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Wenn die Arbeit zur Droge wird

Sucht am Arbeitsplatz Teil 5
Wenn die Arbeit zur Droge wird

Die meis­ten Men­schen arbeit­en, um zu leben. Das heißt aber nicht, dass ihnen der Job keinen Spaß macht. Doch nach geleis­teter und entsprechend hon­ori­ert­er Arbeit freuen sie sich auf ihre Fam­i­lie, ihre Fre­unde oder ihr Hob­by. Es gibt allerd­ings auch Men­schen, die leben, um zu arbeit­en. Für sie ist die Arbeit eine Droge, die ihr ganzes Leben bes­timmt. Wie sich Arbeitssucht äußert und was man dage­gen tun kann, erk­lärt Dr. Ste­fan Pop­pel­reuter vom TÜV Rhein­land im Gespräch mit dem Sicherheitsbeauftragten.

Das Inter­view führte Nadine Röser

Wann ist jemand arbeitssüchtig?
Pop­pel­reuter: Das lässt sich nicht so ein­fach sagen. Denn bis­lang gibt es keine ein­heitlichen Diag­nosekri­te­rien für die Arbeitssucht. Eine rein quan­ti­ta­tive Diag­nose bezo­gen auf die geleis­teten Arbeitsstun­den wäre unzure­ichend. Man kann zum Beispiel nicht sagen, dass alles, was unter­halb ein­er 60-Stun­den-Woche liegt, in Ord­nung ist. Und alles, was darüber liegt, ist prob­lema­tisch oder gar pathol­o­gisch. Entschei­den­der ist, mit welch­er Moti­va­tion gear­beit­et wird und ob eine Aus­ge­wogen­heit zwis­chen Arbeit­szeit und Entspan­nung – eine soge­nan­nte Work-Life-Bal­ance − besteht.
Welche Fol­gen hat die Arbeitssucht für die Betroffenen?
Pop­pel­reuter: Arbeitssüchtige ver­lieren die Kon­trolle über ihr Arbeitsver­hal­ten. Die Arbeit nimmt einen immer bre­it­eren Raum in ihrem Leben ein, sie wird zum einzi­gen Lebensin­halt und Leben­szweck. Das äußert sich nicht nur an hohen Präsen­szeit­en im Unternehmen. Vielmehr beschäfti­gen sich Betrof­fene auch in ihrer Freizeit mit arbeits­be­zo­ge­nen The­men. Sie sind unfähig, zu entspan­nen, soziale Kon­tak­te zu pfle­gen oder einem Hob­by nachzuge­hen. Viele sind, begün­stigt durch elek­tro­n­is­che Kom­mu­nika­tion­s­mit­tel, sog­ar während ihres Urlaubs online und über den Lap­top mit dem Büro ver­drahtet. Worka­holics ver­fü­gen neben der Arbeit kaum noch über einen alter­na­tiv­en Lebensbereich.
Wer ist beson­ders stark gefährdet?
Pop­pel­reuter: Im Prinzip kön­nen wir arbeitssüchtige Ver­hal­tens­muster in allen Branchen, beru­flichen Feldern und Posi­tio­nen fest­stellen. Arbeitssucht kann ein­fache Arbeit­er oder Angestellte genau­so tre­f­fen wie Selb­st­ständi­ge oder Man­ag­er. Selb­st nicht beruf­stätige Bevölkerungs­grup­pen kön­nen arbeits- beziehungsweise tätigkeitssüchtige Ver­hal­tens­muster aufweisen. Dazu gehören beispiel­sweise Rent­ner, die sich im Ruh­e­s­tand mit unter­schiedlichen Arbeit­en und The­matiken ein­deck­en und dadurch ihre Zeit so struk­turi­eren, wie sie es früher im Beruf­sall­t­ag getan haben. Sie gehen dann beispiel­sweise in ihrem Ehre­namt so stark auf, dass sie darüber andere Bedürfnisse oder auch Lebensver­ant­wortlichkeit­en vernachlässigen.
Gibt es Beruf­s­grup­pen, die von der Arbeitssucht beson­ders stark betrof­fen sind?
