Während der Bearbeitung einer schier unendlichen E‑Mail-Flut klingelt immer wieder das Telefon, der Kunde wünscht kurzfristig noch die Berücksichtigung von Veränderungen bei Einhaltung des Liefertermins, die Kollegin hat widersprüchliche Informationen zum neuen Projekt, die Führungskraft erwartet eine schnelle Rückmeldung. Inmitten der vielfältigen, komplexen, oft fragmentierten und mehrdeutigen Anforderungen der Arbeitswelt sind ein hohes Tempo, Unterbrechungen, Multitasking, Unberechenbarkeit und Zeitdruck regelmäßige Begleiter. Der Stresslevel steigt und das Gedankenkarussell wird immer schneller und negativer. Beides geschieht oft unbemerkt. Stopp! „Ja, so ist es jetzt gerade.“ Dieser Satz steht dafür, den alltäglichen Wahnsinn bewusst wahrzunehmen – so wie er ist, ohne diesen zu bewerten oder verändern zu müssen.
Unangenehmes neutral erforschen
Achtsamkeit bedeutet, aus dem automatischen Funktionieren für einen Moment auszusteigen und im gegenwärtigen Moment die Verbindung mit sich selbst wieder aufzunehmen. Es geht darum, hier und jetzt interessiert und offen zu beobachten: Gedanken, Gefühle, Sinneseindrücke und Körperempfindungen. Dabei besteht die Herausforderung zunächst darin, die Dinge so sein zu lassen, wie sie gerade sind, ohne in diesem Augenblick eine Veränderung erzwingen zu wollen.
Ganz gleich ob Termindruck, Ärger oder Nackenschmerzen – unangenehme Erfahrungen werden in der Achtsamkeit nicht ausgeschlossen, sondern ohne Anstrengung und Optimierungsdruck zunächst neutral erforscht:
- Welche Gedanken sind mit dem Erleben von Zeitdruck, Überlastung oder widersprüchlichen Informationen verbunden? Gehen die Gedanken immer wieder im Kreis, chaotisch durcheinander oder schweifen sie ständig ab?
- Welches Gefühl wird in der bestehenden Stress-Situation ausgelöst und übernimmt gerade die Kontrolle über das gesamte Empfinden? Wie intensiv sind Ärger, Angst oder Hilflosigkeit?
- Was geschieht im Körper? Wie fühlt sich Anspannung oder Erschöpfung an und wo genau lässt sich das zum Beispiel in der Muskulatur oder Atmung wahrnehmen?
„Ja, so ist es jetzt gerade“ – im beschreibenden Beobachten des gegenwärtigen Augenblicks ermöglicht dieser Satz innere Distanz. Das vegetative Nervensystem kann ausgleichend die Richtung wechseln und körperliche Stressreaktionen beruhigen sich. In der bewertungsfreien Akzeptanz können auch Gefühle wieder bewusst reguliert werden. Mit dem Gedanken „Ich nehme Ärger wahr.“, statt dem Gefühl „Ich bin ärgerlich.“ gelingt in der Beobachterperspektive emotionaler Abstand und damit die Rückkehr zu einer sicheren und gelassenen Handlungsfähigkeit.
Aus dem Panikmodus befreien
Jede Stresssituation geht im Verlauf der normalen „Fight-Flight-Freeze“-Reaktion, also dem evolutionsbedingten Reflex zum Angriff, zur Flucht oder zum Erstarren mit Ärger, Angst oder Hilflosigkeit einher. Sobald die warnende Signalfunktion dieser Gefühle wieder aufgehoben ist, beruhigen sich auch die Gedanken. Es entsteht wieder Raum für Perspektivwechsel und verschiedene Aspekte der Situation können lösungsorientiert analysiert werden.
Insbesondere bei erhöhtem Stresslevel ist die bewusste Aufmerksamkeitsregulation eine wichtige Schlüsselressource. Regelmäßig praktizierte Achtsamkeitsübungen außerhalb von Stresssituationen trainieren diese Fähigkeit. So gelingt es, im Laufe der verschiedenen Herausforderungen eines Arbeitstages fokussiert zu bleiben.
