicht und meine Frau hat tagsüber Dienst. Wenn ich an diesen besagten Tagen mor­gens gegen 6:30 Uhr nach Hause komme, küm­mern meine Frau und ich uns gemein­sam um die Kinder, bevor sie sie zur Kindertagesstätte bringt und ich mich dann erst ein­mal hin­lege. So geht es nicht nur mit der Fam­i­lie, son­dern die Arbeit­szeit­en sind auch im Fre­un­deskreis des Öfteren problematisch.“
Experte: „Ein zen­trales Prob­lem und somit auch einen großen Belas­tungs­fak­tor stellen die Arbeit­szeit­en in der Auto­mo­bilin­dus­trie dar. Ins­beson­dere die Wech­selschichtar­beit (z.B. von 6 bis 14 Uhr, von 14 bis 22 Uhr oder von 22 bis 6 Uhr) machen soziale Kon­tak­te und die Pflege von Hob­bies schwierig. Arbeit­en bis tief in die Nacht, oft auch am Woch­enende, ver­schär­fen die Sit­u­a­tion. Wie in allen Berufen mit Schichtar­beit ist auch bei den Pro­duk­tion­s­mi­tar­beit­ern die Arbeit im Schicht­di­enst ein psy­chis­ch­er Belas­tungs­fak­tor an sich. Sowohl der Arbeit­ge­ber als auch der Mitar­beit­er kön­nen einen Beitrag dazu leis­ten, die neg­a­tiv­en Fol­gen des Schicht­di­en­stes zu reduzieren oder gar ganz auszuschalten.
Auf Seit­en des Arbeit­ge­bers sind das beispiel­sweise die Beteili­gung der Beschäftigten bei der Schicht­plangestal­tung, die Erfas­sung des Chrono­typs und dessen Berück­sich­ti­gung bei der Schicht­plangestal­tung, die arbeitsmedi­zinis­che Betreu­ung der Beschäftigten sowie die Durch­führung von Infor­ma­tionsver­an-stal­tun­gen, auf denen Beschäftigte erfahren, was sie selb­st für ihre Gesund­heit tun kön­nen, denkbar. Außer­dem sind die Verteilung von Fly­ern zum The­ma Schichtar­beit, je nach Größe des Betriebs auch eine Kinder­be­treu­ung, die zuge-schnit­ten auf die Schichtzeit­en ange­boten wird, das Ange­bot von gesun­den Mahlzeit­en auch nachts sowie die Ein­rich­tung von Pausen­räu­men, in denen auch die Möglichkeit beste­ht, leichtere Mahlzeit­en zu erwär­men, möglich.
Der Mitar­beit­er kann sich mit den Prob­le­men der Schichtar­beit auseinan­der­set­zen, an arbeitsmedi­zinis­chen Vor­sorge­un­ter­suchun­gen teil­nehmen, auf gesunde Ernährung acht­en, ein dem Schicht­di­enst angepasstes Schlafver­hal­ten bzw. eine angepasste Schla­fumge­bung etablieren und seine sozialen Kon­tak­te pfle­gen. Die Bal­ance zwis­chen Fam­i­lie und Beruf kann durch bedarf­sspez­i­fis­che Arbeit­szeit­mod-elle und eine angepasste Arbeit­sor­gan­i­sa­tion aufrechter­hal­ten wer­den. Dies fängt schon bei Selb­st­man­age­ment-Tech­niken wie Selb­st­beobach­tung oder dem Set­zen von Zie­len und Selb­st­be­loh­nung an. Ein erfol­gre­ich­es Selb­st­man­age­ment enthält eine Ziel- und Pri­or­itätenset­zung sowie die Erar­beitung der eige­nen Motive. Dazu zählt auch die Berück­sich­ti­gung von indi­vidu­ellen eige­nen Bedürfnis­sen zum Beispiel nach Regen­er­a­tion, Bewe­gung, aber auch Weit­er­bil­dung oder ein­fach nur Nichtstun.“
