Controlling ist „ein funktionsübergreifendes Steuerungskonzept mit der Aufgabe der ergebniszielorientierten Koordination von Planung, Kontrolle und Informationsversorgung“ (Horváth & Partners 2016, S. 2). Auswahl und Verwendung von Kennzahlen für die Unternehmensführung hängen ab von Aufgaben, Zielen und der Kultur der Führung: ihren Überzeugungen und Werten und der sie dabei unterstützenden Personen (Experten, Betriebsräten etc.).
Kennzahlen dienen nicht nur der Entscheidungsfindung und Zielverfolgung, sondern auch der Information der Stakeholder. Sie beeinflussen damit das Verhalten innerhalb und außerhalb von Unternehmen: der Mitglieder, Kunden, Zulieferer, Investoren, der Öffentlichkeit und der Politik. Sie sollen Auskunft geben nicht nur über die finanzielle Situation, sondern auch über den Zustand ihres Sozial- und Humanvermögens, dem Garant zukünftiger Erfolge.
Kennzahlen im Diskurs
Kennzahlen verdichten und filtern Informationen. Sie sind das Ergebnis selektiver Wahrnehmung der betrieblichen Realität und der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwelt. Sie unterliegen damit dem Risiko von Informationsverlusten und Fehleinschätzungen der tatsächlichen Lage.
Für Anhänger des Shareholder-Value-Konzepts liefern finanzielle Quartalsergebnisse hinreichend Informationen für ihre Kauf- oder Verkaufsoptionen. Sie glauben, das Verhalten von Mitarbeitern, Kunden und Konkurrenten lasse sich allein gestützt auf monetäre Größen vorhersagen (zum Beispiel Friedman 1970). Dieser Glaube ist durch die Finanzkrise am Beginn des Jahrhunderts erschüttert worden. Zahlreiche Wissenschaftler halten ihn heute für falsch und irreführend.
Soll das Marktgeschehen den Märkten überlassen werden? Wo sollte der Staat eingreifen? Diese Fragen sind und bleiben hoch kontrovers (zum Beispiel Kling, Schulz 2009; Bode 2018). Eher unumstritten ist dabei mittlerweile die Auffassung, immaterielle Unternehmenswerte wie die Qualität der Führung, der Unternehmenskultur und der horizontalen und vertikalen sozialen Beziehungen seien wichtig für den Unternehmenserfolg. Dies sollte dann aber auch stärker in Unternehmensentscheidungen und im Berichtswesen berücksichtig und es sollte das kurzfristige Erfolgsstreben durch nachhaltiges und verantwortungsbewusstes Handeln überwunden werden (zum Beispiel Kaplan und Norton, 1992; McDonald 2017).
Mit den MIT-Ökonomen Brynjolfson und McAfee wird hier die Auffassung vertreten, dass in einer digitalisierten Wirtschaft ureigene menschliche Fähigkeiten wie vertrauensvolle Kooperation und Kreativität und deren kulturelle Voraussetzungen mehr gefragt seien, weil zunehmend auch geistige Routinetätigkeiten an Maschinen delegiert werden. Daraus folgt, „dass wir auch unsere wirtschaftlichen Kennziffern erneuern müssen“ (ebd., S. 147).
Dieser Auffassung ist auch die Europäische Union. Das CSR-Richtlinien-Umsetzungsgesetzt zur EU-Richtlinie 2014/95/EU verpflichtet Kapitalgesellschaften mit mehr als 500 Mitarbeitern seit 2017 zu einer „nichtfinanziellen“ Erklärung mit Blick auf Umweltbelange, Arbeitnehmerbelange, Sozialbelange, die Achtung der Menschenrechte sowie die Bekämpfung von Korruption und Bestechung. Die Angaben zu Arbeitnehmerbelangen sollten dabei unter anderem Gesundheit und die Sicherheit am Arbeitsplatz berücksichtigen.
