Die Arbeitsbedingungen in der deutschen Automobilindustrie sind oftmals geprägt von starkem Termin- und Leistungsdruck, von schneller Arbeitserledigung, von Störungen oder Unterbrechungen der Arbeit, von Stress und auch von ständig wiederkehrenden Arbeitsvorgängen im Produktionsprozess. Im sechsten Teil der Reihe „Psychische Belastungen am Arbeitsplatz“ sollen die in der Automobilindustrie auftretenden psychischen Belastungen aufgezeigt werden, denen Mitarbeiter bei ihrer täglichen Arbeit ausgesetzt sind. Parallel dazu werden mögliche präventive Maßnahmen im Bereich der Automobilindustrie skizziert, um Beanspruchungen vorzubeugen.
Globalisierung und permanenter Wandel haben die Weltwirtschaft fest im Griff. Im Zeitalter von Industrialisierung 4.0, Arbeit 4.0 und „Digitalisierung infinitum“ kommen zahlreiche Anforderungen auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Wirtschaft und Verwaltung – also auch auf die der Automobilproduktion – zu:
- Zunehmender Wettbewerb, technolo-gischer Wandel: mehr lebenslanges Lernen, Aufgabenwechsel
- Globalisierung: mehr Mobilität, Fremdsprachenkompetenz, kulturelles Verständnis
- Wachstumssektor Dienstleistungen: mehr Kommunikationsfähigkeit, emotionale Belastung, Zunahme von Nacht-/Schichtarbeit
- Produktivität: Rückgang grobmotori-scher Anforderungen, Zunahme der Anforderungen an Feinmotorik und Entfall prozessbedingter Arbeitsunterbrechungen
- Qualität: optimierte = immer genauer definierte Abläufe in der Fertigung; Zunahme der Komplexität, eingeschränkter Handlungsspielraum
- Mitarbeiterbeteiligung: mehr Anfor-derungsvielfalt, Kommunikation, Verantwortung, Teamfähigkeit, Eigeninitiative = „psychische Belastung“
- Anhebung des Rentenzugangsalters: Wandel der Lebensentwürfe und Perspektiven, alternsgerechtes Führen, Einstellungen zur Erwerbsarbeit
- Trend zu „fragmentierter Erwerbsbiografie“; häufig eingeschränkte Arbeitsplatzsicherheit, Anpassungsdruck, mehr Zeitarbeit, „brüchige“ Berufsbiografien
In der vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) in Kooperation mit der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) durchgeführten BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung im Jahr 2012 wird deutlich, worunter die Beschäftigten in der deutschen Automobilindustrie leiden. Hierzu wurden die Einschätzungen von männlichen Vollzeitbeschäftigten, die nicht über eine Zeitarbeitsfirma angestellt waren, zusammengefasst. Es spielen sowohl körperliche als auch psychische Belastungen eine entscheidende Rolle. Etwa 50% der Befragten leiden unter monotonen, ständig wiederkehrenden Tätigkeiten, 60% empfinden starken Termin- und Leistungsdruck, 61% der Befragten bekommen Stückzahl, Leistung und Zeit exakt vorgegeben. Das Arbeiten bis an die Grenzen der persönlichen Leistungsfähigkeit wird von 16% berichtet.
Je mehr sich Stress-Faktoren wie etwa hohe Arbeitsintensität, Termin- und Leistungsdruck und weitere Aspekte bündeln, desto wahrscheinlicher wird eine Erschöpfung des Arbeitnehmers. Liegt zum Beispiel keiner dieser Faktoren vor, fühlen sich nur sieben Prozent der Befragten erschöpft, kommen mehrere vor, steigt der Prozentsatz der gestressten Mitarbeiter auf etwa das Sechsfache (45%).
Neben den zuvor genannten psychischen Belastungen sind es ebenfalls die körperlichen Arbeiten, die den Beschäftigten zu schaffen machen: 83% der Befragten berichten von Steharbeit, 56% müssen besonders viel Arbeit mit den Händen verrichten. Dabei sind die Beschäftigten oft Lärm und Dreck ausgesetzt. Die Hälfte der Beschäftigten hat Schmerzen im Rücken, 43% leiden unter Schmerzen im Nacken- und Schulterbereich.
