In der Fertigungsstraße am Standort Friedrichshafen, in der Lkw- und Bus-Getriebe für namhafte Hersteller montiert werden, läuft alles voll- oder halbautomatisch ab. Kein Mitarbeiter muss hier mehr schwer heben, die bis 370 Kilogramm schweren Getriebe richtig positionieren oder wegen Lärmbelastung Ohrenstöpsel tragen. Dies haben die Beschäftigten einem wegweisenden und innovativen Projekt zu verdanken, das im Jahr 2012 umgesetzt wurde. Dafür kooperierte das Unternehmen, das heute Systeme für die Mobilität von Pkw, Nutzfahrzeugen und Industrietechnik liefert, mit dem renommierten Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO), um in den Montagehallen ein neues Zeitalter einzuläuten. Das Projekt mit Namen „M3 – Markt und mitarbeitergerechte Montage“ richtete dabei den Fokus sowohl auf die Arbeitsorganisation als auch die Arbeitsbedingungen im Unternehmen.
Anlass für die Durchführung des „M3“-Projekts waren ein verändertes Produktportfolio und eine flexiblere Nachfragesituation bei dem Technologiekonzern. Dies erforderte eine Ausweitung der Produktionskapazität sowie eine Neugestaltung der Arbeitsabläufe wie auch der Montageeinrichtungen. Dem Unternehmen bot sich dabei gleichzeitig die Gelegenheit, die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter zu verbessern, wobei besonders die Anforderungen für ältere Beschäftigte berücksichtigt werden sollten. „M3“ sollte daher den Grundstein für die Gestaltung des demografischen Wandels mit immer älter werdenden Belegschaften legen.
Ziele des Projekts
Ziel des Projekts in Hinsicht auf den Arbeits- und Gesundheitsschutz war es, mithilfe einer präventiven Arbeitsgestaltung tätigkeitsbedingte Leistungseinschränkungen der Mitarbeiter deutlich zu reduzieren oder sogar ganz zu verhindern. Die Projektträger waren sich darüber einig, dass die körperliche Leistungsfähigkeit und das gesundheitliche Befinden eines jeden Montagemitarbeiters im direkten Zusammenhang mit der Gestaltung des Arbeitsplatzes, der Arbeitsinhalte und der Arbeitsumgebung stehen. Durch ergonomisch gestaltete Montagesysteme sollten frühzeitiger Ermüdung und einseitiger Körperbelastung vorgebeugt und damit zugleich arbeitsbedingtem Verschleiß und potenzieller Leistungsminderung im Alter entgegengewirkt werden.
Arbeitswissenschaftler helfen
Bei der Planung und Gestaltung der zukünftigen Montagesysteme profitierte das Unternehmen von der Kompetenz des Fraunhofer IAO, einem führenden arbeitswissenschaftlichen Institut. Projektmotto war die „Hilfe zur Selbsthilfe“. So erarbeiteten Wissenschaftler des Fraunhofer IAO die methodischen und instrumentellen Grundlagen, die die Arbeitsplaner von ZF in die Lage versetzten, Fragen zu Ergonomie, Arbeitspsychologie und Arbeitsstrukturierung fortan eigenständig zu lösen. Dies ging mit Schulungsmaßnahmen für die diejenigen Mitarbeiter von ZF einher, die im Rahmen des Projekts für die Planung der Veränderungsmaßnahmen zuständig waren.
Was war an diesem Projekt besonders? Einer der am Projekt beteiligten IAO-Experten, Dr. Martin Braun, erklärt: „Hier würde ich gleich zwei Punkte nennen. Zunächst wurden bei diesem Projekt nicht nur die Geschäfts- und Produktionsleitung, sondern ebenso die gesamte Belegschaft in der Montage und der Betriebsrat eingebunden und gemeinsam Ziele formuliert. Weiterhin haben wir gleich in mehreren Punkten unterschiedliche Bereiche und Themen, die bis dahin zumeist nur einzeln betrachtet wurden, miteinander verbunden.“ Dem Projektteam, so Braun weiter, ging es dabei um Antworten auf folgende Fragen: Wie kann man die wirtschaftliche Effizienz steigern, indem man die Leistungsvoraussetzungen der Montagearbeiter durch sichere und gesunde Arbeitsbedingungen fördert? Wie lässt sich hinsichtlich der Neuausrichtung von Arbeitsprozessen und Montageeinrichtungen die ergonomische Gestaltung der Arbeitsplätze verbessern? Und schließlich: Wie lassen sich mit der neuen Gestaltung der Montage sowohl körperliche als auch psychische Belastungen ausgleichen und arbeitsbedingte Beeinträchtigungen reduzieren?