Wissenschaftliche Grundlagen und präskriptives Wissen
Als Mitglieder der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld 2006 vom Land NRW und der Europäischen Union den Auftrag erhielten, ein Controllingsystem für das BGM zu entwickeln, galt es, Neuland zu betreten – sowohl wissenschaftlich als auch praktisch. Im Rahmen der Auftragsklärung und der Aufarbeitung des wissenschaftlichen Erkenntnisstands wurde deutlich, dass dafür zwei aufeinander aufbauende Arbeitsschritte notwendig sind:
- Die Erarbeitung und Testung zentraler Hypothesen zum Zusammenhang zwischen dem Organisationsgeschehen („Treiber“) und sowohl gesundheitswissenschaftlich wie auch betriebswirtschaftlich relevanter „Früh- und Spätindikatoren“ (Grundlagenwissen).
- Die Entwicklung von Standards und Qualitätsmaßstäben zur Einrichtung und Betreibung des BGM in Unternehmen (präskriptives Wissen).
Die Bielefelder Wissenschaftler griffen dazu auf eigene sozialepidemiologische Vorarbeiten, auf Publikationen zum Sozialkapital und seiner empirischen Erfassung und auf neue Erkenntnisse aus der Neuroforschung zur sozialen Natur des Menschen zurück. Dies führte zum „Bielefelder Unternehmensmodell“ (siehe Kasten Seite 30) als Hypothesengerüst und, im Zuge unserer vergleichenden Unternehmensforschung zu konkreten Anhaltspunkten, dazu, welche betrieblichen Bedingungen die Gesundheit der Erwerbsbevölkerung beeinflussen und inwieweit dies zuverlässige Prognosen auch betriebswirtschaftlich relevanter Ergebnisse ermöglicht.
Unser zentraler Befund, mittlerweile bestätigt durch über 70 Organisationsdiagnosen, lautet: Die Kultur einer Organisation und die Sinnhaftigkeit der gestellten Aufgaben sind durch ihren Einfluss auf die intrinsische Motivation, auf Loyalität und Bindung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von elementarer Bedeutung für Gesundheit und Betriebsergebnis (Badura et al., 2017; Ehresmann, Badura, 2018). Übermäßiges Setzen auf Macht und Geld sind Gift für die Entwicklung vertrauensvoller Kooperation. Ohne verlässliche Daten zur Bindekraft und Gesundheit – bisher meist unsichtbare Qualitätsmerkmale einer Organisation – erfährt die Führung nichts Verlässliches über Auswirkungen ihrer Entscheidungen auf die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Mitglieder.
Das dazu durch Diagnostik und Intervention in zahlreichen Organisationen in allen Bereichen der Wirtschaft, inklusive öffentlicher Verwaltungen, gesammelte präskriptive Wissen lässt sich wie folgt zusammenfassen:
- Auf die Bindung kommt es an! Emotional gebundene Mitarbeiter, die sich mit ihrer Arbeit identifizieren, sind stressresistenter, flexibler, produktiver und qualitätsbewusster.
- In einer Kopfarbeitergesellschaft hat die psychische Gesundheit eine besondere Bedeutung für die Arbeitsfähigkeit und Arbeitsbereitschaft.
- Gesund arbeiten lässt sich nur unter gesundheitsförderlichen Organisationsbedingungen. Dazu zählen insbesondere: eine nachhaltige Führung, eine mitarbeiterorientierte Kultur und ein gutes Beziehungsklima.
- Die erlebte Sinnhaftigkeit der eigenen Aufgaben und Ziele ist mitentscheidend für Gesundheit und Qualitätsbewusstsein.
- Der Schwerpunkt im BGM sollte sich auf Schutz und Förderung der Gesundheit der Anwesenden konzentrieren – nicht allein auf Fehlzeitenbekämpfung.
