Beim Umgang mit Gefahrstoffen stehen die Gefährdungsbeurteilung und die Festlegung von Schutzmaßnahmen ganz im Vordergrund, denn es gilt, möglichst jedes Unfallereignis zu verhindern. Aber was ist, wenn es doch zu einem Unfall kommt? Die Vorbereitung auf den hoffentlich nicht eintretenden Ernstfall ist unverzichtbar. Auch wenn in Deutschland eine flächendeckende Versorgung mit Feuerwehr, Rettungsdienst und Notärzten besteht, bleibt der Unternehmer in der Pflicht, in seinem Verantwortungsbereich für die Erste Hilfe zu sorgen.
Erste-Hilfe nach Gefahrstoffunfällen: Material und mehr
Dazu gehört, dass die erforderlichen Einrichtungen und Sachmittel sowie das erforderliche Personal zur Ersten Hilfe und zur Rettung aus der Gefahr zur Verfügung stehen. Unternehmer haben dafür zu sorgen, dass Mittel zur Ersten Hilfe jederzeit schnell erreichbar und leicht zugänglich in geeigneten Behältnissen, gegen schädigende Einflüsse geschützt, in ausreichender Menge bereitgehalten sowie rechtzeitig ergänzt und erneuert werden (DGUV Vorschrift 1, § 25 Absatz 2). Konkretisiert wird diese Forderung in der zugehörigen DGUV Regel 100–001. Geeignetes Erste-Hilfe-Material enthalten zum Beispiel der kleine Verbandkasten nach DIN 13157 oder der große Verbandkasten nach DIN 13169.
Auf Grundlage einer Gefährdungsbeurteilung und in Abstimmung mit dem Betriebsarzt sind zudem zusätzliche Materialien der Ersten Hilfe vorzuhalten. Dazu zählen beispielsweise Arzneimittel, die bei einer Reizgasexposition eingesetzt werden können und zur Ersten Hilfe benötigt werden. Sicherheitsbeauftragte sollten ein Auge auf die Verbandkästen werfen und diese auf ihre Vollständigkeit hin prüfen. Sie werden aktiv, wenn Betriebsverbandskästen nicht aufgefüllt sind oder das Verfallsdatum für Erste Hilfe-Material abgelaufen ist. Jede Erste-Hilfe-Leistung wird dokumentiert und fünf Jahre lang verfügbar gehalten. Die Dokumente sind vertraulich zu behandeln (DGUV Vorschrift 1, § 24). Wenn sie mitbekommen, dass diese auch als „Verbandbucheintrag“ bekannte Dokumentation vernachlässigt wird, sollten Sicherheitsbeauftragte tätig werden.
Qualifikation der Ersthelfer
Beschäftigte werden in einem eintägigen Erste-Hilfe-Lehrgang zum betrieblichen Ersthelfer qualifiziert und müssen ihre Qualifikation jeweils innerhalb eines Zwei-Jahres-Zeitraumes durch ein Erste-Hilfe-Training auffrischen und erhalten. Sicherheitsbeauftragte sollten darauf achten, dass genügend Ersthelfer zur Verfügung stehen und die Aus- und Fortbildungen regelmäßig angeboten werden.
Unfälle, zum Beispiel infolge Einwirkens chemischer Stoffe, können zusätzliche Erste-Hilfe-Maßnahmen notwendig machen. Hierzu müssen Ersthelferinnen und Ersthelfer gegebenenfalls besonders qualifiziert werden, weil erweiterte Erste-Hilfe-Maßnahmen nicht Gegenstand der allgemeinen Aus- und Fortbildung in Erster Hilfe sind. Welche Maßnahmen den Ersthelfern oder Ersthelferinnen im Einzelfall beizubringen sind, ist betriebsärztlich unter Berücksichtigung der betrieblichen Gegebenheiten und anhand der Literatur und der einschlägigen Informationen der Unfallversicherungsträger in eigener Verantwortung zu entscheiden. Auf Grundlage dieser Kenntnisse sind Ersthelfer oder Ersthelferinnen gründlich weiterzubilden. Zu dieser Weiterbildung gehört zunächst die Unterrichtung über die Art und Wirkungsweise der Gefahrstoffe sowie Maßnahmen zum Selbstschutz bei der Hilfeleistung. Darüber hinaus sind die Maßnahmen zu vermitteln, die im Zusammenhang mit den betrieblichen Gefährdungen zu treffen sind (siehe Tabelle 1 für allgemeine Maßnahmen). Die Teilnahme an der Weiterbildungsmaßnahme sollte bescheinigt werden.