Diese Ergebnisse zeigen deutlich, dass eine Gefährdungsbeurteilung für physische und psychische Arbeitsbedingungen regelmäßig durchgeführt und dokumentiert werden sollte. Denn letztlich können sehr einseitige Arbeitsanforderungen, geprägt durch hohe Wiederholhäufigkeiten identischer Arbeitsabläufe, langfristig zu körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen führen.
In der Automobilindustrie herrschen atypische Arbeitsformen wie die Schicht‑, Abend‑, Nacht- und Wochenendarbeit vor, deren Lage von der klassischen Normalarbeitszeit abweicht. Hierunter wird die Arbeit, die am Tag zur jeweils gleichen Zeit von Montag bis Freitag verrichtet wird, verstanden (siehe Kasten „Schichtarbeit“).
Für die deutsche Automobilindustrie ergeben sich durch Arbeitsanforderungen sowie physische und psychische Einwirkungen zentrale Einzelbelastungen auf mehrere Ebenen. Im Einzelnen zu nennen sind hier:
- Hohe Anforderungen bei gleichzeitig geringem Handlungsspielraum
- Monotonie: ständig wiederholenden Tätigkeiten mit gleichzeitig hohen Anforderungen
- Repetitive Strain Injury-Syndrom (RSI)-Erkrankungen (siehe Kasten „RSI-Erkrankungen“) durch die kontinuierliche Durchführung ein und derselben Bewegung
- Körperlich anstrengende Tätigkeiten
- Mangelnde Anerkennung durch Vorgesetzte
- Hohe Lärmbelastungen mit der Gefahr des allmählichen Hörverlusts
- Kontakt mit branchenspezifischen Chemikalien und Behandlungen (z.B. Lacke)
- Mögliches Risiko einer Großmaschi-nenstörung
- Ein- und Durchschlafstörungen als wesentliche Folge der Schichtarbeit
- Bei Schichtarbeit haben Beschäftigte mit einem höheren Erwerbsalter häufiger Übergewicht und bewegen sich seltener in der Freizeit als ihre gleichaltrigen Normalarbeitszeitbeschäftigten.
- Fehlende Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Richtet man das Augenmerk einmal auf unterschiedliche Bereiche innerhalb der Automobilindustrie, so lassen sich – bereichsspezifisch – folgende physischen und psychischen Belastungsfaktoren feststellen:
- Lackierarbeiten: andauernder Umgang mit chemischen und giftigen Stoffen (z.B. Lösungsmittel, Lacke)
- Montage: andauerndes Stehen, statische Arbeit in ungünstigen Körperhaltungen (z.B. Einbau der Sitze), Handhabung von Lasten, klimatische Belastungen, ungünstige Arbeitszeiten, Zeitdruck, Monotonie
Im Gespräch mit einem Angestellten der deutschen Automobilindustrie in einer deutschen Großstadt werden die potentiellen Gefahren und Risiken der Tätigkeit deutlich. Wie insbesondere die psychi-schen Belastungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der deutschen Automobilindustrie konkret aussehen, soll im folgenden Fallbeispiel näher dargestellt werden. Wie immer wird über Expertenbeiträge das beschriebene Erleben kommentiert und es werden Hinweise zu Ansätzen der Prävention und Intervention bezüglich psychischer Belastungen am Arbeitsplatz gegeben:
Der Produktionsmitarbeiter im Fallbeispiel ist um 5 Uhr aufgestanden und löst um 6 Uhr die Nachtschicht ab, der übliche Arbeitstag beginnt.