Pro­duk­tion­s­mi­tar­beit­er: „Mein heutiger Arbeit­stag wird haupt­säch­lich die händis­che Mon­tage von Schiebedäch­ern und Autositzen unter Zuhil­fe­nahme der tech­nis­chen Anla­gen umfassen. Ins­beson­dere bei diesen ständig wiederkehren­den, wen­ngle­ich auch sim­plen Tätigkeit­en empfind­en meine Kol­le­gen und ich starken Ter­min- und Leis­tungs­druck, da auf­grund der Ein­stel­lung der tech­nis­chen Anla­gen inner­halb eines vorgegebe­nen Zeit­fen­sters eine bes­timmte Stück­zahl einzubauen­der Teile mon­tiert sein muss. An manchen Arbeit­sta­gen bin ich nach mein­er acht­stündi­gen Schicht sehr abges­pan­nt und aus­ge­laugt, auch oder ger­ade weil ich bei der Arbeit auch nicht viel nach­denken muss. Das ist immer das­selbe. Da die zuvor beschriebe­nen Tätigkeit­en über­wiegend im Ste­hen und mit ungün­stiger Kör­per­hal­tung ver­richtet wer­den müssen, bleiben eben­falls kör-per­liche Belas­tun­gen wie beispiel­sweise Schmerzen im Rück­en sowie im Nack­en- und Schul­ter­bere­ich nicht aus.“
Experte: „Hier wird deut­lich, dass die Anforderun­gen an die Mitar­beit­er in der Pro­duk­tion diesen nicht nur qual­i­ta­tiv, son­dern auch quan­ti­ta­tiv sehr viel abver­lan­gen. Um vor allem bei monot­o­nen, ständig wiederkehren­den Arbeit­en den Überblick zu behal­ten, ist es wichtig, anhand ein­er Check­liste zu prüfen, ob alle wesentlichen Auf­gaben erfüllt sind. Die Sicher­heit, nichts vergessen zu haben, reduziert Stress. Die kör­per­lichen Belas­tun­gen im Bere­ich der Auto­mo­bil­pro­duk­tion sind vielfältig. Häu­fig kommt es zu starken Beanspruchun­gen von Muskeln und Gelenken. Hier­bei han­delt es sich zwar zunächst ein­mal um physis­che Belas­tun­gen, die sich aber auch als psy­chisch belas­tend erweisen können.
Verspan­nun­gen, Kopf­schmerzen, Erschöp­fungszustände – all das wirkt sich auch auf die Moti­va­tion und die Zufrie-den­heit der Mitar­bei­t­erin­nen und Mitar-beit­er aus. Deswe­gen sind entsprechende Maß­nah­men zur Reduk­tion oder im Ide­al­fall Ver­mei­dung solch­er Belas­tungs­fak­toren unumgänglich. Hin­sichtlich der kör­per­lichen Belas­tun­gen stellen ins­be-son­dere gezielte Bewe­gungsübun­gen wie beispiel­sweise die Rück­en­schule sowie Anleitun­gen zum gesund­heits­be­wussten Ver­hal­ten am Arbeit­splatz geeignete Inter­ven­tion­s­maß­nah­men dar. Sie dienen dazu, Rück­en­prob­le­men vorzubeu­gen, bere­its vorhan­dene Beschw­er­den zu über­winden und chro­nis­che Schmerzen zu ver­mei­den. Solche Tech­niken müssen aber erst erlernt und eingeübt wer­den. Wichtig ist dabei, an die Selb­stver­ant­wor­tung der Mitar­beit­er und Mitar­bei­t­erin­nen zu appel­lieren, denn die besten Präven­tion­sange­bote und Ver­hal­tensempfehlun­gen nutzen nichts, wenn sie von den Mitar­bei­t­erin­nen und Mitar­beit­ern nicht wahrgenom­men und umge­set­zt werden.“
Pro­duk­tion­s­mi­tar­beit­er: „Eine weit­ere wichtige Rolle spie­len die Rah­menbe­din­gun­gen an meinem Arbeit­splatz. Wenn ein Kunde beispiel­sweise indi­vidu­elle Wün­sche bezüglich der Aut­o­farbe äußert, wer­den von meinen Kol­le­gen und mir eben­falls Lack­ier­ar­beit­en aus­ge­führt. Bei diesen kom­men wir unmit­tel­bar in den Kon­takt mit chemis­chen und gifti­gen Stof­fen (z.B. Lösungsmit­tel, Lacke) und deren Dämpfen. Selb­stver­ständlich tra­gen wir bei solchen Arbeit­en einen Schutzanzug sowie eine Atem­schutz­maske. Trotz­dem kann so etwas nicht gesund sein. In Zusam­men­hang mit dem Ein­satz chemis­ch­er und giftiger Stoffe ste­hen die kli­ma­tis­chen Bedin­gun­gen an meinem Arbeit­splatz; auch die Lichtver­hält­nisse und Geräuschkulisse haben einen entschei­den­den Ein­fluss auf meinen Organismus.“