Ablauf des Projekts
„M3“ erfolgte über einen Zeitraum von drei Monaten durch ein gemeinsames Expertenteam der beiden Projektträger. In Stufe 1 wurde zunächst die Ist-Situation in den Montagebändern des Werks analysiert. Hierfür wurden auch die Mitarbeiter befragt und die Arbeitsplatzanalysen sowie Gefährdungsbeurteilungen der vorangegangenen Jahre ausgewertet. In Stufe 2 wurden unterschiedliche Gestaltungsszenarien entwickelt und auf ihre jeweilige Wirksamkeit hin bewertet. Hieraus entstanden die sogenannten „Planungsgrundsätze für die Getriebemontage“, die vom Betriebsrat und der Produktionsleitung als umsetzungswürdig beurteilt wurden. Eine Herausforderung bestand darin, diese Grundsätze möglichst wirksam in das bestehende Produktionssystem des Unternehmens einzufügen.
Ergonomische Gestaltung
Die Ausgangssituation der Arbeitsplätze im Montagesystem zeichnete sich durch eine gewachsene Vielfalt an Arbeitsvorrichtungen aus, die dort über die Jahre schrittweise installiert wurden. Dies begünstigte unter anderem räumliche Engstellen, unangemessene Greifbedingungen oder eine Stoßgefahr an abhängenden Schraubvorrichtungen. Gravierende Risiken waren zwar bereits im Vorfeld des Projekts erkannt und beseitigt worden, dennoch war sich das Projektteam schnell einig, dass vor allem die Bewegungsabläufe der Beschäftigten am Montageband besser mit den Arbeitsprozessen in Einklang gebracht werden müssen. Als Problembereiche wurden identifiziert: Gebeugte Körperhaltung, ungünstige Kraftausbringung, Stolper- und Sturzgefahr an Transportwagen, ungünstig dimensionierte Wirkräume sowie Über-Kopf-Anordnung von Arbeitsmitteln, welche die Leistungsfähigkeit der Beschäftigten einschränkten. Umgesetzt wurden schließlich folgende Maßnahmen:
- An den Arbeitsplätzen und den Verkehrswegen wurden für die Beschäftigten ausreichend große Bewegungsfreiräume vorgesehen.
- Greifräume und Sichtbedingungen an den Arbeitsplätzen wurden an die Bewegungsabläufe und Körpermaße der Beschäftigten angepasst. Hierbei wurde insbesondere auf eine Anordnung von Werkzeugen und Steuergeräten über Schulterhöhe weitgehend verzichtet.
- Die Lastenhandhabung (Heben, Tragen, Schieben, Ziehen von Lasten) wurde durch konsequenten Einsatz von Lastenmanipulatoren und Fördereinrichtungen optimiert.
- Durch die Umstellung der Logistik-Prozesse in den Montagehallen wurde das vorwiegend manuell ausgeführte Umsetzen von Teilen (beispielsweise in kleinvolumige Bereitstellungsbehälter) auf ein notwendiges Minimum reduziert.
- Durch die konsequente Trennung der Wege für Transportfahrzeuge und Fußgänger sollten Unfälle deutlich reduziert werden.
Die Unfallreduzierung beziehungsweise ‑vermeidung sollte aber nicht nur durch letztgenannten Punkt erreicht werden. Martin Braun vom IAO: „Risiken für Stoßen und Quetschen bestanden im Ursprungszustand vor allem bei herabhängenden Arbeitsmitteln, beispielsweise Schrauber mit Zugeinrichtung, sowie bei Höhenunterschieden am beweglichen Montageband. Durch eine verbesserte Aufhängung von Arbeitsmitteln und ein barrierefreies Montageband wurden diese Risiken minimiert.“
Jobrotation und psychische Gesundheit
Gesunde und motivierte Beschäftigte lassen sich laut Überzeugung des Projektteams flexibler an diversen Arbeitsplätzen innerhalb des Montagesystems einsetzen. Daher war es ein weiteres Ziel der Reorganisation der Arbeitsprozesse, eine Jobrotation einzuführen, die zudem die Arbeitsmotivation sowie den Qualifizierungswillen der Beschäftigten stärkt. Es stand für das Projektteam außer Frage, dass Zykluszeiten, die kürzer als zehn Minuten sind, mit unerwünschten Effekten einhergehen: Sie begünstigen das Gefühl der Unterforderung und verstärken das Monotonie-Erleben – beides Risikofaktoren für die psychische Gesundheit.