Produktionsmitarbeiter: „Heute Morgen habe ich um 5:30 Uhr das Haus verlassen, bin zur Arbeit gefahren und habe um 6 Uhr meine Schicht begonnen. Inzwischen ist es 8 Uhr und die Frühstückspause ist gerade vorbei. Meine zwei kleinen Kinder und meine Frau sehe ich aufgrund meiner wechselnden Arbeitszeiten nur unregelmäßig, da meine Frau ebenfalls im Schichtdienst tätig ist und unsere Kinder aufgrund unserer Arbeitszeiten in einer Kindertagesstätte ganztägig betreut werden. Während der Ferienzeiten der Kindertagesstätte passen meine Eltern auf die Kinder auf, wenn dies jedoch irgendwann einmal nicht mehr möglich ist, dann stehen wir vor einem großen Problem. Übermorgen beispielsweise habe ich wieder Nachtschicht und meine Frau hat tagsüber Dienst. Wenn ich an diesen besagten Tagen morgens gegen 6:30 Uhr nach Hause komme, kümmern meine Frau und ich uns gemeinsam um die Kinder, bevor sie sie zur Kindertagesstätte bringt und ich mich dann erst einmal hinlege. So geht es nicht nur mit der Familie, sondern die Arbeitszeiten sind auch im Freundeskreis des Öfteren problematisch.“
Experte: „Ein zentrales Problem und somit auch einen großen Belastungsfaktor stellen die Arbeitszeiten in der Automobilindustrie dar. Insbesondere die Wechselschichtarbeit (z.B. von 6 bis 14 Uhr, von 14 bis 22 Uhr oder von 22 bis 6 Uhr) machen soziale Kontakte und die Pflege von Hobbies schwierig. Arbeiten bis tief in die Nacht, oft auch am Wochenende, verschärfen die Situation. Wie in allen Berufen mit Schichtarbeit ist auch bei den Produktionsmitarbeitern die Arbeit im Schichtdienst ein psychischer Belastungsfaktor an sich. Sowohl der Arbeitgeber als auch der Mitarbeiter können einen Beitrag dazu leisten, die negativen Folgen des Schichtdienstes zu reduzieren oder gar ganz auszuschalten.
Auf Seiten des Arbeitgebers sind das beispielsweise die Beteiligung der Beschäftigten bei der Schichtplangestaltung, die Erfassung des Chronotyps und dessen Berücksichtigung bei der Schichtplangestaltung, die arbeitsmedizinische Betreuung der Beschäftigten sowie die Durchführung von Informationsveran-staltungen, auf denen Beschäftigte erfahren, was sie selbst für ihre Gesundheit tun können, denkbar. Außerdem sind die Verteilung von Flyern zum Thema Schichtarbeit, je nach Größe des Betriebs auch eine Kinderbetreuung, die zuge-schnitten auf die Schichtzeiten angeboten wird, das Angebot von gesunden Mahlzeiten auch nachts sowie die Einrichtung von Pausenräumen, in denen auch die Möglichkeit besteht, leichtere Mahlzeiten zu erwärmen, möglich.
Der Mitarbeiter kann sich mit den Problemen der Schichtarbeit auseinandersetzen, an arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen, auf gesunde Ernährung achten, ein dem Schichtdienst angepasstes Schlafverhalten bzw. eine angepasste Schlafumgebung etablieren und seine sozialen Kontakte pflegen. Die Balance zwischen Familie und Beruf kann durch bedarfsspezifische Arbeitszeitmod-elle und eine angepasste Arbeitsorganisation aufrechterhalten werden. Dies fängt schon bei Selbstmanagement-Techniken wie Selbstbeobachtung oder dem Setzen von Zielen und Selbstbelohnung an. Ein erfolgreiches Selbstmanagement enthält eine Ziel- und Prioritätensetzung sowie die Erarbeitung der eigenen Motive. Dazu zählt auch die Berücksichtigung von individuellen eigenen Bedürfnissen zum Beispiel nach Regeneration, Bewegung, aber auch Weiterbildung oder einfach nur Nichtstun.“
Produktionsmitarbeiter: „Mein heutiger Arbeitstag wird hauptsächlich die händische Montage von Schiebedächern und Autositzen unter Zuhilfenahme der technischen Anlagen umfassen. Insbesondere bei diesen ständig wiederkehrenden, wenngleich auch simplen Tätigkeiten empfinden meine Kollegen und ich starken Termin- und Leistungsdruck, da aufgrund der Einstellung der technischen Anlagen innerhalb eines vorgegebenen Zeitfensters eine bestimmte Stückzahl einzubauender Teile montiert sein muss. An manchen Arbeitstagen bin ich nach meiner achtstündigen Schicht sehr abgespannt und ausgelaugt, auch oder gerade weil ich bei der Arbeit auch nicht viel nachdenken muss. Das ist immer dasselbe. Da die zuvor beschriebenen Tätigkeiten überwiegend im Stehen und mit ungünstiger Körperhaltung verrichtet werden müssen, bleiben ebenfalls kör-perliche Belastungen wie beispielsweise Schmerzen im Rücken sowie im Nacken- und Schulterbereich nicht aus.“
Experte: „Hier wird deutlich, dass die Anforderungen an die Mitarbeiter in der Produktion diesen nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ sehr viel abverlangen. Um vor allem bei monotonen, ständig wiederkehrenden Arbeiten den Überblick zu behalten, ist es wichtig, anhand einer Checkliste zu prüfen, ob alle wesentlichen Aufgaben erfüllt sind. Die Sicherheit, nichts vergessen zu haben, reduziert Stress. Die körperlichen Belastungen im Bereich der Automobilproduktion sind vielfältig. Häufig kommt es zu starken Beanspruchungen von Muskeln und Gelenken. Hierbei handelt es sich zwar zunächst einmal um physische Belastungen, die sich aber auch als psychisch belastend erweisen können.
