Herr Roenneberg, am 25. März wird die Zeit umgestellt…
Es gibt keine Zeitumstellung. Es gibt auch keine Winterzeit, denn das ist die normale Zonenzeit. Irgendjemand hat mal beschlossen, dass wir ab einem bestimmten Zeitpunkt im Jahr eine Stunde früher zur Arbeit gehen sollen. Wenn Sie diesen Beschluss so in die Bevölkerung tragen würden, hätten Sie ein Riesenproblem – es würden nämlich alle sagen: „Ihr spinnt!“
Das ist also ein großer Unsinn?
Es ist ein ausgesprochener Unsinn! Wir gehen alle ab Ende März eine Stunde früher zur Arbeit. Dabei müssen wir in der sogenannten Winterzeit, also der normalen Zonenzeit, aufgrund unserer modernen Lebensweise schon viel zu früh in die Arbeit gehen. Damit die Menschen das nicht so mitkriegen und dagegen protestieren, stellen wir die Uhren auch noch um.
Die Uhren lügen uns an – und zwar auf zweifache Weise. Die eine ist noch akzeptabel, weil alles andere nicht praktikabel wäre, die zweite ist nicht akzeptabel. Die erste ist, dass es in Köln oder in Heidelberg eine andere Sonnenzeit hat als in München oder Prag und trotzdem zeigt die Uhr dieselbe Zeit. Die zweite ist, dass die Uhr von Ende März bis Ende Oktober sieben Uhr morgens anzeigt, aber es ist eigentlich sechs. Das heißt, sie lügt um eine ganze Stunde.
Die Uhr ist ein künstlicher, von Menschen gemachter Taktgeber – um sich verbreden zu können, um Arbeit zu organisieren, um sich selbst zu organisieren. Ohne sie geht es nicht mehr.
Wir haben uns auch früher schon verabreden können, bevor wir eine Uhr am Armband hatten – nach Sonnenzeit. Da haben wir gesagt, wir treffen uns zu Mittag und jeder wusste, wann das ist.
Das heißt, wir haben uns von den natürlichen Taktgebern entfernt.
Richtig, aber wir haben eine Biologie, die nur auf die natürlichen Taktgeber hört. Einschlafen und Aufwachen sind ja keine Rituale, sondern biologische Prozesse. Das sehen Sie auch an den verschiedenen Schlaftypen: Ein Frühtyp schläft abends vor dem spannendsten Krimi ein – weil ihm das seine Biologie diktiert. Jeder, der einen Wecker braucht, um aufzuwachen, hat biologisch gesehen noch nicht zu Ende geschlafen. Damit wir nach der Zwangsumstellung ausreichend Schlaf bekommen, müssten wir eine Stunde früher schlafen, obwohl unsere innere Uhr noch gar nicht so weit ist. Als Folge bekommen fast alle Menschen chronisch zu wenig Schlaf. Vom gesunden Schlaf hängt jedoch unsere Gesundheit ab. Die Sommerzeitumstellung wird damit langfristig zur teuersten Handhabung in unserer modernen Gesellschaft.
Inwiefern ist dies so gravierend?
Unsere biologische Uhr wohnt in ihrer eigenen Zeitzone, die von Mensch zu Mensch verschieden sein kann. Auf Grund von Lichtmangel am Tag und zu viel Licht in der Nacht ist unsere biologische Zeit gegenüber der sozialen Zeit bereits vor der Sommerzeitumstellung zu spät dran. Durch sie wird dann dieser Unterschied um eine weitere Stunde vergrößert. Jede Stunde Unterschied zwischen Innen- und Außenzeit erhöht die Chance, dass wir krank werden. Das Risiko für alle Stoffwechselkrankheiten, wie Diabetes und Fettleibigkeit, wird höher. Wir haben vermehrt Konzentrationsprobleme, neigen mehr zu Depression und entwickeln Schlafprobleme.
Wie können wir besser damit klarkommen?
Empfehlungen geben ist nicht wirklich im Sinne der Gesundheit, da diese verhindern, dass sich etwas ändert. Die Leute müssen aufwachen und sich dafür einsetzen, dass dieser Unsinn aufhört.
Natürlich kann man Betroffenen raten, sich so viel Draußenlicht wie möglich nach Sonnenaufgang auszusetzen und sich so wenig Licht, vor allen Dingen so wenig Blaulicht wie möglich, nach Sonnenuntergang. Das heißt, keine herkömmlichen Fernseher, Computer oder Tablets mehr, kein Weißlicht mehr, sondern nur noch orange Lichtquellen. Wir müssten zurück zu den Zeiten vor dem elektrischen Licht, so wie wir es beim Zelten erleben. Ich halte diese Lebensweise im 21. Jahrhundert nicht mehr für möglich, daher müssen wir andere Wege gehen.