Experte: „In Abhängigkeit von den zu ver­rich­t­en­den Arbeit­en sowie den Rah­menbe­din­gun­gen am Arbeit­splatz kann es zu kör­per­lichen und/oder psy­chis­chen Belas­tun­gen kom­men. Das Arbeit­en mit chemis­chen und gifti­gen Stof­fen kann unter anderem Erkrankun­gen der Atmung­sor­gane oder Kreb­serkrankun­gen zur Folge haben. Der Arbeit­ge­ber ist gemäß § 4 und § 5 Arbeitss­chutzge­setz (Arb­SchG) dazu verpflichtet, die Arbeit so zu gestal­ten, dass eine Gefährdung für das Leben sowie die physis­che und die psy­chis­che Gesund­heit der Mitar­bei­t­en­den möglichst ver­mieden und die verbleibende Gefährdung möglichst ger­ing gehal­ten wird. Des Weit­eren hat der Arbeit­ge­ber durch eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit ver­bun­de­nen Gefährdun­gen zu ermit­teln, welche Maß­nah­men des Arbeitss­chutzes erfor-der­lich sind. Zusam­men­fassend gesagt, hat der Arbeit­ge­ber eine stetige Verbesserung von Sicher­heit und Gesund­heitss­chutz der Beschäftigten anzustreben.
Gle­ich­es gilt für die kli­ma­tis­chen Bedin­gun­gen am Arbeit­splatz. Beson­ders in den Som­mer- und Win­ter­monat­en stellen die Tem­per­a­turen am Arbeit­splatz ein erhöht­es Belas­tungsrisiko dar. Durch man­gel­nde Möglichkeit­en der Ver­dun­klung und des Son­nen­schutzes erre­ichen Räum­lichkeit­en schnell unan­genehme Tempe-raturen über 26°C, die zu Schläfrigkeit, Konzen­tra­tionss­chwäche und Trägheit führen. Zu kalte Tem­per­a­turen führen wiederum zu ver­mehrtem Bewe­gungs­drang, Konzen­tra­tions­man­gel, Rheumaerkrankun­gen und Erkäl­tun­gen. Ide­ale Voraus­set­zun­gen sind Tem­per­a­turen zwis­chen 17 und 22°C. Diese opti­malen Tem­per­a­turen belas­ten wed­er psy­chis­che noch physis­che Kör­per­funk­tio­nen und tra­gen zu konzen­tri­erten Arbeitsabläufen bei. Neben den kli­ma­tis­chen Bedin­gun­gen, stellen zwei weit­ere Fak­toren eine Her­aus­forderung für Mitar­beit­er in der Auto­mo­bil­pro­duk­tion dar.
Die Beleuch­tung des Arbeit­splatzes wirkt sich sowohl auf das Wohlbefind­en und die Leis­tungs­fähigkeit als auch auf die Arbeit­squal­ität der Mitar­beit­er aus. So kann eine man­gel­hafte Beleuch­tung – sowohl zu wenig als auch zu viel Licht – eine psy­chis­che Belas­tung darstellen und das Unfall­risiko erhöhen. Auf­grund dessen wird hier­bei der Ein­satz angenehm weich gel­blichen Lichts emp­fohlen. Durch den zweit­en Fak­tor Lärm kann es zu ein­er Schädi­gung der Gesund­heit (z.B. allmäh-lich­er Hörver­lust) kom­men. Der Arbeit­ge­ber ist gemäß § 5 Arb­SchG dazu verpflichtet, die erforder­lichen Maß­nah­men zu Min­derung beziehungsweise Beseiti-gung von Lärm (z.B. angemessen­er Gehörschutz) zu ergreifen.“
Pro­duk­tion­s­mi­tar­beit­er: „Durch den immer stärk­er wer­den­den Kos­ten­druck auch in der Auto­mo­bilin­dus­trie wer­den Pro­duk­tion­sprozesse, aber auch per­son­elle Ausstat­tun­gen immer schneller verän­dert. Man ver­sucht wirk­lich, das let­zte aus dem Sys­tem her­auszu­pressen. Das führt dazu, dass wir uns immer wieder auf neue Abläufe, aber auch und vor allem auf neue Kol­legin­nen und Kol­le­gen ein­stellen müssen. Das passiert dann häu­fig auch noch in Spitzen­zeit­en, wenn die Nach­frage beson­ders hoch ist. Ist ja logisch, da braucht man weit­ere per­son­elle Ressourcen. Die kom­men dann aber auch oft von Zeitar­beits­fir­men. Schnell entste­hen da Kon­flik­te und Neid wegen der unter­schiedlichen Ver­di­en­ste oder der unter­schiedlichen Sicher­heit des Arbeit­splatzes. Das schlägt mitunter auch auf die Moti­va­tion einzel­ner Kol­legin­nen und Kol­le­gen durch.