Verspannungen, Kopfschmerzen, Erschöpfungszustände – all das wirkt sich auch auf die Motivation und die Zufrie-denheit der Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter aus. Deswegen sind entsprechende Maßnahmen zur Reduktion oder im Idealfall Vermeidung solcher Belastungsfaktoren unumgänglich. Hinsichtlich der körperlichen Belastungen stellen insbe-sondere gezielte Bewegungsübungen wie beispielsweise die Rückenschule sowie Anleitungen zum gesundheitsbewussten Verhalten am Arbeitsplatz geeignete Interventionsmaßnahmen dar. Sie dienen dazu, Rückenproblemen vorzubeugen, bereits vorhandene Beschwerden zu überwinden und chronische Schmerzen zu vermeiden. Solche Techniken müssen aber erst erlernt und eingeübt werden. Wichtig ist dabei, an die Selbstverantwortung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu appellieren, denn die besten Präventionsangebote und Verhaltensempfehlungen nutzen nichts, wenn sie von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht wahrgenommen und umgesetzt werden.“
Produktionsmitarbeiter: „Eine weitere wichtige Rolle spielen die Rahmenbedingungen an meinem Arbeitsplatz. Wenn ein Kunde beispielsweise individuelle Wünsche bezüglich der Autofarbe äußert, werden von meinen Kollegen und mir ebenfalls Lackierarbeiten ausgeführt. Bei diesen kommen wir unmittelbar in den Kontakt mit chemischen und giftigen Stoffen (z.B. Lösungsmittel, Lacke) und deren Dämpfen. Selbstverständlich tragen wir bei solchen Arbeiten einen Schutzanzug sowie eine Atemschutzmaske. Trotzdem kann so etwas nicht gesund sein. In Zusammenhang mit dem Einsatz chemischer und giftiger Stoffe stehen die klimatischen Bedingungen an meinem Arbeitsplatz; auch die Lichtverhältnisse und Geräuschkulisse haben einen entscheidenden Einfluss auf meinen Organismus.“
Experte: „In Abhängigkeit von den zu verrichtenden Arbeiten sowie den Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz kann es zu körperlichen und/oder psychischen Belastungen kommen. Das Arbeiten mit chemischen und giftigen Stoffen kann unter anderem Erkrankungen der Atmungsorgane oder Krebserkrankungen zur Folge haben. Der Arbeitgeber ist gemäß § 4 und § 5 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) dazu verpflichtet, die Arbeit so zu gestalten, dass eine Gefährdung für das Leben sowie die physische und die psychische Gesundheit der Mitarbeitenden möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten wird. Des Weiteren hat der Arbeitgeber durch eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdungen zu ermitteln, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erfor-derlich sind. Zusammenfassend gesagt, hat der Arbeitgeber eine stetige Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten anzustreben.