Unsere Gesellschaft möchte für 24 Stunden am Tag als Global Player unterwegs sein und führt hierzu sogar Schichtarbeit ein. Dennoch sollen die meisten von uns zu einer bestimmten Zeit gemeinsam zur Arbeit erscheinen – von diesem Prinzip müssen wir uns verabschieden. Wir müssen alle Arbeitszeiten flexibilisieren.
Als Arbeitgeber halte ich meine Mitarbeiter dazu an, keinen Wecker zu benutzen, sondern dann ins Institut zu kommen, wenn sie von alleine aufgewacht sind. Das ist nicht reines Wohlwollen, sondern Egoismus. Ich möchte von meinen Mitarbeitern Arbeit in ihrer besten Tageszeit nach einer optimalen Nacht. Damit erhöhe ich die Produktivität und senke den Krankenstand, das sollte im Sinne aller Arbeitgeber sein!
Problematische Arbeitszeiten haben vor allem die Schichtarbeiter: Gibt es hier Verbesserungsansätze?
Wir haben in der Stahlindustrie ein ganz einfaches Experiment gemacht. Wir haben das Schichtsystem genommen, wie es in dem Unternehmen existierte, die Schichtzeiten, die Anzahl der Leute, die in den Schichten sein mussten. Und haben dann die Belegschaft chronotypisiert, das heißt, wir haben bestimmt, wo ihre Innenzeit liegt, ihre individuelle biologische Zeitzone. Und dann haben wir die Belegschaft neu eingeteilt, so dass extreme Frühtypen keine Nachtschicht mehr machen müssen und diese extremen Spättypen keine Frühschicht.
Das Ergebnis dieser einfachen Umstellung war, dass die Schichtarbeiter eine Stunde pro Arbeitstag länger geschlafen haben – das sind fünf Stunden pro Woche. Darüber hinaus mussten sie auch eine Stunde weniger von ihrer Freizeit für Nachschlafen opfern. Die Lösung liegt nicht im Zwingen, sondern im Lassen.
Wenn das so gut funktioniert, müsste die Industrie doch ein großes Interesse an solchen Lösungen haben.
Das hat sie auch zunehmend. Aber Sie müssen bedenken, dass Systeme sehr träge sind. Wie in der Evolution müssen neue Ideen lange kämpfen, bis sie sich durchsetzen. Es hat etwas gedauert, bis ich eingesehen habe, dass das gut ist – denn es kann nicht sein, dass irgendein Professor von irgendeiner Universität etwas äußert und die Gesellschaft setzt es sogleich um.
Es gibt noch ein Stichwort: Künstlich erzeugtes biologisch wirksames Licht. Wie stehen Sie dazu?
Die innere Uhr hört am meisten auf Blaulicht: Licht mit vielen Blauanteilen ist für die innere Uhr Tag. In Räumen haben wir Licht mit 200 bis 400 Lux, draußen an regnerischen Tagen gibt es 10.000, an schönen Tagen über 100.000 Lux, das ist ein Riesenunterschied. Diese Werte können wir in Räumen nicht erreichen. Aber ich kann spektral dafür sorgen, dass am Arbeitsplatz – nicht in einer Schichtarbeiterfabrik, da ist ein Eingriff wesentlich komplizierter – also in einem Büro, in dem tagsüber gearbeitet wird, kann ich das Signal, das wir der inneren Uhr geben müssen, verstärken, indem ich Blauanteile von Sonnenaufgang bis ‑untergang gebe und keine Blauanteile nach Sonnenuntergang.
Diese Art Licht gibt es bereits auf dem Markt. Viele Unternehmen führen zudem flexible Arbeitszeiten ein – natürlich auch, um Mitarbeiter zu binden. Aber die Richtung stimmt, oder?
Ich sehe da schon Bewegung. Doch derzeit ist es noch eher so: Es gibt in manchen Betrieben einen Zwang, bestimmte Stiefel zu tragen, säureresistente oder elektrisch nicht leitfähige oder solche mit Stahlkappen. Diese Schuhe muss der Arbeitgeber zur Verfügung stellen. Das derzeitige biologische Zeitmanagement beachtet die individuellen Notwendigkeiten nicht, so als ob der Arbeitgeber Arbeitsstiefel nur in einer Größe zur Verfügung stellt und sich hinterher wundert, dass viele nicht mehr gut arbeiten können, weil sie vor Blasen an den Füßen kaum laufen können.
Es bleibt also noch einiges zu tun. Vielen Dank für das Gespräch!
Prof. Dr. Till Roenneberg
Till Roenneberg (geboren 1953) ist Professor für Chronobiologie und stellvertretener Direktor am Institut für Medizinische Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er studierte Biologie an der Universität München und dem University College London und arbeitete mehrere Jahre an der Harvard University. Roennebergs Hauptforschungsgebiet ist die Funktion der „inneren Uhr“ beim Menschen und deren Einfluss auf Schlaf, Aktivität, Leistungsfähigkeit und Lernen.