Als Grundlage für die Kennzahlenentwicklung sollten betriebsinterne Routinedaten hinzugezogen werden, aber auch Daten aus – für die Erfassung immaterieller Faktoren unverzichtbaren – Mitarbeiterbefragungen. Aus den einschlägigen Standardwerken zum Thema Controlling (zum Beispiel Horváth & Partners, 2016) lassen sich folgende zu vermeidende Mängel an Kennzahlen auch für das Betriebliche Gesundheitsmanagement ableiten:
- Die Erfassung deskriptiver Einzelindikatoren, zum Beispiel Fehlzeiten, Unfallzahlen, freiwillige Fluktuation
- keine analytische Durchdringung möglicher (Kausal-)Zusammenhänge
- keine Verknüpfung mit Betriebsergebnissen (zum Beispiel Qualität, Produktivität)
- häufig verbunden mit keiner oder unpräziser Zieldefinition oder unterlassener Evaluation der Zielerreichung.
Damit Kennzahlen zum Thema Gesundheit auf der obersten Führungsebene Beachtung finden, sollten sie
- eine überschaubare Anzahl nicht überschreiten,
- evidenzbasierte Ursache-Wirkungszusammenhänge abbilden und
- den Beitrag des BGM zur Erreichung von Unternehmenszielen belegen.
Neue wissenschaftliche Erkenntnisse und der immer schnellere, schwer vorhersehbare Wandel in der Wirtschaft machen Auswahl und Diskussion geeigneter Kennzahlen im BGM zu einer Daueraufgabe.
Literatur
- Badura B., Greiner W., Rixgens P., Ueberle M., Behr M. (2008) Sozialkapital. Grundlagen von Gesundheit und Unternehmenserfolg. Springer, Berlin.
- Badura B., Greiner W., Rixgens P., Ueberle M., Behr M. (2013) Sozialkapital. Grundlagen von Gesundheit und Unternehmenserfolg (2. Aufl). Springer Gabler, Berlin Heidelberg.
- Badura B. (2017) Arbeit und Gesundheit im 21. Jahrhundert. In: Badura B. (Hrsg). Arbeit und Gesundheit im 21. Jahrhundert. Springer, Berlin Heidelberg, S 1–17.
- Bode T. (2018) Die Diktatur der Konzerne: wie globale Unternehmen uns schaden und die Demokratie zerstören. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
- Brynjolfsson E, McAfee A (2014) The second machine age. Wie die nächste digitale Revolution unser aller Leben verändern wird. Börsenmedien AG, Kulmbach
- Ehresmann C., Badura B. (2018). Sinnquellen in der Arbeitswelt und ihre Bedeutung für die Gesundheit. In: Badura B. et al. (Hrsg.). Fehlzeiten-Report 2018. Sinn erleben – Arbeit und Gesundheit. Springer, Berlin, Heidelberg,
S. 47–59 - Friedman M. (13.09.1970) „The Social Responsibility of Business is to Increase its Profits“. New York Times Magazine, S. 12.
- Horváth & Partners (Hrsg.) (2016) Das Controllingkonzept: Der Weg zu einem wirkungsvollen Controllingsystem (8. Aufl.). dtv Verlagsgesellschaft, München.
- Kaplan R. S., Norton D. P. (1992). In Search of Excellence–der Maßstab muß neu definiert werden. Harvard manager, 14(4), 37–46.
- Kling A., Schulz N. (2009) From poverty to prosperity: intangible assets, hidden liabilities and the lasting triumph over scarcity.
Encounter Books, New York. - McDonald D. (2017) The Golden Passport: Harvard Business School, the limits of capitalism, and the moral failure of the MBA elite. HarperCollins.
Autor: Prof. Dr. Bernhard Badura
Fakultät für Gesundheitswissenschaften,
Universität Bielefeld
Das Bielefelder Unternehmensmodell
Dieser Beitrag orientiert sich an dem Bielefelder Unternehmensmodell (Badura et al. 2008; 2013; 2017) mit drei Kategorien – wie die Bielefelder Wissenschaftler unterstellen – kausal verflochtener Kennzahlen: Treiberkennzahlen zu zentralen Arbeits- und Organisationsbedingungen (Sozialvermögen), Frühindikatoren zum Humanvermögen, insbesondere Gesundheit und Organisationsbindung und Spätindikatoren zu betriebswirtschaftlich relevanten Ergebnissen. Details zeigt die folgende Tabelle (Anm.: nur für Abonnenten, s. Sicherheitsingenieur 11/2018).