Vor diesem Hintergrund wurde ein Szenario für die Reorganisation der Montage entworfen, bei dem eine baugruppenorientierte Prozessintegration in der Vor- und Endmontage mit einer Rotation über anforderungsverschiedene Tätigkeiten (Feinlogistik, Kommissionieren, Vormontage, Bandmontage) verbunden werden sollte. Zwei Fließbänder sollten dazu durch ein multioptionales Fließband ersetzt werden. Ein solches System würde laut Überzeugung der Projektträger die psychische Gefährdung deutlich minimieren sowie die Lernfähigkeit und Qualifikationen erhalten, die bei Nichtnutzung in Vergessenheit zu geraten drohen.
Projekt gewinnt Exzellenz Award
Das oben beschriebene Montageszenario wurde in Werk 2 von ZF eingeführt. Hinsichtlich der Ergonomie erfolgte eine 1:1‑Umsetzung der Planungsgrundsätze in die betriebliche Praxis. Bis zu fünf Mal am Tag wechseln die Beschäftigten ihren Arbeitsplatz, zumindest einmal ist Pflicht. An jedem Arbeitsplatz können die Arbeitnehmer auf Monitoren kurze Video-Handlungsanleitungen anschauen, die zeigen, wie die Arbeit sicher und richtig durchgeführt werden muss. Dass dieses Projekt schon nach wenigen Jahren deutliche Erfolge zeigte, bewies der Sieg des Unternehmens beim prestigeträchtigen Demografie Exzellenz Award Baden-Württemberg im Jahr 2014, als ZF in der Kategorie „Unternehmen größer als 500 Mitarbeiter“ gewann und die Jury „mit der Gestaltung von markt- und mitarbeitergerechten Montageabläufen“ überzeugte.
„Das Montageszenario war neben dem Produktionssystem die Grundlage für die technische Ausgestaltung der Montagelinie. Vom Projektteam mussten für dieses anspruchsvolle Szenario viele neue Ansätze entwickelt und umgesetzt werden“, erinnert sich M3-Projektleiter Günther Stauber. „Dies führte zu technischen Innovationen wie das Antriebssystem oder die computergestützte Werker-Assistenz, die heute weltweit bei ZF im Einsatz sind.“
Ambitionierte Folgemaßnahmen
„M3“ war zudem Startschuss für eine ganze Reihe anderer ambitionierter Maßnahmen. In Zeiten einer alternden Belegschaft haben ergonomische und altersgerechte Arbeitsplätze höchste Priorität im Konzern. So hat ZF sich zum Ziel gesetzt, innerhalb der kommenden zwei Jahre weltweit alle „roten“ Arbeitsplätze, die noch mit höheren ergonomischen Risiken belegt sind, deutlich zu optimieren. Des Weiteren soll der Anteil der Arbeitsplätze mit einem mittleren ergonomischen Verbesserungspotenzial bis 2025 zu mindestens 90 Prozent in den „grünen Bereich“ überführt werden. Ein weltweit eingesetztes Tool zur ergonomischen Risikobewertung stellt die Vergleichbarkeit der Ergebnisse sicher. Dieter Lexen, Leiter Arbeitssicherheit der ZF Group, erklärt: „Unser Unternehmen legt großen Wert auf die ergonomische Gestaltung der Arbeitsplätze. Insbesondere unsere deutschen Standorte wenden bereits seit Jahrzehnten Leitmerkmal-Methoden an und haben Ergonomie-Kriterien bereits früh erfolgreich in Lean Production-Systeme zur mitarbeitergerechten Montage und in altersgerechte Produktionssysteme integriert. Bei ZF ging dadurch der Anteil ergonomiebedingter Ausfalltage in den vergangenen zehn Jahren signifikant zurück.“
Ergonomie-Schulungen eingeführt
Um eine Ergonomiebewertung auch ohne Spezialwissen möglich zu machen, hat ZF ein digitales Lern- und Analysetool eingeführt. Nach verschiedenen Online-Lernmodulen mit einer Gesamtdauer von sechs Stunden und einem zweitägigen Praxisworkshop sind Fertigungsplaner, Führungskräfte und Sicherheitsfachkräfte in der Lage, Arbeitsplätze fundiert zu bewerten. Unterstützt werden sie durch ein spezielles Video-Analyseverfahren, das die Bewegungsabläufe der Mitarbeiter darstellt. Grüne, gelbe oder rote Striche veranschaulichen dabei den Belastungsgrad der jeweiligen Körperpartie. Mit Hilfe dieser Schematisierung sind Ergonomiespezialisten – teilweise unterstützt durch Expertensysteme, wie beispielsweise die Leitmerkmalmethoden – dazu in der Lage, die Ergebnisse zu verifizieren.
