Fast die Hälfte der Beschäftigten sorgt sich laut Umfragen, ob sie es schaffen werden, bis zur Rente arbeitsfähig zu bleiben. Die Zahl ist erschreckend hoch und wirft die Frage auf: Was macht eigentlich langfristige Arbeitsfähigkeit aus? Wovon hängt es ab, ob eine Person bis zur Rente im Beruf bleiben kann oder aus gesundheitlichen Gründen früher ausscheiden muss?
Die Arbeitswissenschaft hat auf diese Fragen eindeutige Antworten gefunden: Die Arbeitspsychologin Prof. Dr. Frauke Jahn leitet die Abteilung Forschung und Beratung am Institut für Arbeit und Gesundheit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IAG) in Dresden. In mehreren Projekten mit über 100 Teilnehmenden aus der Pflege- und Baubranche sowie mit Reinigungskräften und Stahlarbeitern hat sie untersucht, was die Berufstätigen auszeichnet, die sich auch in besonders belastenden Berufen mit 45 plus im Beruf noch fit und gesund fühlen.
Faktoren für gesunde Berufsverläufe
Frauke Jahn fanden mit ihren Kollegen und Kolleginnen zwei zentrale Ansatzpunkte für langfristig gesunde Berufsverläufe: An erster Stelle stand ein großes, persönliches Gesundheitsbewusstsein: „Die Beschäftigten, die sich auch mit 45 noch fit fühlten, achteten im Alltag auf den Arbeitsschutz, nutzten beispielsweise Hebehilfen, und in ihrer Freizeit erholten sie sich“, erklärt die Arbeitspsychologin.
Im Gegensatz dazu war beispielsweise für die Bauarbeiter, die ab Mitte 40 unter körperlichen Beschwerden litten und deren Arbeitsfähigkeit in Gefahr war, typisch, dass sie wenig Rücksicht auf ihre Gesundheit nahmen. Sie arbeiteten beispielsweise auch am Wochenende am eigenen Haus, statt sich zu erholen. Die Bauarbeiter fanden Arbeitsschutz überdurchschnittlich häufig lästig und legten keinen besonderen Wert auf aktive Gesundheitsvorsorge.
Weiterentwicklung und Veränderung halten fit
Als zweiten wichtigen Gesundheitsfaktor erkannte Projektleiterin Frauke Jahn die Bereitschaft, den beruflichen Lebenslauf immer wieder neu zu justieren. „Der rechtzeitige Wechsel in andere Tätigkeiten oder in einen neuen Beruf kann eine Alternative sein“, erklärt Jahn. Ältere Beschäftigte, die sich durch gute Gesundheit auszeichneten, hatten sehr häufig bereits früh in ihrer Laufbahn Lerngelegenheiten ergriffen, sich beruflich weiterentwickelt und immer wieder verändert. Auf diese Weise vermieden sie zum einen einseitige Belastungen und erschlossen sich zum anderen immer wieder neue Tätigkeiten, häufig sogar auch neue Berufsfelder.
Beispiel eins: Krankenschwester
In der Praxis erklärt man den Unterschied am besten an Beispielen. Ein ungünstiges Beispiel: Jutta Klein, 40, ist seit 20 Jahren Krankenschwester. Schon länger spürt sie, dass die Nachtdienste immer anstrengender für sie werden. Durch die körperliche Belastung hat sie seit einigen Jahren Rückenprobleme. Nach zwei weiteren Bandscheibenvorfällen, rät ihr die Rentenkasse zur Umschulung zur Bürokauffrau. Klein ist unglücklich mit diesem neuen Beruf. Denn sie liebt die Arbeit mit Menschen und fühlt sich im Büro nicht wohl.
Beispiel zwei: Industriemechaniker
Ein günstiges Beispiel: Gerd Duffke begann mit 16 Jahren eine Lehre zum Industriemechaniker. Danach montierte er für seinen Arbeitgeber Maschinenstraßen in aller Welt. Doch mit Mitte 30 verließ ihn die Lust zu reisen und die körperlich schwere Arbeit verlor auch an Reiz. Duffke entschied sich, nicht weiter abzuwarten. Bei seinen älteren Kollegen hatte er gesehen, dass viele vorzeitig in den Ruhestand gingen. Das wollte er nicht. Mit 35 Jahren begann der deshalb eine Ausbildung zum staatlich geprüften Maschinenbauer. Damit öffnete sich für ihn die berufliche Laufbahn zum Ausbilder der Service-Techniker. Einige Jahre später übernahm er eine Position auf der Ebene des Personalmanagements, entwickelte Programme für ältere Beschäftigte. Duffke hat das in der Praxis umgesetzt, was Frauke Jahn allen Beschäftigten rät. Heute, mit 64 Jahren, ist er Personalentwickler bei seinem Arbeitgeber.