Pop­pel­reuter: Es gibt gewisse Hin­weise, dass helfende Beruf­s­grup­pen wie Ärzte, Sozialar­beit­er, Psy­cholo­gen oder Seel­sorg­er stärk­er betrof­fen sind als andere. Dann gibt es eine Häu­fung von Arbeitssüchti­gen unter den Selb­st­ständi­gen. Natür­lich spielt hier auch die Exis­ten­zsicherung eine erhe­bliche Rolle. Freiberu­fler neigen dazu, viel Arbeit anzunehmen, weil sie nicht ein­schätzen kön­nen, was die Auf­tragslage in drei oder sechs Monat­en hergibt. Und schließlich weisen Men­schen mit kreativ­en Berufen ein erhöht­es Gefährdungspoten­zial auf, arbeitssüchtig zu wer­den. Aber – und das möchte ich beto­nen – Arbeitssucht find­et sich in allen Berufsgruppen.
Wo liegen die Ursachen für die Arbeitssucht?
Pop­pel­reuter: Es gibt immer eine Trias von Grün­den oder Ursachen, warum süchtiges oder abhängiges Ver­hal­ten entste­ht. Zum einen spie­len Per­sön­lichkeitsmerk­male und ‑fak­toren eine Rolle. Dann haben sit­u­a­tive Rah­menbe­din­gun­gen wie das Beruf­sum­feld, die Branche oder die Unternehmen­skul­tur einen Ein­fluss auf die Entste­hung der Sucht. Und als drittes birgt die Droge sel­ber ein gewiss­es Risikopoten­zial in sich. Let­zteres gestal­tet sich bei der Arbeitssucht jedoch etwas anders, denn Arbeit hat abge­se­hen von der Exis­ten­zsicherung viele pos­i­tive Effek­te für uns Men­schen. Der Arbeit­splatz ist ein Ort, an dem ich Kom­pe­ten­zen erwerbe, soziale Kon­tak­te knüpfe, Erfolge feiere und an dem ich mein Selb­st­be­wusst­sein steigern kann. Und weil Arbeit einen dur­chaus pos­i­tiv­en Stel­len­wert in unser­er Gesellschaft hat, ist es für viele schwierig zu erken­nen, dass ein zu viel an Arbeit auch neg­a­tive Fol­gen mit sich brin­gen kann.
Sind Arbeitssüchtige stark leistungsorientiert?
Pop­pel­reuter: Ja, exzes­sive Vielar­beit­er ver­fü­gen häu­fig über eine sehr leis­tung­sori­en­tierte Grund­hal­tung. Auch das kann eine Ursache für die Erkrankung sein. Betrof­fene haben mitunter schon im Eltern­haus gel­ernt, dass man etwas leis­ten muss, um beispiel­sweise Anerken­nung und Wertschätzung zu erfahren. Und diese Leis­tung­sori­en­tierung ist häu­fig kom­biniert mit einem gewis­sen Per­fek­tion­is­mus. Arbeitssüchtige kön­nen keine Pri­or­itäten set­zen und nicht entschei­den, wann hun­dert Prozent an Arbeit­sein­satz ange­bracht sind und wann 80 Prozent aus­re­ichen. Sie glauben auch, für alles ver­ant­wortlich zu sein und neigen dazu, alle Tätigkeit­en zu übernehmen, in der Überzeu­gung, nie­mand könne das so gut wie sie. Deshalb sind Arbeitssüchtige schlechte Tea­mar­beit­er und Vorge­set­zte. Angst­ge­füh­le kön­nen eine weit­ere Ursache für die Sucht sein. Die Betrof­fe­nen haben das Gefühl, nichts wert zu sein, nicht leis­tungs­fähig zu sein oder den Anforderun­gen nicht gerecht zu wer­den. Mit ihrem exzes­siv­en Ver­hal­ten wollen sie dann von ihrer Ver­sagen­sangst ablenken.
Wie viele Men­schen sind von der Arbeitssucht betroffen?
