Betrachtet man die Berichterstattung in den Medien, entsteht leicht der Eindruck, dass psychische Belastungen unweigerlich zu psychischen Erkrankungen führen und dass psychische Erkrankungen die einzige Folge psychischer Belastungen sind. Doch was sagt die Wissenschaft hierzu?
Dr. Hiltraut Paridon
Der Frage, welche Folgen psychische Belastungen haben können, ist die Initiative Gesundheit und Arbeit (iga) in einer Literaturanalyse nachgegan gen.
Zunächst noch einmal zu den Begriffen: In der Diskussion um das Thema „Psyche und Gesundheit am Arbeitsplatz“ finden sich immer wieder drei Begriffe, und zwar „Psychische Belastung“, Psychische Beanspruchung“ und „Psychische Erkrankung“.
Psychische Belastung wird in der Norm EN ISO 10075–1:2000 „Ergonomische Grundlagen bezüglich psychischer Arbeitsbelastung“ definiert. Psychische Belastung ist demnach „die Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch auf ihn einwirken.“ Es geht also um die Anforderungen oder Merkmale, die sich aus einer Arbeitssituation ergeben. Der Begriff wird in der Norm – im Gegensatz zur Alltagssprache – neutral verstanden. Eine Belastung kann demnach also positiv oder negativ sein. Belastungen, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit negativ auswirken, bezeichnet man inzwischen häufig als „psychische Fehlbelastungen“.
Psychische Beanspruchung wird ebenfalls in der Norm definiert. Sie ist „die unmittelbare (nicht die langfristige) Auswirkung der psychischen Belastung im Individuum in Abhängigkeit von seinen jeweiligen überdauernden und augenblicklichen Voraussetzungen, einschließlich der individuellen Bewältigungsstrategien.“ Bei der Beanspruchung handelt es sich also um die Reaktion der Person auf die Belastung – sie kann laut Belastungs-Beanspruchungs-Modell ebenfalls positiv (z.B. Freude) oder negativ (z.B. Ärger) sein.
Psychische Erkrankungen sind krankhafte Beeinträchtigungen der Wahrnehmung, des Denkens, des Fühlens, des Verhaltens oder der sozialen Beziehungen, so dass ein Funktionsbereich (wie z.B. die Arbeit) deutlich eingeschränkt ist. Es handelt sich dabei nicht um momentane Befindensbeeinträchtigungen, sondern um länger anhaltende Erkrankungen.
Die Folgen von Fehlbelastungen
Zurück zur Literaturanalyse: Es ist leicht vorstellbar, dass sich psychische Belastungen auf unterschiedliche Aspekte auswirken, wie zum Beispiel die Motivation, die Leistung und Produktivität oder auch das Sicherheitsverhalten am Arbeitsplatz. Welche Aspekte überhaupt untersucht werden und was bei diesen Untersuchungen rausgekommen ist, war Gegenstand der vorliegenden Analyse. Dabei ging es um negative Auswirkungen von psychischen Belastungen, da diese negativen Auswirkungen Anlass zu präventivem Handeln sind. Das bedeutet aber nicht, dass sich Arbeit grundsätzlich negativ auswirkt. Gut gestaltete Arbeit kann helfen, uns gesund zu erhalten. Beispielsweise strukturiert sie unseren Tag und ermöglicht uns Sozialkontakte und das Gefühl, etwas Nützliches zu leisten. Schlecht gestaltete Arbeit hingegen birgt Fehlbelastungen mit möglichen negativen Effekten. Die Literaturrecherche führte zu knapp 100 Artikeln, die sich den folgenden neun Oberkategorien zuordnen ließen:
- Körperliche Erkrankungen und Beschwerden, z.B. Muskel-Skelett-Beschwerden, Herz-Kreislauf-Erkrankungen
- Psychische Erkrankungen und Beschwerden, z.B. Depression, Burnout
- Motivation und Affekt, z.B. generelles psychisches Wohlbefinden, Arbeitszufriedenheit
- Gesundheitsverhalten, z.B. körperliche Aktivität in der Freizeit, Schlaf
- Berufliche Performance, z.B. Leistung, Kreativität und Innovation
- Familie und Freizeit, z.B. Auswirkungen auf Ehepartner und Kinder
- Arbeitsausfall, z.B. Fehlzeiten, Fluktuation
- Sicherheit am Arbeitsplatz, z.B. Arbeitsunfälle, Sicherheitsklima
- Soziales Verhalten am Arbeitsplatz, z.B. Aggressionen am Arbeitsplatz, Gruppenzusammenhalt
Ursache oder Begleiterscheinung?