Erste Hilfe bei Augenverätzungen
Beim Unfallgeschehen „Augenverätzungen“ geht es zumeist um Kontaminationen mit Spül- oder Reinigungsmitteln, Seife oder Waschpulver. An zweiter Stelle sind Baustoffe wie Zement, Kalk, Gips, Mörtel, Beton die Auslöser, an dritter Stelle folgen Löse‑, Verdünnungs‑, Entfettungsmittel. Danach kommen Laugen, Säuren, Splitter, Staub und Kraftstoffe. Diese Erkenntnisse sind Ergebnis einer Auswertung der Unfallmeldungen aller Unfallversicherungsträger über einen Zehnjahreszeitraum. Sie können Sicherheitsbeauftragten einen Hinweis darauf geben, an welchen Gefahrstellen im Betrieb besondere Sorgfalt erforderlich ist und wo die Beschäftigten für die besondere Gefährdung zu sensibilisieren sind (Abbildung 1).
Spülen nach Kontamination
Spritzer auf Haut oder Kleidung, ein geplatztes Rohr mit einer Überschüttung, Gefahrstoff oder unbekannter Stoff? Erste und wichtigste Maßnahme ist das sofortige Abspülen des möglichen Gefahrstoffes mit viel Wasser. Im betrieblichen Bereich gibt es dazu Notduschen, das heißt Körper- und Augenduschen. Der Stand der Technik ist in den sogenannten Laborrichtlinien beschrieben, die in das technische Regelwerk als TRGS 526 „Laboratorien“ Eingang gefunden haben.
Und was ist mit den vielen ausgelobten Spülflüssigkeiten? Diese können eingesetzt werden, zusätzlich zu vorhandenen Notduschen oder wenn kein fließendes Trinkwasser beziehungsweise Wasser vergleichbarer Qualität vorhanden ist – oder wenn spezielle Mittel zur Dekontamination erforderlich werden. Allerdings gibt es keine Richtlinien zur Bewertung von Spülflüssigkeiten und das Unternehmen hat das Problem, die Wirksamkeit von Spülflüssigkeiten für die im Betrieb relevanten Gefahrstoffe einzuschätzen. Eine Arbeitsgruppe der Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie (BG RCI) hat sich deshalb bereits vor Jahren dieses Problems angenommen und eine Leitlinie zu dem Thema verfasst, in der die bewährten Standardmaßnahmen und die aktuellen Erkenntnisse berücksichtigt sind. Die Leitlinie „Anforderungen an Spülflüssigkeiten zur Ersten Hilfe“ kann online unter www.bgrci.de (Seiten ID #73MF) abgerufen werden. Es geht darin nur um die Maßnahmen der unmittelbaren Ersten Hilfe und nicht um die sekundäre Notfallversorgung beziehungsweise medizinische Behandlung.
Die „Goldene Minute“ nutzen
Oberste Priorität besitzt das sofortige Spülen mit viel Wasser! Es ist die „goldene Minute“: Die Zahl der Sekunden innerhalb der ersten Minute sind ganz entscheidend für die Minderung des Schadens, die Prognose, das Ausmaß der Vergiftung und mitunter auch entscheidend für das Leben der Verunfallten. Eine nur handtellergroße Verätzung mit Flusssäure kann tödlich sein!
Die Wasserspülung gewährleistet die schnelle Abführung von Reaktions- und Verdünnungswärmen durch einen hohen Volumenstrom und hohe Strömungsgeschwindigkeit. Helfer müssen den Selbstschutz beachten und sollen in den ersten Sekunden eines Notfalles nicht darüber nachdenken müssen, welche Spülflüssigkeit zum Einsatz kommen soll: Es wird mit Wasser gespült. Wasser ist in jedem Betrieb und jedem Haushalt in nahezu unendlicher Menge verfügbar. Die Effizienz der Wasserspülung wurde auch durch positive Erfahrungen im betrieblichen Bereich bestätigt.