Das kann in den Teams schon mal zu Stress führen. Und manche der Kol­legin­nen und Kol­le­gen aus der Zeitar­beit haben es ein­fach nicht so drauf. Da muss das Band auch schon mal ange­hal­ten wer­den. Tragisch ist natür­lich, wenn es dann auch noch zu Unfällen kommt. Zulet­zt hat sich ein­er der Zeitar­beit­er die Bän­der geris­sen, weil er zu lange auf der beweglichen Mon­tage­plat­tform stand. Der brauchte ein­fach zu lange. Beim Absprin-gen ist er umgeknickt.“
Experte: „Die Indus­tri­al­isierung 4.0 bringt unter anderem weit­ere Flex­i­bil­isierun­gen in den Auf­bau- und Ablauf­prozessen, schnellere Inno­va­tion­szyklen, höhere Durch­laufgeschwindigkeit­en, noch mehr logis­tis­che Her­aus­forderun­gen und immensen Anpas­sungs­druck an den Markt und seine Bedürfnisse mit sich. Hierzu müssen Unternehmen sich auch im Bere­ich des Per­son­als sehr schlank und flex­i­bel auf­stellen. So ver­sucht man, den Per­son­albe­stand so ger­ing wie möglich zu hal­ten, um eine unaus­ge­lastete Work­force zu ver­mei­den. Bei Bedarf wird das Per­son­al dann schnell und unkom­pliziert über Arbeit­nehmerüber­las­sungsmod­elle aufge­stockt. Die daraus resul­tieren­den Kon­se­quen­zen sind häu­fig wech­sel­nde Teamkon­stel­la­tio­nen, unter­schiedliche Erfahrung­shor­i­zonte und ver­schiedenes Erfahrungswis­sen sowie soziale Ungle­ich­heit­en in den Stellen und an den Arbeitsplätzen.
Ein The­ma unter vie­len ist beispiel­sweise das Com­mit­ment von Arbeit­nehmerüber­las­sungskräften sowohl hin­sichtlich des Arbeit­ge­bers als auch in Bezug auf die Kol­legin­nen und Kol­le­gen. Ger­ade in solchen Teams ist der Abstim­mungs- und Kom­mu­nika­tions­be­darf erhöht. Team- und Schichtleit­er soll­ten dies bedenken und entsprechend Jour Fix­es, kurze Zusam­menkün­fte im Ste­hen, aber auch inten­si­vere Kom­mu­nika­tio­nen ein­pla­nen und kon­se­quent umset­zen. Die gegen­seit­ige Unter­stützung der Mitar­bei­t­erin­nen und Mitar­beit­er ist auch in der Auto­mo­bilin­dus­trie ein zen­trales Instru­ment, um mit den Her­aus­forderun­gen und Belas­tun­gen der Tätigkeit bess­er umge­hen zu können.“
Pro­duk­tion­s­mi­tar­beit­er: „Der Druck ist jeden­falls bru­tal. Und wenn du nicht bei den deutschen Nobel­marken arbeitest – so wie ich – dann ist die Angst, dass man trotz der ganzen Plack­erei irgend­wann seinen Job los ist, schon groß. Man wird dann auch nei­disch auf die Kol­legin­nen und die Kol­le­gen bei den „Großen“, die fast jedes Jahr ein paar tausend Euro zusät­zlich bekom­men. Wir hinge­gen schla­gen uns mit den Inge­nieuren rum und müssen manch­mal auch deren Stuss umset­zen. Das ärg­ert mich dann ganz beson­ders, denn dann weißt du schon beim Zusam­men­bauen des Wagens, dass das irgend­wann ein­mal eine Schwach­stelle an dem Fahrzeug sein wird. Und manch­es kön­nte man so ein­fach ver­mei­den, aber da sind dann die Schlip­sträger vor.“
Experte: „Das The­ma der Zusam­me­nar­beit von „blue col­lar“ und „white collar“-Mitarbeiterinnen und Mitar­beit­ern ist ein in allen Unternehmen und Organ­i­sa­tio­nen präsentes. In der Pro­duk­tion­sin­dus­trie im All­ge­meinen und in der Auto­mo­bil­pro­duk­tion im Beson­deren wirken sich Kom­mu­nika­tion­sprob­leme zwis­chen Führung und Belegschaft häu­fig aber noch extremer aus, da hier gle­ichgewichtiges Erfahrungswis­sen aufeinan­der­trifft, gepaart mit unter­schiedlichen Zielvorstel­lun­gen bei „white col­lars“ (vor allem Effek­tiv­ität und Effizienz) und „blue col­lars“ (Qual­ität und Langlebigkeit).