Pop­pel­reuter: Auch in der Wis­senschaft kur­sieren teil­weise zweifel­hafte Angaben zur Anzahl der Betrof­fe­nen. Das Prob­lem dabei ist aber, dass es keine ein­heitlichen Diag­nosekri­te­rien gibt. Auf­grund von Stu­di­en, die wir durchge­führt haben, und auf­grund von Kri­te­rien, die wir zur Kat­e­gorisierung von Arbeitssucht oder Nicht-Arbeitssucht angelegt haben, gehen wir von unge­fähr 400.000 oder 500.000 Betrof­fe­nen in Deutsch­land aus. Das heißt also, das arbeitssüchtige Ver­hal­ten hat in unser­er Gesellschaft eine ähn­liche Quan­tität wie das spiel­süchtige Ver­hal­ten. Hinzu kommt ein nicht uner­he­blich­er Anteil von Arbeitssucht­ge­fährde­ten. In unseren Stu­di­en kom­men wir zu dem Ergeb­nis, dass unge­fähr jed­er siebte Arbeit­nehmer poten­ziell als gefährdet betra­chtet wer­den kann. Das sind dann 14 bis 15 Prozent aller Beschäftigten.
Wie kön­nen Arbeit­nehmer der Arbeitssucht vorbeugen?
Pop­pel­reuter: Der erste Schritt zur Besserung ein­er Sucht- oder Abhängigkeit­serkrankung ist die Selb­sterken­nt­nis. Das bedeutet, Arbeit­nehmer soll­ten stets darauf acht­en, ob eine Aus­ge­wogen­heit zwis­chen Arbeit und anderen Lebens­bere­ichen beste­ht. Dazu kön­nten sie sich zum Beispiel fol­gende Fra­gen stellen: Welche Bedeu­tung hat die Arbeit in meinem Leben? Wie gehe ich mit Arbeit um? Gelingt es mir, abzuschal­ten? Bin ich als Part­ner oder Eltern­teil tat­säch­lich präsent? Rekru­tiert sich mein Fre­un­deskreis nur noch aus beru­flichen Kon­tak­ten oder habe ich auch mit anderen Leuten zu tun? Lei­der kommt der Anstoß zur Reflex­ion häu­fig nicht von den Betrof­fe­nen selb­st, son­dern von der Fam­i­lie, Fre­un­den oder Kol­le­gen. Bei eini­gen Arbeitssüchti­gen muss es nicht sel­ten erst zu erhe­blichen gesund­heitlichen Beein­träch­ti­gun­gen kom­men, bevor sie ihr Arbeitsver­hal­ten reflektieren.
Was kommt nach der Selbsterkenntnis?
Pop­pel­reuter: Häu­fig ver­suchen Süchtige, ihre Prob­leme in Eigen­regie zu lösen. Das gelingt aber lei­der in den wenig­sten Fälle. Die näch­ste Möglichkeit ist dann, sich pro­fes­sionelle Hil­fe von außen zu holen. Coachs, Psy­cholo­gen oder Psy­chother­a­peuten kön­nen helfen, das uner­wün­schte Ver­hal­ten bess­er in den Griff zu bekom­men. Im Ver­gle­ich zu anderen Suchterkrankun­gen kann es bei der Arbeitssucht allerd­ings kein Absti­nen­zge­bot geben. Denn zum einen müssen wir arbeit­en, um unseren Leben­sun­ter­halt bestre­it­en zu kön­nen und zum anderen ist der pos­i­tive Nutzen von Arbeit für uns Men­schen unbe­strit­ten. Hier geht es also darum, ein kon­trol­liertes Arbeit­en zu ini­ti­ieren. Unter­stützung dabei bieten mit­tler­weile auch einige Dutzende Selb­sthil­fe­grup­pen, die sich in Deutsch­land gebildet haben und nach dem Prinzip der anony­men Alko­ho­lik­er arbeiten.
Existieren auch sta­tionäre Ange­bote für die Betroffenen?
Pop­pel­reuter: Ja, hierzu­lande gibt es einige psy­cho­so­ma­tis­chen Kliniken, die sich ein Stück weit auf diese Prob­lematik spezial­isiert haben. Einem sta­tionären Aufen­thalt schließt sich in der Regel eine lokale ambu­lante Weit­er­be­hand­lung an. Denn nach ein­er Auszeit von zwei bis drei Wochen in ein­er psy­cho­so­ma­tis­chen Klinik ist die Sucht noch nicht nach­haltig bewältigt.