Kosten-Nutzen-Verhältnis im Blick
Die Software liefert zudem Korrekturvorschläge, mit denen gängige Fehler in der Arbeitsplatzgestaltung behoben werden können. Auch bietet sie den Entscheidungsträgern über ein ROI (Return on Invest)-Modul die Möglichkeit, Ausgaben für Verbesserungen darzustellen beziehungsweise gegenzurechnen. Die Gewinne werden sowohl durch geringere Ausfallzeiten als auch durch effizientere Produktionsabläufe erzielt.
Auf die Menschen kommt es an
Die Technologie stehe aber nur an zweiter Stelle, wenn es um die Arbeitssicherheit geht. Das Verhalten der Menschen im Unternehmen sei entscheidend, meint Lexen: „Das Thema Ergonomie ist bei ZF sowohl in die Führungskräfteentwicklung integriert als auch Bestandteil unserer Mitarbeiterprogramme zur verhaltensbasierten Arbeitssicherheit.“ Alle ZF-Führungskräfte nehmen jeweils an zwei sogenannten „Safety Leadership“-Workshops teil, die unter anderem dazu dienen, eine bewusste Führungs- und Sicherheitskultur im Unternehmen zu etablieren – insbesondere durch eine starke innere Haltung und dem Bestreben, selbst jeden Tag als Vorbild zu agieren und einen engen Austausch mit den Mitarbeitern zu pflegen.
Da die Führungskraft nicht immer vor Ort ist, werden die Programme auch durch die Mitarbeiter selbst gelebt. Durch gezieltes Coaching und Feedback motivieren sie sich gegenseitig zu sicherem Verhalten. Führungskräfte und Mitarbeiter arbeiten Hand in Hand, um ein sicheres Arbeiten zu erreichen und Unfälle zu vermeiden. Loben für richtiges Verhalten ist dabei einer der zentralen Punkte der verhaltensorientierten Arbeitssicherheitsstrategie der ZF Group. Denn Dieter Lexen weiß: „Jeder Prozess, jede Verbesserung ist nur so wirksam wie die Menschen, die sie umsetzen.“
ZF Group
ZF ist ein weltweit aktiver Technologiekonzern. In den vier Technologiefeldern Vehicle Motion Control, integrierte Sicherheit, automatisiertes Fahren und Elektromobilität bietet ZF umfassende Produkt- und Software-Lösungen für etablierte Fahrzeughersteller sowie für neu entstehende Anbieter von Transport- und Mobilitätsdienstleistungen. Das Unternehmen ist mit mehr als 150.000 Mitarbeitern an rund 270 Standorten in 42 Ländern vertreten. Im Jahr 2020 hat ZF einen Umsatz von 32,6 Milliarden Euro erzielt.
Auch im Büro: Neue Arbeitswelt realisiert
Zunehmend komplexe Tätigkeiten, mehr Teamarbeit, mehr Dialog und Kommunikation: Diese Anforderungen spiegeln sich im Bürokonzept 3.0, das ZF ebenfalls mit Hilfe des IAO entwickelt hat. Anstelle von persönlich zugeordneten Arbeitsplätzen entstand im ZF Forum, der Hauptverwaltung des Technologiekonzerns, eine Bürolandschaft, die für unterschiedliche Arbeitssituationen die jeweils optimalen Bedingungen bietet, gleichzeitig die Fläche effizient nutzt und nicht zuletzt eine Wohlfühlatmosphäre für Mitarbeiter schafft. Diese zeichnet sich neben hochwertigen Standard-Arbeitsplätzen vor allem durch eine Vielzahl neuer technologischer Angebote aus – insbesondere für Dialog und Teamarbeit.