Frau Marth, welches Handicap haben Sie und wodurch?
1985 hatte ich im Alter von 27 Jahren einen Unfall mit der U‑Bahn, wobei ich den linken Arm und Unterschenkel verlor. In der Charité in Berlin retteten mir die Ärzte das Leben.
Wie ging es Ihnen damals? Wie heute?
Ich wusste nach dem Unfall nicht, wie es weitergehen wird. Wie werde ich laufen können, wie werde ich mit einem Bein und einem Arm zurecht kommen, wird mich je wieder jemand lieben, so wie ich jetzt aussehe, werde ich eine Familie gründen können …? Die Prothesenanpassung war Neuland. Ich musste umziehen. Aber vor allem musste ich lernen, mich an mich selbst zu gewöhnen und mich anzunehmen. Und ich musste einen neuen Beruf lernen, denn Sportlehrerin konnte ich nicht mehr sein. Ich habe mir mein Leben zurückerobert und bin heute eine glückliche Frau, Mutter zweier Kinder und dreifache Großmutter. Mit der Hilfe und Unterstützung, die ich habe, kann ich ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben führen, wenn auch mit Einschränkungen – aber wer hat die nicht?
Hatten Sie eine (Peer-)Beratung?
Nein, das gab es damals in der DDR nicht. Die physischen Wunden waren verheilt, aber die seelischen schmerzten jahrelang. Ich fühlte mich sehr lange nicht als Frau und es gab so viele Themen, Fragen, die mir niemand beantworten konnte. Ich war zwischendurch verzweifelt, überfordert und fühlte mich hilflos. Deshalb hatte ich mir psychotherapeutische Hilfe gesucht, die von meinem Reha-Management unterstützt und finanziert wurden. Dafür bin ich heute noch dankbar.
Warum ist Peer-Beratung sinnvoll?
Eine Amputation oder ein vergleichbares Ereignis ist ein tiefer Einschnitt in das Leben eines Menschen. Es ist ein großer Verlust mit körperlichen, psychischen und sozialen Folgen.
Ein Peer-Berater ist Experte, er kennt die Situation und kann auf Augenhöhe dem frisch Verletzten zur Seite stehen. Das kann eine große Motivation sein, nicht aufzugeben und weiterzugehen. Das macht das Peer Counseling so wertvoll und einzigartig: Der Peer weiß, wovon er spricht. Und es ist eine sehr wirkungsvolle und direkte Unterstützung der Patienten im Prozess der Reha-Angebote – ein effektives, ergänzendes Modul im Reha-Management.
Wie ist Ihre Arbeit als Beraterin?
Seit 2010 arbeite ich als Beraterin in der Prothesen-Rehabilitation des Unfallkrankenhauses Berlin. 2012, als die DGUV ein Pilotprojekt mit dem Krankenhaus startete, wurde ich dann die erste offizielle Peer-Beraterin im ukb. Ich habe erfahren, dass es Menschen guttut, mit jemandem sprechen zu können, der Ähnliches erlebt hat. Es geht darum, Menschen zu helfen, ihren Leidensweg abzukürzen, zu zeigen, dass es ein Leben danach gibt, das erfüllt sein kann. Mit der wirklich guten Unterstützung der Berufsgenossenschaften, der Kostenträger, ist so vieles wieder machbar, was man sich anfangs gar nicht vorstellen kann.
Inwiefern arbeiten Sie in dieser Funktion mit der DGUV zusammen?
Ich arbeite für die DGUV, wenn ich angefragt werde, und natürlich im Projekt PiK. 2014 erhielt ich den Auftrag , die Konzeption für PiK zu schreiben. Ich halte Vorträge zum Thema Peer-Beratung, unter anderem an der DGUV-Hochschule. Dort werden angehende Reha-Manager über dieses Thema informiert und geschult. Das ist relativ neu und sehr begrüßenswert.
Auch im Rahmen der Weiterbildung für Reha-Manager stelle ich das Projekt vor. Über die DGUV bin ich Mitglied des Steuerkreises von PiK. Ich führe Workshops im Rahmen der Weiterbildung durch und halte Vorträge zum Thema Peer-Beratungen. Es geht dabei um Themen wie Empowerment, Resilienz, Gesprächsführung, aktives Zuhören, Stressmanagement und Selbstfürsorge.
Dabei ist mir Dr. Eckart von Hirschhausen, der als Schirmherr unser Engagement unterstützt, in seinem vielfältigen Einsatz für Menschen ohne Lobby Vorbild und Motivation.
Frau Marth, vielen Dank für das Gespräch!
Auszeichnung für die Initiative „Peers im Krankenhaus“ (PiK)
Der Arzt und Dozent Prof. Dr. med. Dr. phil. h. c. Kurt-Alphons Jochheim (1921–2013) hat in besonderem Maß dazu beigeragen, die Rehabilitation in Deutschland voranzutreiben. In Würdigung seines Lebenswerks ehrt die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) mit der Kurt-Alphons-Jochheim-Medaille seit 2011 Personen, die in verschiedenen Teilbereichen der Rehabilitation und Teilhabe von behinderten und von Behinderung bedrohten Menschen einschließlich der Forschung Herausragendes geleistet haben. 2019 ging die Auszeichnung an die Initiative „Peers im Krankenhaus“ (PiK). Die Träger der Initiative nahmen die Medaille am 19. November 2019 bei der DVfR-Mitgliederversammlung in Berlin entgegen.