Welche Präven­tion­s­maß­nah­men kön­nen Unternehmen ergreifen?
Pop­pel­reuter: Wichtig ist eine Unternehmen­skul­tur, die deut­lich macht, dass Leis­tung wichtig ist und entsprechend goutiert wird. Eben­so wichtig ist jedoch, dass Unternehmen die Arbeits­be­din­gun­gen so gestal­ten, dass Beschäftigte gesund und dem Betrieb langfristig erhal­ten bleiben. Sie kön­nen auf der einen Seite ver­hal­tenspräven­tive Maß­nah­men wie Stress­be­wäl­ti­gung, Ernährungs­ber­atung oder Sportkurse im Rah­men des betrieblichen Gesund­heits­man­age­ments anbi­eten. Darüber hin­aus kön­nen sie aber auch ver­hält­nis­präven­tiv wirken und beispiel­sweise für Erhol­ung und Entspan­nung am Arbeit­splatz sor­gen. In eini­gen Unternehmen spie­len die Beschäftigten in den Pausen zum Beispiel Kick­er oder kom­men in Restrooms zur Ruhe.
Wie soll­ten Unternehmen mit Über­stun­den umgehen?
Pop­pel­reuter: Über­stun­den soll­ten – wenn über­haupt – nur in einem bes­timmten Rah­men anfall­en. Manche Unternehmen leg­en die Arbeit­szeit genau fest – etwa von sieben bis 20 Uhr. Und alles, was davor oder danach stat­tfind­et, wird über­haupt nicht als Über­stunde gew­ertet. In eini­gen Fir­men existieren auch Arbeit­szeitkon­ten. Wer­den diese zum Beispiel um 20 Arbeitsstun­den unter­schrit­ten, find­en Gespräche zwis­chen den Mitar­beit­ern und ihren Führungskräften statt. Vorge­set­zte soll­ten aber auch dann inter­ve­nieren, wenn die Kon­ten ein Plus von 20 Stun­den verze­ich­nen. Hier kön­nen sie sich auf das Arbeit­szeit­ge­setz berufen, um auf die Beschäftigten einzuwirken. Übri­gens ist es ein Trugschluss, dass diejeni­gen, die Über­stun­den leis­ten, effizien­ter sind als jene, die pünk­tlich das Büro ver­lassen. Das gilt ins­beson­dere für Arbeitssüchtige.
Welche Rolle kommt den Führungskräften bei der Präven­tion zu?
Pop­pel­reuter: Führungskräfte müssen ein real­is­tis­ches Augen­maß für die Leis­tungs­fähigkeit ihrer Beschäftigten besitzen, damit es nicht zu einem über­fordern­den Führungsstil kommt. Außer­dem soll­ten sie auf die Work-Life-Bal­ance bes­timmter Team­mit­glieder acht­en. Ist diese sehr unaus­ge­wogen, emp­fiehlt sich eine entsprechende Ansprache wie man sie aus stof­fge­bun­de­nen Abhängigkeit­en ken­nt. In vie­len Betrieben existieren mit­tler­weile Betrieb­svere­in­barun­gen zum Umgang mit Suchtkranken. Vorge­set­zte müssen den Betrof­fe­nen deut­lich machen, dass ihr Arbeitsver­hal­ten den arbeitsver­traglichen Pflicht­en ent­ge­gen­wirkt und dass eine Ver­hal­tensän­derung erwartet wird. Wichtig ist auch die Vor­bild­funk­tion von Vorge­set­zten. Bei der Ein­führung von Betrieblichem Gesund­heits­man­age­ment stellen wir jedoch immer wieder fest, dass Führungskräfte nicht ger­ade leuch­t­ende Vor­bilder sind. Sie bewe­gen sich zu wenig, lei­den nicht sel­ten unter Übergewicht, rauchen, arbeit­en ohne Unter­lass und schick­en den Kol­le­gen zu unüblichen Zeit­en E‑Mails.
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