Etliche Tätigkeiten in der Industrie, aber auch in der Pflege oder im Transportwesen gehen regelrecht auf die Knochen. Zur Reduzierung der Muskel-Skelett-Belastung bieten sich aktive und passive Exoskelette an – in wachsender Auswahl und Vielfalt: Immer mehr Hersteller bereichern den Markt mit Eigenentwicklungen, darunter junge Unternehmen und Start-ups.
Lasten besser bewältigen
Einen guten Überblick über das aktuelle Angebot an Exoskeletten konnten die Besucherinnen und Besucher auf der Fachmesse A+A 2021 gewinnen. Im Robotics Park sowie an den Ständen und Stationen im Umkreis hatten sie zudem Gelegenheit, verschiedene Stützsysteme am eigenen Leib zu erproben und miteinander zu vergleichen. Davon machten sie regen Gebrauch – ein deutliches Signal für das gezielte Interesse an diesen Hilfsmitteln.
Doch was genau sollen Exoskelette bewirken? „Unsere Systeme unterstützen vor allem beim Heben und Tragen. Der Schwerpunkt liegt darauf, Lasten besser bewältigen zu können“, erklärt Patrick Gastiger, Key-Account-Manager und Ergonomics Coach des Herstellers HUNIC. Zu diesem Zweck entwickelt das Unternehmen seit seiner Gründung im Jahr 2017 passive Exoskelette.
Passive Exoskelette: Funktionalität und Tragekomfort
Das Kernmodell des Herstellers, das bereits in der Logistik- und Automobilbranche sowie im Maschinenbau und Gesundheitswesen zum Einsatz kommt, nennt sich SoftExo Lift. Auf der A+A 2021 präsentierte HUNIC mit dem „SoftExo Lift 5“ die mittlerweile fünfte Version dieses Produkts. „Dabei kommen Verbesserungen an zwei Komponenten zum Tragen. Erstens bei der Funktionalität: Durch die Verwendung neuer Materialien fällt die Unterstützung beim Heben noch stärker aus. Zweitens bei der Biomechanik, indem wir die Zusammenarbeit der Komponenten verbessert und dadurch – ganz wichtig – den Tragekomfort noch einmal erhöht haben“, erklärt Gastiger. Seit drei Jahren ist eine Rückenschiene in das System integriert, die eine korrekte Haltung beim Anheben gewährleistet. Sie ist der einzige starre Bestandteil. „Unsere Exoskelette heißen nicht nur soft, sondern es ist tatsächlich alles soft an ihnen, mit Ausnahme der Verschlussschnallen, Reißverschlüsse und der Rückenschiene. Der Hüftgurt ist dabei noch einmal weicher geworden, denn die Trägerinnen und Träger sollen so wenig wie möglich von dem Exoskelett spüren“, unterstreicht Gastiger. Durchsetzen könnten sich schließlich nur Produkte, die funktionieren und einen hohen Tragekomfort bieten.
Vor dem Einsatz mehrere Exoskelette testen
Grundsätzlich empfiehlt Gastiger interessierten Firmen, mehrere passive Exoskelette zu testen – und zwar nicht nur für ein paar Stunden, sondern möglichst an mehreren Tagen. „Es lohnt sich, verschiedene Systeme auszuprobieren, denn es gibt spürbare Unterschiede“, ist er überzeugt. Dazu bietet der Hersteller Mietmodelle an, die beispielsweise einen zweiwöchigen Testlauf ermöglichen. Warum so lange? „Neue Fußballschuhe fühlen sich beim ersten Training auch nicht gleich toll an. Man muss sich erst daran gewöhnen.“ So sei es auch beim Exoskelett: Der Störfaktor, der von diesen Systemen ausgehe, werde nach einigen Tagen weniger wahrgenommen. Erst dann mache sich die wohltuende Wirkung der Biomechanik richtig bemerkbar.
Haltung bewahren mit passiven Exoskeletten leicht gemacht
Aber verlagert das Exoskelett als Hebehilfe die Belastung nicht einfach nur auf andere Körperteile? „Am Ende ist es entscheidend, in welcher Haltung Beschäftigte Lasten bewältigen. Deswegen fokussieren wir zunehmend auf die Rückenschiene. Beim Bücken wird der Bandscheibenkern im Bauchbereich nach hinten gedrückt. Der Fehler beginnt aber schon oben in der Halswirbelsäule, dem runden Rücken und der starken Krümmung der Wirbelsäule, je weiter die Last entfernt ist. Diese Krümmung verhindern wir mit der Schiene“, erklärt Gastiger. Wie rückenschonendes Heben funktioniere, sei zwar grundsätzlich bekannt, dieses Wissen werde im Arbeitsalltag aber häufig nicht umgesetzt. „Besonders Jüngere halten sich nicht daran – bis sie den Schaden davontragen.“ Gerade bei ihnen müsse die Prävention ansetzen, folgert Gastiger.