Das ist natür­lich arg verkürzt dargestellt, aber in der Tat ist prag­ma­tis­ches Fach­wis­sen ger­ade im Pro­duk­tions­bere­ich eine wichtige Eigen­schaft, die Mitar­bei­t­erin-nen und Mitar­beit­er von ihrem Vorge-set­zten erwarten. Hat „der/die da oben“ aber „keine Ahnung“, führt das schnell zu ein­er anges­pan­nten und kon­flik­t­träch-tigen Sit­u­a­tion am Arbeit­splatz, die sich auf die Moti­va­tion und die Zufrieden­heit sowohl von Führungskräften als auch Mitar­bei­t­erin­nen und Mitar­beit­ern nachteilig auswirkt. Mod­erne Führung erfor-dert hier einen gemein­samen Kom­mu­nika­tion­sprozess zwis­chen Vorge­set­ztem und Mitar­beit­ern. Lei­der wird dies oft verkan­nt oder ver­nach­läs­sigt, weil man keine Zeit hat oder am Ende sowieso „oben unten schlägt“. So pro­duziert man aber Belas­tungs­fak­toren, die ver­mei­d­bar wären – und das ohne großen Aufwand.“
Ins­ge­samt lässt sich fes­thal­ten, dass physis­che und psy­chis­che Belas­tun­gen auch in der deutschen Auto­mo­bilin­dus­trie große Rel­e­vanz haben. Die Sen­si­bil­ität der Betriebe für diese The­matik nimmt zu, aber es gibt noch einiges zu verbessern und aufzu­holen. Um psy­chis­che Belas­tungs­fak­toren am Arbeit­splatz der Pro­duk­tion­s­mi­tar­bei­t­erin­nen und ‑mitar­beit­er zu reduzieren bzw. ide­al­er­weise ganz auszuschal­ten, sind Maß­nah­men auf unter­schiedlichen Ebe­nen erforder­lich. Die gegebe­nen Arbeit­splatzmerk­male (Ergonomie, Gefährdun­gen, Anforderun­gen usw.) sind dabei eben­so zu berück­sichti­gen wie indi­vidu­elle Fak­toren (Alter, kör­per­liche Kon­sti­tu­tion, Belast­barkeit usw.) der Mitarbeitenden.
Hinzu kom­men sit­u­a­tive Rah­menbe­din­gun­gen (Tages-/Nachtzeit, Tem­per­a­turen, Laut­stärke usw.) sowie soziale Kom­po­nen­ten (psy­chis­che Sit­u­a­tion, Teamk­li­ma usw.). Die sys­tem­a­tis­che Erfas­sung von Belas­tun­gen und Beanspruchun­gen im Zuge indi­vidu­eller Gefährdungs­analy­sen, die Durch­führung von Train­ings und Schu­lun­gen, aber auch von Gesund­heit­sta­gen sowie die Bil­dung von Net­zw­erken sind zen­trale Ansatzpunk­te für eine nach­haltige Verbesserung der Sit­u­a­tion in der Auto­mo­bilin­dus­trie. Dementsprechend müssen die in den Unternehmen zum Ein­satz kom­menden Arbeit­s­analy­sev­er­fahren neben physis­chen Belas­tun­gen ver­mehrt die steigen­den psy­chis­chen Belas­tun­gen berücksichtigen.
Autoren
Dr. Ste­fan Pop­pel­reuter, Kathrin Teichmann
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