Gleiches gilt für die klimatischen Bedingungen am Arbeitsplatz. Besonders in den Sommer- und Wintermonaten stellen die Temperaturen am Arbeitsplatz ein erhöhtes Belastungsrisiko dar. Durch mangelnde Möglichkeiten der Verdunklung und des Sonnenschutzes erreichen Räumlichkeiten schnell unangenehme Tempe-raturen über 26°C, die zu Schläfrigkeit, Konzentrationsschwäche und Trägheit führen. Zu kalte Temperaturen führen wiederum zu vermehrtem Bewegungsdrang, Konzentrationsmangel, Rheumaerkrankungen und Erkältungen. Ideale Voraussetzungen sind Temperaturen zwischen 17 und 22°C. Diese optimalen Temperaturen belasten weder psychische noch physische Körperfunktionen und tragen zu konzentrierten Arbeitsabläufen bei. Neben den klimatischen Bedingungen, stellen zwei weitere Faktoren eine Herausforderung für Mitarbeiter in der Automobilproduktion dar.
Die Beleuchtung des Arbeitsplatzes wirkt sich sowohl auf das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit als auch auf die Arbeitsqualität der Mitarbeiter aus. So kann eine mangelhafte Beleuchtung – sowohl zu wenig als auch zu viel Licht – eine psychische Belastung darstellen und das Unfallrisiko erhöhen. Aufgrund dessen wird hierbei der Einsatz angenehm weich gelblichen Lichts empfohlen. Durch den zweiten Faktor Lärm kann es zu einer Schädigung der Gesundheit (z.B. allmäh-licher Hörverlust) kommen. Der Arbeitgeber ist gemäß § 5 ArbSchG dazu verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen zu Minderung beziehungsweise Beseiti-gung von Lärm (z.B. angemessener Gehörschutz) zu ergreifen.“
Produktionsmitarbeiter: „Durch den immer stärker werdenden Kostendruck auch in der Automobilindustrie werden Produktionsprozesse, aber auch personelle Ausstattungen immer schneller verändert. Man versucht wirklich, das letzte aus dem System herauszupressen. Das führt dazu, dass wir uns immer wieder auf neue Abläufe, aber auch und vor allem auf neue Kolleginnen und Kollegen einstellen müssen. Das passiert dann häufig auch noch in Spitzenzeiten, wenn die Nachfrage besonders hoch ist. Ist ja logisch, da braucht man weitere personelle Ressourcen. Die kommen dann aber auch oft von Zeitarbeitsfirmen. Schnell entstehen da Konflikte und Neid wegen der unterschiedlichen Verdienste oder der unterschiedlichen Sicherheit des Arbeitsplatzes. Das schlägt mitunter auch auf die Motivation einzelner Kolleginnen und Kollegen durch.
Das kann in den Teams schon mal zu Stress führen. Und manche der Kolleginnen und Kollegen aus der Zeitarbeit haben es einfach nicht so drauf. Da muss das Band auch schon mal angehalten werden. Tragisch ist natürlich, wenn es dann auch noch zu Unfällen kommt. Zuletzt hat sich einer der Zeitarbeiter die Bänder gerissen, weil er zu lange auf der beweglichen Montageplattform stand. Der brauchte einfach zu lange. Beim Absprin-gen ist er umgeknickt.“
Experte: „Die Industrialisierung 4.0 bringt unter anderem weitere Flexibilisierungen in den Aufbau- und Ablaufprozessen, schnellere Innovationszyklen, höhere Durchlaufgeschwindigkeiten, noch mehr logistische Herausforderungen und immensen Anpassungsdruck an den Markt und seine Bedürfnisse mit sich. Hierzu müssen Unternehmen sich auch im Bereich des Personals sehr schlank und flexibel aufstellen. So versucht man, den Personalbestand so gering wie möglich zu halten, um eine unausgelastete Workforce zu vermeiden. Bei Bedarf wird das Personal dann schnell und unkompliziert über Arbeitnehmerüberlassungsmodelle aufgestockt. Die daraus resultierenden Konsequenzen sind häufig wechselnde Teamkonstellationen, unterschiedliche Erfahrungshorizonte und verschiedenes Erfahrungswissen sowie soziale Ungleichheiten in den Stellen und an den Arbeitsplätzen.