Im Hier und Jetzt statt Kopfkino
Im Gespräch oder bei der Bearbeitung einer Aufgabe wird der rote Faden gehalten und Störreize von außen werden erfolgreich ausgeblendet. Statt sich im ständig laufenden Kopfkino im Vergangenen oder Zukünftigen zu verlieren, ermöglicht eine souveräne Regulation der vielen assoziativen gedanklichen Interpretationen, zwischendurch auch einmal gezielt abzuschalten. Im bewussten Innehalten wird eine Haltung von freundlicher Akzeptanz, Präsenz und Offenheit entwickelt. Gleichzeitig werden innere Ruhe und Entspannung und damit die persönliche Regenerationsfähigkeit zur Burnout-Prophylaxe gefördert.
Autorin: Dipl.-Psych. Maria Köhne
Achtsamkeits-Trainerin
Unternehmensberaterin zur psychologischen Gesundheitsförderung
Fünf Auswahl-Übungen zum Trainieren
Achtsamkeit lässt sich einfach in Kurzpausen von ein bis fünf Minuten regelmäßig in den Arbeitsalltag einbinden.
Achtsames Innehalten
Einen kurzen Moment innehalten, Augen schließen oder ruhen lassen. Bewusst, absichtslos, hier und jetzt wahrnehmen, ohne zu bewerten:
- Diese Gedanken sind jetzt gerade da ….
- Diese Gefühle …..
- Diese Körperempfindungen …..
Alles so wahrnehmen, wie es ist. Nichts verändern oder erreichen müssen. Zum Abschluss eine Weile den Atem beobachten, so wie er in diesem Moment ganz von alleine fließt. Die Übung mit einem bewussten Ein- und Ausatmen beenden.
Beobachten statt Bewerten
Innehalten und einen Moment lang alles wahrnehmend beobachten ohne es zu bewerten:
- Mit den Augen beliebige Gegenstände im Raum sehen: Farbe, Form, Größe, Material …
- Augen schließen und mit den Ohren Geräusche hören: Lautstärke, Tonhöhe, Rhythmus…
- Augen geschlossen halten und Körpersignale wahrnehmen: Anspannung, Entspannung, Wärme, Kälte, Schwere, Leichtigkeit, Kribbeln, Jucken, Ziehen …
- Augen wieder öffnen und im Geschehen fortfahren.
Bodyscan
In eine bequeme Position an einen Ort der Wahl setzen.
- Die Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper richten. Von den Füßen bis zum Scheitelpunkt wach und interessiert Körperregion für Körperregion durchwandern.
- Jeder Körperempfindung erlauben, so da zu sein, wie sie in diesem Moment gerade ist, ganz egal, ob sich diese Empfindung angenehm, unangenehm oder neutral anfühlt.
- Sollte die Aufmerksamkeit durch Gedanken abgelenkt werden, den jeweiligen Gedanken kurz wahrnehmen und die Aufmerksamkeit bewusst zum Körper zurücklenken.
- Zum Abschluss der Übung den gesamten Körper noch einmal hier und jetzt wahrnehmen.
- Nach der Übung die Muskulatur aktiv lockern oder dehnen.
Hinweis: Es ist möglich, gezielt bestimmte Körperregionen, die bei Stress stark angespannt sind, für einen kurzen Scan auszuwählen – zum Beispiel Schultern und Nackenbereich oder die Kieferregion.
Seinsmoment
Einen Gegenstand für diese kleine Meditation auswählen, zum Beispiel einen Stein, eine Blüte, einen Stift oder ein Stück Obst.
- Den Gegenstand für eine Weile zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit machen.
- Das beinhaltet: wahrnehmen, wie der Gegenstand aussieht (Farbe, Form, Beschaffenheit, Muster), tasten, wie er sich anfühlt, ausprobieren, ob er sich hören oder riechen lässt.
- Bei essbaren Gegenständen diese Übung mit dem bewussten Schmecken abschließen.
Hinweis: Die Übung eignet sich gut für eine achtsame Tasse Kaffee oder Tee.
Achtsames Gehen
Bewusst gehen und dabei die Aufmerksamkeit auf die Füße richten.
- Jeden Schritt achtsam begleiten – das Gleichgewicht auf einen Fuß verlagern, den anderen Fuß anheben, vorwärts bewegen, wieder absetzen, erneut das Gleichgewicht verlagern.
- In jedem Schritt den Kontakt mit dem Boden spüren.
Hinweis: Diese Übung lässt sich gut in den Alltag integrieren: drinnen oder draußen, auf dem Weg zur Besprechung oder zum Kopierer, auf dem Weg zur Arbeit, nach Hause oder beim Spazierengehen. Nutzen Sie die Schritte als Anker für den gegenwärtigen Moment, ganz egal, wie schnell oder langsam, wo und mit welchem Ziel Sie gerade unterwegs sind.