Von Arbeitgebern enttäuscht
Duffkes Firma ermöglichte diesen gesunden Berufsverlauf. Kleins Klinik-Arbeitgeber kümmerte sich nicht darum. „Nur eine Minderheit der Unternehmen führt spezifische und strukturierte Personalmaßnahmen durch, die Beschäftigte dabei unterstützen, auch in höherem Alter weiter gut im Beruf bestehen zu können“, sagt Götz Richter, Verantwortlicher für das Thema „Wandel der Arbeit“ in der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.
In Seminaren und Vorträgen zum Thema „Älterwerden im Beruf“ zeigt sich immer wieder: Viele Menschen jenseits der 50 sind von ihren Arbeitgebern enttäuscht. Man kennt alle Weiterbildungsangebote. Es gibt überhaupt wenig spezifische Angebote, die Ältere ansprechen. Die Führungskräfte trauen vor allem den Jüngeren Innovationskraft zu. Einer bringt es auf den Punkt: „Ich fühle mich nicht wie altes Eisen – aber das Umfeld behandelt mich so.“
Netzwerke in Unternehmen
In manchen Unternehmen haben deshalb die älteren Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen Netzwerke gegründet, die aufklären und neue Möglichkeiten schaffen möchten. Im Otto-Konzern gibt es zum Beispiel das Netzwerk „#experienced“, im Konzern Beiersdorf das Netzwerk „New Generation 50+“. Zu häufig belege man die Generation 50 plus mit den immer gleichen Vorurteilen – zu unflexibel, schlechter motiviert, technisch wenig affin, beschreibt Beiersdorf-Mitarbeiter und Netzwerk-Initiator Peter-Klaus Mikulla die Situation. „Haltbar ist das in der Regel nicht“, weiß der Distributions-Spezialist und ergänzt: „An der Auflösung solcher Mythen wollen wir arbeiten. Jemand mit Erfahrung wünscht sich Perspektiven genauso wie jüngere Kollegen und Kolleginnen.“
Lernfähigkeit nimmt nicht ab
Aufklärung tut tatsächlich not. Denn die Ansicht, dass Beschäftigte mit dem Alter leistungsschwächer werden und insofern für das Unternehmen an Wert verlieren, ist längst widerlegt. Natürlich gibt es Alterungsprozesse: Die Reaktionsgeschwindigkeit nimmt ab, ebenso das Lerntempo und das Kurzzeitgedächtnis. Für Menschen jenseits der 50 sind aus diesen Gründen Nachtschichten in der Regel besonders anstrengend. Jedoch nehmen weder Lernfähigkeit an sich noch Konzentrationsfähigkeit bis zum Rentenalter ab. Ältere brauchen einfach nur ein paar mehr Pausen zwischen den Arbeitseinheiten. Und sie lernen sehr viel leichter und lieber, wenn der Lernstoff direkt an das bestehende Wissen anknüpft. Lernen nur um des Lernens willen, interessiert tatsächlich weniger. Aber dies ist in der Regel im Unternehmen ja auch nicht gefragt. Es geht um anwendbares Wissen.
Stärken von älteren Beschäftigten
Der große Vorteil der erfahrenen Beschäftigten – der vieles wett macht, was die Biologie an Alterungsprozessen vorgibt – ist indes: Ältere machen in der Regel weniger Fehler als Jüngere. Sie können aufgrund ihrer Erfahrung sehr gut Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden. Und sowohl komplexe Arbeiten als auch komplexe Beziehungen und das Sprechen über die Arbeit meistern sie häufig mit großer Souveränität.
Hier bringt ihnen die langjährige Erfahrung Vorteile. Zum anderen blühen manche Gedächtnisfunktionen erst mit den Jahren richtig auf, wie die Seattle Longitudinal Study zeigt. Sie untersucht seit 1956 die kognitive Entwicklung Erwachsener: Wortschatz, räumliches Vorstellungsvermögen und das Erkennen von Gesetzmäßigkeiten funktionieren mit Ende 50 besser als mit 25. In Projektplanung, Konzeptentwicklung und häufig auch im Kundenkontakt sind ältere Beschäftigte deshalb oftmals die Idealbesetzung.