Gifte und Gegengifte
Wer mit Gefahrstoffen umgeht, muss über deren Eigenschaften, Wirkungen, zu treffende Schutzmaßnahmen, Verhaltensweisen im Gefahrfall und mögliche Erste Hilfe informiert werden. Sicherheitsbeauftragte sollten die Mitarbeitenden motivieren, sich sicherheitsbewusst zu verhalten und zu handeln. Nach einem Gefahrstoffunfall sollten sie darauf achten, dass die Verletzten Erste-Hilfe-Leistungen auch in Anspruch nehmen, bis hin zur Vorstellung bei einem Durchgangsarzt.
Es gibt eine ganze Reihe von Empfehlungen, welche Vergiftungen mit welchen Gegenmitteln angegangen werden können. Viele dieser Empfehlungen bestehen bereits seit Jahrzehnten. Dies betrifft Maßnahmen zur Entfernung von gefährlichen Verunreinigungen (Dekontamination) sowie Maßnahmen der Gabe von Gegengiften (Antidota) gleichermaßen.
Hochgiftige chemische Stoffe können lebensbedrohliche Zustände auslösen. Als Gegenmittel gibt es zum Teil hochwirksame Substanzen, denen aber unter Umständen auch ein hohes eigenes Schädigungspotenzial anhaftet. Die Entscheidung, ob beziehungsweise welche speziellen Maßnahmen der Ersten Hilfe notwendig und sinnvoll und wie die Ersthelfer für die Durchführung der speziellen Maßnahmen zu qualifizieren sind, entscheidet der für den Betrieb zuständige Betriebsarzt im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung.
Sicherheitsbeauftragte sollten bei der Gefährdungsbeurteilung eingebunden sein. Sie können durch ihre Hinweise aus dem Tagesgeschehen bei der Aktualisierung und Ergänzung der Gefährdungsbeurteilung unterstützen.
Wirkung von Chlorgas
Auf dem Betriebsgelände ist ein Container in Brand geraten. Ursache ist die irrtümliche Vermischung zweier Stoffe, die eine heftige chemische Reaktion miteinander eingegangen sind. Der Behälter ist nicht fest verschlossen, sodass der aus der Reaktion entspringende Überdruck frei entweichen kann. Erste Messungen bestätigen das Freiwerden von Chlor und Brom.
Chlorgas ist ein Stoff mit besonderem Schädigungspotenzial. Er ist giftig beim Einatmen und reizt Augen und Atemwege. Trockene Haut ist gegen Chlorgas weniger empfindlich, auf feuchter Haut kann das Chlorgas aber ebenfalls zur Bildung hautschädigender Verbindungen reagieren. Die Geruchsschwelle ist niedrig. Der eigentümliche stechende Geruch hat Warncharakter, sodass man als Betroffener versuchen wird, das Einatmen zu vermeiden.
Kommt es aber dennoch zu einer akuten Exposition gegen Chlor, stehen die starke Reizung der Augen sowie der oberen und mittleren Atemwege und der Haut im Vordergrund. Typische Symptome der Vergiftung sind tränende Augen, die Reizung und Entzündung der Schleimhäute der Atemwege mit Hustenreiz und Husten, eine Verkrampfung der kleinen Atemwege mit Atemnot und Erstickungserscheinungen. Bei sehr hohen Konzentrationen kann Chlor ein toxisches Lungenödem verursachen; hierbei tritt Flüssigkeit in das Lungengewebe und in die Lungenbläschen aus, behindert den Gasaustausch und führt unbehandelt zum Ersticken. Vorsicht, das Lungenödem kann sich mit mehreren Stunden Verzögerung entwickeln!
Erste Hilfe bei Chlorgas-Kontamination
Welche Maßnahmen der Ersten Hilfe werden empfohlen? Schon bei dem Verdacht auf eine Gefährdung durch Chlor muss der Gefahrenbereich verlassen werden, Verunfallte sind unter Beachtung des Selbstschutzes zu retten. Hierzu kann die Benutzung von Schutzhandschuhen, Chemikalienschutzanzug bis hin zu umgebungsluftunabhängigen Atemschutzgeräten erforderlich sein.