Ein Thema unter vielen ist beispielsweise das Commitment von Arbeitnehmerüberlassungskräften sowohl hinsichtlich des Arbeitgebers als auch in Bezug auf die Kolleginnen und Kollegen. Gerade in solchen Teams ist der Abstimmungs- und Kommunikationsbedarf erhöht. Team- und Schichtleiter sollten dies bedenken und entsprechend Jour Fixes, kurze Zusammenkünfte im Stehen, aber auch intensivere Kommunikationen einplanen und konsequent umsetzen. Die gegenseitige Unterstützung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist auch in der Automobilindustrie ein zentrales Instrument, um mit den Herausforderungen und Belastungen der Tätigkeit besser umgehen zu können.“
Produktionsmitarbeiter: „Der Druck ist jedenfalls brutal. Und wenn du nicht bei den deutschen Nobelmarken arbeitest – so wie ich – dann ist die Angst, dass man trotz der ganzen Plackerei irgendwann seinen Job los ist, schon groß. Man wird dann auch neidisch auf die Kolleginnen und die Kollegen bei den „Großen“, die fast jedes Jahr ein paar tausend Euro zusätzlich bekommen. Wir hingegen schlagen uns mit den Ingenieuren rum und müssen manchmal auch deren Stuss umsetzen. Das ärgert mich dann ganz besonders, denn dann weißt du schon beim Zusammenbauen des Wagens, dass das irgendwann einmal eine Schwachstelle an dem Fahrzeug sein wird. Und manches könnte man so einfach vermeiden, aber da sind dann die Schlipsträger vor.“
Experte: „Das Thema der Zusammenarbeit von „blue collar“ und „white collar“-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist ein in allen Unternehmen und Organisationen präsentes. In der Produktionsindustrie im Allgemeinen und in der Automobilproduktion im Besonderen wirken sich Kommunikationsprobleme zwischen Führung und Belegschaft häufig aber noch extremer aus, da hier gleichgewichtiges Erfahrungswissen aufeinandertrifft, gepaart mit unterschiedlichen Zielvorstellungen bei „white collars“ (vor allem Effektivität und Effizienz) und „blue collars“ (Qualität und Langlebigkeit).
Das ist natürlich arg verkürzt dargestellt, aber in der Tat ist pragmatisches Fachwissen gerade im Produktionsbereich eine wichtige Eigenschaft, die Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter von ihrem Vorge-setzten erwarten. Hat „der/die da oben“ aber „keine Ahnung“, führt das schnell zu einer angespannten und konfliktträch-tigen Situation am Arbeitsplatz, die sich auf die Motivation und die Zufriedenheit sowohl von Führungskräften als auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nachteilig auswirkt. Moderne Führung erfor-dert hier einen gemeinsamen Kommunikationsprozess zwischen Vorgesetztem und Mitarbeitern. Leider wird dies oft verkannt oder vernachlässigt, weil man keine Zeit hat oder am Ende sowieso „oben unten schlägt“. So produziert man aber Belastungsfaktoren, die vermeidbar wären – und das ohne großen Aufwand.“
Insgesamt lässt sich festhalten, dass physische und psychische Belastungen auch in der deutschen Automobilindustrie große Relevanz haben. Die Sensibilität der Betriebe für diese Thematik nimmt zu, aber es gibt noch einiges zu verbessern und aufzuholen. Um psychische Belastungsfaktoren am Arbeitsplatz der Produktionsmitarbeiterinnen und ‑mitarbeiter zu reduzieren bzw. idealerweise ganz auszuschalten, sind Maßnahmen auf unterschiedlichen Ebenen erforderlich. Die gegebenen Arbeitsplatzmerkmale (Ergonomie, Gefährdungen, Anforderungen usw.) sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie individuelle Faktoren (Alter, körperliche Konstitution, Belastbarkeit usw.) der Mitarbeitenden.
Hinzu kommen situative Rahmenbedingungen (Tages-/Nachtzeit, Temperaturen, Lautstärke usw.) sowie soziale Komponenten (psychische Situation, Teamklima usw.). Die systematische Erfassung von Belastungen und Beanspruchungen im Zuge individueller Gefährdungsanalysen, die Durchführung von Trainings und Schulungen, aber auch von Gesundheitstagen sowie die Bildung von Netzwerken sind zentrale Ansatzpunkte für eine nachhaltige Verbesserung der Situation in der Automobilindustrie. Dementsprechend müssen die in den Unternehmen zum Einsatz kommenden Arbeitsanalyseverfahren neben physischen Belastungen vermehrt die steigenden psychischen Belastungen berücksichtigen.
Autoren
Dr. Stefan Poppelreuter, Kathrin Teichmann
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