Potenziale nicht verkümmern lassen
Bleibt die Frage, wie man Beschäftigte dazu motiviert, solch moderne Lebensläufe zu gestalten und sich mutig Neues zuzutrauen. Natürlich hat der Einzelne hier Verantwortung. Die persönliche Gesundheitsvorsorge ist beispielsweise eine wichtige Säule für langfristige Arbeitsfähigkeit. Aber dem Unternehmen kommt eine Schlüsselposition zu, denn es geht auch darum, den Menschen attraktive Möglichkeiten zu bieten. Der Wirtschaftspsychologe Jürgen Deller von der Leuphana Universität Lüneburg bezeichnet deshalb die Arbeitsbedingungen als die wichtigste Stellschraube, damit Beschäftigte gesund und motiviert bis zur Rente kommen. Er hat den „Later Life Work Index“ entwickelt, einen Online-Fragebogen, der alle Facetten rund um altersgerechte Arbeit und demografiefreundliche Unternehmenskultur abfragt. Laut seinen Erkenntnissen zerstören viele Firmen vor allem unwissentlich das Potenzial ihrer Belegschaft. Schlicht, indem sie nichts tun, alles beim Alten lassen. „Das Betriebspanel des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zeigt hingegen, dass Firmen, die altersspezifische Personalmaßnahmen einführen, mit einer alternden Belegschaft produktiver werden als sie vorher waren“, so Deller. Das verdeutlicht: Ein Umdenken lohnt sich. Und zwar für alle Beschäftigten.
Autorin: Carola Kleinschmidt
Diplombiologin, Autorin, zertifizierte Trainerin
Die Voreinstellung beeinflusst die Leistung
Im Jahr 2015 zeigte ein Experiment von Psychologinnen der Deutschen Sporthochschule Köln, wie sehr die Vorurteile rund um das Altern die Potenziale der Älteren blockieren: Die Forscherinnen baten 40 Lagerarbeiter, die älter als 50 Jahre waren, vor einer Aufgabe eine Art Wörterpuzzle zu lösen. Im Puzzle der einen Gruppe fanden sich viele positive Altersstereotype wie weise, aktiv oder erfahren, im Puzzle der anderen Gruppe negative Stereotype wie langsam oder gebrechlich. In der Aufgabe sollten nun beide Gruppen möglichst flott die Inhalte von Paketen mit einer Packliste überprüfen. Das Ergebnis: Die Gruppe, die vorher positive Zuweisungen ans Alter gelesen hatte, packte messbar schneller als die Vergleichsgruppe mit dem negativen Wörterpuzzle. Die Erklärung der Psychologinnen: Worte aktivieren ganze Nervennetze im Gehirn. Und diese „Voreinstellung“ unserer Gedanken – auch Priming genannt – wirkt sich stark auf unser Selbstvertrauen und letztlich auch auf die tatsächliche Leistung aus. Fazit der Forscherinnen: In einer Arbeitsumgebung, die älteren Menschen viel zutraut, steigt vermutlich die Leistungskraft.
Berufliche Veränderung: So gelingt es
Arbeitspsychologin Frauke Jahn hat aus ihren Studien einige Eckpunkte herausgearbeitet, die das Gelingen gesunder Berufsverläufe fördern:
- Eigeninitiative: Beschäftigte sollten selbst die Augen nach Entwicklungsmöglichkeiten aufhalten, ihre Interessen immer wieder neu justieren.
- Persönliche Flexibilität: Wer sich verändert, muss sich auch für Neues öffnen.
- Lernchancen: Lernen als Lebenselixier zu begreifen, macht vieles leichter.
- Zusatzqualifikationen: Wenn sich die Möglichkeit bietet, sollte man sich um Zertifikate für seine berufliche Entwicklung kümmern.
- Akzeptieren vorübergehender Nachteile: Eine gewisse Frustrationstoleranz ist unverzichtbar. Gerade bei größeren Wechseln kann sogar eine Gehaltseinbuße möglich sein.
- Unterstützung im Unternehmen: Führungspersonen und Personaler sollten Beschäftigte in Veränderungen unterstützen. Betriebsärzte sollten ein offenes Ohr und Auge für mögliche Beschwerden durch einseitige Dauerbelastung haben.
- Unterstützung durch Familie und Freunde: Die Familie ist eine wichtige Kraftquelle in Zeiten des Wandels.
Tipps und Anregungen
- Broschüre: Praxistipps für das Arbeitsleben „Neue Wege bis 67 – in der Produktion bis zur Rente / in der Dienstleistung bis zur Rente“ unter www.hk24.de (Suchwort „Neue Wege bis 67“)
- Fachbuch: Hans-Georg Willmann „Durchstarten mit 50 plus“, Campus 2018
- Online-Kurs: „Berufliche Entwicklung für ältere Beschäftigte“ unter www.dein-gutes-jahr.de/online-kurse/aus-dem-vollen-schoepfen