Bei der Analyse der Artikel ging es immer um die Frage, wie sicher die Forschungserkenntnisse bereits sind. Können wir also sagen, dass eine bestimmte Fehlbelastung tatsächlich die Ursache für eine bestimmte Folge ist oder ob es sich eher um eine Begleiterscheinung handelt. Ein Beispiel kann den Unterschied verdeutlichen: Wenn man feststellt, dass Personen, die in Nachtschichten arbeiten, eher Übergewicht haben, so könnte es sein, dass die Nachtarbeit die direkte Ursache für das Übergewicht ist – das hieße Nachtarbeit führt zu Übergewicht (auch wenn man sich gesund ernährt). Es kann aber auch sein, dass die Personen sich ungesünder ernähren, weil nachts keine Kantine mehr aufhat und sie deshalb übergewichtig werden. Dann ist nicht die Nachtarbeit die direkte Ursache für das Übergewicht, sondern die falsche Ernährung. Man könnte nun sagen, dass es doch egal ist, was letztendlich zum Übergewicht führt, Hauptsache man tut etwas dagegen. Die wirklichen Ursachen für Wirkungen zu finden ist aber wichtig, weil die Präventionsarbeit nur dann an den richtigen Stellen ansetzen kann. In dem genannten Beispiel würde Prävention bedeuten, dass ein Betrieb den Personen, die nachts arbeiten, gesundes Essen anbietet.
Auch körperliche Beschwerden
Bei einigen untersuchten Folgen zeigt sich bereits deutlich, dass sie durch psychische Fehlbelastungen bei der Arbeit mitverursacht werden. Hierzu gehören
- Muskel-Skelett-Beschwerden,
- Depression,
- Angst und
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Das heißt, dass beispielsweise Muskel-Skelett-Beschwerden nicht nur durch körperliche Belastungen entstehen können, sondern auch durch psychische. Es kann auch sein, dass psychische Fehlbelastungen bereits bestehende Beschwerden in diesem Bereich verstärken. Durch ungünstige Arbeitsbedingungen mitverursacht werden wahrscheinlich auch: ein schlechteres Immunsystem, schlechterer Schlaf, weniger körperliche Aktivität (Sport) und ein schlechteres allgemeines Wohlbefinden. Bei weiteren recherchierten Aspekten fanden sich meistens Zusammenhänge (Korrelationen) mit psychischen Fehlbelastungen. Sie sind also zunächst Begleiterscheinungen psychischer Belastungen in der Arbeitswelt. Hierzu gehören beispielsweise eine abnehmende Arbeitsleistung, vermehrt sicherheitswidriges Verhalten, Motivationsverlust oder eine stärkere Kündigungsabsicht. Inwiefern es sich hierbei tatsächlich um direkte Folgen handelt, wird möglicherweise die zukünftige Forschung zeigen.
Viel mehr als psychische Erkrankungen
Insgesamt zeigt die Literaturanalyse, dass mögliche Folgen psychischer Belastungen bei der Arbeit vielfältiger Natur sein können. Sie sollten also nicht auf psychische Erkrankungen reduziert werden. Auf jeden Fall sollten sich die Betriebe mit dem Thema „Psychische Belastungen“ auseinandersetzen. Dies ist auch aus wirtschaftlicher Erwägung sinnvoll, da Fehlbelastungen auch mit Motivationsverlusten und Leistungseinbußen einhergehen können. Das bekannte Zitat von Werner von Siemens gilt wohl auch für die Gestaltung gesundheitsgerechter Arbeitsbedingungen. Er hat bereits 1880 gesagt: „Das Verhüten von Unfällen darf nicht als eine Vorschrift des Gesetzes aufgefasst werden, sondern als ein Gebot menschlicher Verpflichtung und wirtschaftlicher Vernunft.“ Darum ist es auch so wichtig, die psychischen Belastungen in die Gefährdungsbeurteilung einzubeziehen.
Die gesamten Ergebnisse der Literaturrecherche wurden im iga.Report 32 veröffentlicht (www.iga-info.de).
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