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Digitale Medien haben die Menschen fest im Griff. Doch wer ständig für andere erreichbar ist, zahlt irgendwann Tribut. Auch Unternehmen können Schaden nehmen. Wie gelingt der Aufbruch in eine neue digitale Arbeitskultur? Die Medienforscherin Sabria David, Mitbegründerin des Slow Media Instituts in Bonn, weist mit ihrem Interaktionsmodell Digitaler Arbeitsschutz (IDA) einen Weg.
Frau David, auf welchen Ebenen setzt das Interaktionsmodell zum digitalen Arbeitsschutz an?
David: Das Modell ist das Ergebnis einer Pilotstudie, die ich in einem großen Unternehmen der Telekommunikationsbranche durchgeführt habe. Ich habe untersucht, welche Faktoren das mediale Klima eines Unternehmens beeinflussen und in welchem Wechselspiel diese Faktoren zueinander stehen. Das Interaktionsmodell berücksichtigt drei Ebenen – das individuelle Nutzungsverhalten, das Team und die Führung – sowie deren Wechselwirkungen. Beim individuellen Nutzungsverhalten geht es darum, wie der einzelne Mitarbeiter mit digitalen Medien umgeht und damit das mediale Klima des Unternehmens prägt: Werden zum Beispiel E‑Mails auch nach Feierabend oder im Urlaub gelesen? Auf der Teamebene wird die Organisation der Arbeitsabläufe betrachtet. Auf der Führungsebene geht es um die Rahmenbedingungen, die ein Unternehmen zur Verfügung stellt: Diese bilden den Nährboden für das mediale Klima.
Das Modell verbindet also Verhaltens- und Verhältnisprävention?
David: Ja. Der einzelne Mitarbeiter braucht bestimmte Rahmenbedingungen, um verantwortungsvoll mit digitalen Medien umzugehen und das mediale Klima produktiv zu prägen. Man braucht auf der einen Seite individuelle Kompetenzen, auf der anderen muss das Unternehmen auch für bestimmte Rahmenbedingungen sorgen. Der Vorsatz, keine E‑Mails im Urlaub zu lesen, funktioniert zum Beispiel nur, wenn es eine Vertretungslösung gibt. Unsere repräsentative „Slow Types-Studie“ hat herausgefunden, dass 93 Prozent der Bundesbürger es wichtig finden, sich voll und ganz auf ihre Tätigkeit zu konzentrieren. De facto besteht unsere Arbeit jedoch aus ständigen Unterbrechungsreizen. Hier setzen wir an, damit die Menschen wieder das tun können, was sie wollen: In Ruhe arbeiten.
Viele Unternehmen haben aber ihre Personaldecke so reduziert, dass kaum noch Vertretungslösungen umgesetzt werden können.
David: Das Interaktionsmodell ist ein pragmatischer Handlungsansatz: Wir identifizieren zum Beispiel, was der einzelne Mitarbeiter trotz Arbeitsverdichtung tun und beeinflussen kann. Wenn eine Führungskraft regelmäßig am Sonntag E‑Mails an die Mitarbeiter sendet, haben diese mehrere Möglichkeiten, darauf zu reagieren – sie können sich davon unter Druck setzen lassen oder nicht. Häufig wird in den Unternehmen auch nicht darüber gesprochen, wer welche Erwartungen hat: Vielleicht erwartet die Führungskraft erst zu einem späteren Zeitpunkt eine Antwort?
IDA liefert die wissenschaftliche Basis für einen in Kooperation mit dem TÜV Rheinland entwickelten Standard zum Digitalen Arbeitsschutz. Warum brauchen die Unternehmen einen Standard? Reichen die gesetzlichen Vorschriften nicht aus?
David: Die Arbeitsschutzvorschriften werden durch digitale Medien unterhöhlt, die Realitäten fließen links und rechts vorbei. Wie gewährleistet man elf Stunden Ruhezeit, wenn die Beschäftigten Diensthandys haben? Eigentlich dürfte ein Arbeitnehmer, der um Mitternacht noch E‑Mails bearbeitet hat, am nächsten Tag erst um elf Uhr zur Arbeit kommen. Der Standard zum digitalen Arbeitsschutz ist eine Handreichung: Er zeigt Wege, wie sich digitaler Arbeitsschutz mit anderen betrieblichen Prozessen verzahnen lässt. Dabei geben wir den Unternehmen nicht vor, wie sie etwas lösen sollen, sondern welche Fragen sie für sich beantworten sollten. Davon hängt auch ihre Zukunftsfähigkeit ab. Durch die Zertifizierung wird sichtbar, dass die Unternehmen proaktiv handeln und nicht warten, dass sie die Digitalisierung überrollt. Das erhöht die Attraktivität als Arbeitgeber.
Wie ist die Resonanz auf das Modell und den Standard?
David: Industrie 4.0 und Arbeiten 4.0 sind derzeit große Themen, für die es noch keine gelernten Problemlösungswege gibt. Unsere Erfahrung ist, dass die Unternehmen diesen Entwicklungen nicht hinterherlaufen, sondern mittel- und langfristig proaktiv Lösungen finden wollen, um auch das Potenzial der Digitalisierung nutzen zu können. Viele Unternehmen machen sich auf den Weg.
Schauen wir noch einmal auf die Führungsebene im Interaktionsmodell. Unter welchen betrieblichen Voraussetzungen gelingt im Betrieb ein Medienwandel?
David: Zunächst sollte Realitätssinn vorhanden sein: Den meisten Unternehmen ist bewusst, dass die Digitalisierung nicht erst am Horizont auftaucht, sondern dass wir schon mitten drin stehen. Die Frage ist, wie man das gestaltet. Ein Unternehmen sollte sich außerdem als lebenden Organismus verstehen, der „permanent Beta“ ist, das heißt, sich kontinuierlich verbessert. Experimentier- und Innovationsfreude sind wichtig, ebenso wie eine positive Einstellung zu Veränderungen. Natürlich ist die Arbeitsverdichtung keine positive Entwicklung, aber man sollte sich dennoch fragen, welche Potenziale in der Digitalisierung liegen: Sie bietet beispielsweise Chancen im Wissensmanagement und im gemeinsamen Arbeiten von Beschäftigten.
Was kann der Einzelne tun, um verantwortungsvoll mit digitalen Kommunikationsmitteln umzugehen?
David: Es geht darum, von einem reflexartigen zu einem reflektierten Umgang mit digitalen Medien zurückzufinden. Man muss sich also disziplinieren und lernen, sich zu entziehen. Der Einzelne kann Verantwortung dafür übernehmen, wie er selbst nach drau-ßen kommuniziert: Erst denken, dann senden.
Und was tun, wenn man selbst voller guter Vorsätze sein E‑Mail-Verhalten ändern möchte, aber merkt, dass die Umgebung nicht mitzieht?
David: Nicht gleich das ganze Team überzeugen wollen, sondern eine kleine Gruppe von Kollegen. So kann man zum Beispiel mit den unmittelbaren Kollegen vereinbaren, dass man sich gegenseitig einen Tag vor und nach dem Urlaub unterstützt. Wenn diese Vereinbarung funktioniert, schließen sich andere an. Oder man vereinbart auf Teamebene, dass jeder Kollege zwei Stunden in der Woche bei der Arbeit nicht unterbrochen werden darf. Damit bleibt das Problem der Arbeitsverdichtung, aber man schafft sich Puffer. Nicht gleich vom großen Ganzen lähmen lassen, sondern lieber kleine Ziele setzen!
Danke für das Gespräch.
Das Interview führte Nina Sawodny.
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