Betroffene Körperstellen sind mit viel Wasser zu spülen. Nach den allgemeinen Maßnahmen der Ersten Hilfe sind die Verunfallten ärztlich zu versorgen, bei Augenverletzungen augenärztlich. Da die Gefahr der Lungenschädigung ganz im Vordergrund steht, richten sich die möglichen Behandlungsmaßnahmen insbesondere an der Atemwegssymptomatik aus. Hierzu können die Gabe von Glucocorticoiden und weitere Maßnahmen der Lungenödemprophylaxe gehören, diskutiert wird auch die frühe Inhalation von neutralisierenden Lösungen. Zur Behandlung von Reizhusten können Antihustenmittel verabreicht werden, bei einer Verkrampfung der kleinen Atemwege Medikamente, die die Verkrampfungen der Bronchialmuskulatur lösen. Jeder Intoxikationsverdacht sollte baldmöglichst klinisch abgeklärt werden.
Fachgerechter Transport
Nach einem Unfall hat der Unternehmer für einen fachgerechten Transport von Verletzten zu sorgen. Die Entscheidung über die Art des Kranken- beziehungsweise Rettungstransports ist unter anderem abhängig von Art, Umfang und Schwere der Verletzung oder Erkrankung, der möglichen Gehfähigkeit des Verletzten oder Erkrankten sowie der Länge der Beförderungstrecke. Der Transport muss nicht immer durch einen Rettungswagen erfolgen. Den Umständen im Einzelfall entsprechend können leicht Verletzte auch zu Fuß, mit öffentlichen Verkehrsmitteln, im Dienstfahrzeug oder Taxi zum Arzt befördert werden. Ausbildungsstand und Ausbildungsqualität der betrieblichen Ersthelfer sind entscheidend für eine entsprechende Empfehlung an den Unternehmer. Im Zweifelsfall ist immer die umfassendere Transportmaßnahme zu veranlassen.
Autor: Dr. Eckehard Droll
Kompetenz-Center Gesundheit-Medizin-Psychologie, Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie
Das können Sie als Sicherheitsbeauftragter tun
- Überprüfen Sie regelmäßig die Betriebsverbandkästen: Fehlt etwas oder ist das Verfallsdatum für Erste Hilfe-Material abgelaufen?
- Haben Sie ein Auge darauf, dass jeder Vorfall im „Verbandbuch“ dokumentiert wird.
- Achten Sie mit darauf, dass genügend Ersthelfer zur Verfügung stehen und regelmäßig Aus- und Fortbildungen angeboten werden.
- Nutzen Sie die Auswertungen der Unfallmeldungen durch die Unfallversicherungsträger, um zu erkennen, bei welchen Arbeiten besondere Sorgfalt erforderlich ist. Sensibilisieren Sie Ihre Kollegen für die besonderen Gefährdungen in Ihrem Betrieb!
- Nach einem Gefahrstoffunfall sollten Sie darauf achten, dass die Verletzten Erste-Hilfe-Leistungen in Anspruch nehmen und sich bei einem Durchgangsarzt vorstellen.
Allgemeine Erste-Hilfe-Maßnahmen
- Verletzte unter Beachtung der eigenen Sicherheit aus dem Gefahrenbereich retten
- bei lebensbedrohlichen Zuständen ist die übliche Notfallhilfe vorrangig (Beatmung, Herzdruckmassage)
- wenn die Atemwege betroffen sind: frische Luft beziehungsweise gegebenenfalls Sauerstoff
- bei Verdacht auf Aufnahme eines Giftes durch die Haut und bei Einwirken ätzender Stoffe auf die Haut: kontaminierte Kleidung entfernen, Haut ausgiebig mit Wasser spülen, gegebenenfalls Maßnahmen der Dekontamination
- bei Verschlucken: Verdünnen mit Wasser
- stets chemischen Stoff angeben und für ärztliche Hilfe sorgen
- gegebenenfalls spezifische Maßnahmen der Ersten Hilfe nach Festlegung durch den Betriebsarzt