Andere Liga: Aktive Systeme
HUNIC ist bislang auf passive Exoskelette spezialisiert, die keine externe Energieversorgung benötigen. Die Stützstruktur nimmt Belastungen auf, verteilt die einwirkenden Kräfte und gibt sie mittels Spannkraft an den Körper zurück. Aktive Exoskelette, die mit zusätzlichen Antrieben, Sensoren oder auch Künstlicher Intelligenz ausgestattet sind, sieht Gastiger aktuell nicht flächendeckend in der Anwendung – zumindest, was den großen Markt ‧angeht: Sie seien zum einen noch sehr teuer, zum anderen um einiges schwerer als die meisten passiven Systeme. „Beim Heben wird man durch sie zwar deutlich unterstützt, aber das größere Zusatzgewicht wirkt zusätzlich auf den Muskel-Skelett-Apparat“, gibt er zu bedenken. Zudem hätten diese Systeme durch die integrierte Technik eine größere Störkontur, das heißt sie liegen nicht weitgehend am Körper an, sondern besitzen auch abstehende Teile. „Das ist auch ein Arbeitssicherheitsthema, denn mit diesen Aufbauten kann man leichter irgendwo hängenbleiben. Hier müsste vorab gesichert sein, dass alle Laufwege am Arbeitsplatz breit genug sind.“
Im Bereich der Robotik
Obwohl sie häufig in einen Topf geschmissen würden, seien passive und aktive Systeme generell nicht direkt miteinander vergleichbar. Bei aktiven Exoskeletten bewege man sich im Bereich der Robotik, die ganz andere Fragen aufwerfe als die rein mechanischen, ergonomischen Stützsysteme. „Da ist dann auch die Störanfälligkeit durch komplexe Bauteile ein Thema.“ Manche Beschäftigten fühlten sich zudem unwohl bei dem Gedanken, in gewisser Weise fremdgesteuert zu sein. Gastiger sieht für die derzeit erhältlichen aktiven Systeme insofern rein spezifische Einsatzgebiete in der Industrie. Anders in der Medizin: „Hier gibt es im Bereich der Rehabilitation schon vielfache Verwendung.“
Gänzlich abgeneigt von einer Weiterentwicklung in Richtung integrierte Elektronik ist HUNIC dabei nicht – nur sei man noch nicht so weit. „Wenn wir etwas Neues auf den Markt bringen, muss es valide sein.“ Derzeit fehle es dazu noch an wissenschaftlichen Erkenntnissen. „Große Unternehmen fordern vor einem solchen Investment einen Wirksamkeitsnachweis aus der Forschung und Entwicklung.“
Passive Exoskelette dienen nicht der Leistungssteigerung
So oder so, Roboter wolle sein Unternehmen nicht aus den Mitarbeitenden machen. „Man hört ja häufiger die Frage: Muss ich jetzt mehr arbeiten, weil ich das Exoskelett anhabe? Die Antwort heißt ganz klar: Nein!“, betont Gastiger. „Wir haben noch nie propagiert, dass man mit dem Exoskelett mehr und länger schwere Arbeit verrichten kann. Unsere Intention ist, dass Mitarbeitende dieselbe Arbeit verrichten wie zuvor, aber mithilfe der Exoskelette länger gesund bleiben“, erklärt der Key-Account-Manager. Auch manche Arbeitsmedizinerinnen und ‑mediziner hätten die Befürchtung, dass Unternehmen solche Erwartungen an die Einführung von Exoskeletten hegten. Bei seinen Kundinnen und Kunden sei dies aber nicht der Fall. „Die meisten Firmen wollen diese Hilfsmittel nicht zweckentfremden.“
Exoskelette in der Pflege
Zu den Unternehmen, die sich für Exoskelette interessieren, zählen auch Pflegeheime und Reha-Betriebe. „Wir waren immer wieder in Pflegeeinrichtungen zur Produktvorstellung. Die dort geführten Gespräche haben dazu geführt, dass wir unser Kernmodell speziell für die Bedürfnisse von Pflegekräften weiterentwickelt haben“, erklärt Gastiger.
Die Problemstellung: In der Pflege arbeiten überwiegend Frauen. Nicht selten müssen sie schwere Patientinnen und Patienten heben, die selbst nicht mehr mithelfen können. Deshalb hat HUNIC das Modell Lift mit Haltegriffen ausgestattet. Mit CareExo Lift können die Pflegekräfte Patientinnen und Patienten mithilfe der Hüfte heben.
Unterstützung für Paketbotinnen und Paketboten
Die Idee zu einer weiteren Modifikation wurde in der Corona-Pandemie geboren. „Die Pandemie hat die Gesundheitsthematik befeuert – gerade in der Logistik, die noch mehr leisten musste.“ Um auch hier gezielt Unterstützung zu bieten, hat HUNIC das Modell Carry entwickelt, das diesen April auf den Markt kommt. „Der Gürtel mit leichter Rückenstütze eignet sich auch zum Autofahren, man kann sich damit problemlos hinter das Steuer klemmen. Bei der Zustellung wird die Ware dann auf dem Hüftgürtel abgestellt und mit einer Hand festgehalten. Mit der anderen kann der Zusteller oder die Zustellerin beispielsweise den Scanner bedienen“, erklärt Gastiger die Funktionsweise dieser jüngsten Errungenschaft.
Dynamische Marktentwicklung
Seitdem die ersten Exoskelett-Systeme 2015 in Deutschland auf den Markt kamen, hat sich das Angebot deutlich verfeinert und verbreitert. Neben den passiven Stützsystemen, die mittels mechanischer Komponenten für Entlastung sorgen, gibt es aktive Systeme, die mit eigener Antriebstechnik und/oder Künstlicher Intelligenz arbeiten. Ob und welche Systeme sich letztlich am Arbeitsplatz durchsetzen werden, wird sich zeigen. In vielen Betrieben steigt aber offenbar die Bereitschaft, Exoskelette zu nutzen beziehungsweise einzuführen, sofern sie im Test überzeugen.
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