Vor rund zwei Jahren beschloss die Bundesregierung, das gesellschaftliche Leben herunterzufahren, um die Verbreitung des Corona-Virus einzudämmen. Schnell mussten digitale Alternativen her: Arbeitsmeetings wurden in virtuelle Räume verlegt, über Facetime fanden gemeinsame Kochabende statt und der Arztbesuch hieß auf einmal Videosprechstunde. Digitale Welten bieten viele Möglichkeiten, aber ein ebenso hohes und nicht zu unterschätzendes Potenzial für eine Medienabhängigkeit.
Anerkannte internetbezogene Verhaltenssucht
Computerspielabhängigkeit (gaming disorder) ist die einzige von der World Health Organization (WHO) anerkannte internetbezogene Verhaltenssucht. „Bei anderen spezifischen Internetnutzungsstörungen muss die wissenschaftliche Grundlage noch weiter ausgebaut werden, um diese als Verhaltenssucht an‧zuerkennen“, erklärt Laura Bottel, Fachreferentin für Internetabhängigkeit und Pressesprecherin des Fachverbands Medienabhängigkeit e. V.. Das bedeutet aber keineswegs, dass es keine anderen Internetnutzungsstörungen gibt: Pornografie, Online-Kaufsucht oder Social-Network-Sucht sind nur einige von vielen Beispielen. Und wie oft haben wir schon Menschen beobachtet, die gemeinsam an ‧einem Cafétisch sitzen, sich aber lieber in ihr Handy als in ein Gespräch mit ihrem Gegenüber vertiefen? Das Bild gehört schon fast zur Normalität, lässt aber eine gewisse Form der Abhängigkeit vermuten.
Unter Menschen – aber doch für sich
„Sozialer Rückzug ist ein wesentliches Kennzeichen für eine Internetabhängigkeit. Das kann auch bedeuten, dass sich Personen zwar in Gesellschaft begeben, aber nicht mit den Menschen in Interaktion treten“, weiß Bottel. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des LWL Universitätsklinikums der Ruhr Universität Bochum ist sie mit der Konzeption und Koordination von Versorgungsprojekten für Internetabhängige sowie der Erforschung der zugrundeliegenden Mechanismen und verschiedenen Facetten einer Internetabhängigkeit befasst. „Da muss man dann hinterfragen, warum die betroffene Person so stark zurücktritt: Was hat das Smartphone für einen Mehrwert?“
Pandemie als Treiber für Medienabhängigkeit
In einer Zeit, in der die Mediennutzung ohnehin schon hoch ist, sorgt eine gesellschaftliche Isolation für eine schnelle Steigerung. Das zeigt eine im Auftrag von ZDF und ARD durchgeführte Befragung des Forschungsinstituts „GIM – Gesellschaft für Innovative Marktforschung mbH“. Demnach haben im Jahr 2021 Internetmedien weiter an Bedeutung gewonnen: Rund 136 Minuten pro Tag nutzten die Menschen in Deutschland Medien im Internet, das ist ein Zuwachs von 16 Minuten pro Tag. Zudem bewegen sich mit 67 Millionen rund eine Million mehr Menschen im Internet als 2020. Aufgeschlüsselt nach Altersgruppen nutzen 100 Prozent der unter 50-Jährigen, 95 Prozent der Gruppe zwischen 50 und 69 Jahren und 77 Prozent der 70-Jährigen das Internet.
Die halbe Nacht im Internet unterwegs
Gründe für diese Steigerung liegen auf der Hand, schließlich ist der Mensch ein soziales Wesen. Wenn er sein Bedürfnis nach sozialer Interaktion nicht mehr real ausleben kann, dann ist die virtuelle Variante besser als der gänzliche Verzicht. Doch diese Verlagerung in virtuelle Welten, der dauernde Konsum von Medien – seien es Social-Media-Plattformen, digitale Informationsdienste, Online-Shops oder ‑Spiele – ist hoch suchtgefährdend. „Betroffene verbringen oft die halbe Nacht im Internet und sind am nächsten Morgen entsprechend müde und unkonzentriert“, beschreibt Bottel. Das kann sich auf die Arbeitssicherheit auswirken, wenn beispielsweise ein Dachdecker, der zu nachtschlafener Stunde noch ins neue Computerspiel vertieft war und sich beim Hinabsteigen der Leiter neue Spielzüge überlegt, eine Sprosse verfehlt und abrutscht. Oder wenn eine ‧Büroangestellte alle zehn Minuten routiniert zum Smartphone greift, um persönliche und allgemeine News zu checken, unterbricht sie jedes Mal den Arbeitsflow. Der Fokus liegt dann nicht auf ihrer Tätigkeit, sondern auf dem Medium. Das kann zu Stress, Konflikten in der Belegschaft und einer sinkenden Arbeitsqualität führen.
Warnsignale für Medienabhängigkeit
Alle konsumieren Medien, wann aber geht das Nutzungsverhalten in eine Abhängigkeit über? „Es gibt verschiedene starke Warnsignale. Wenn Personen merken, dass ihr Konsum außer Kontrolle gerät, sie sich sozial zurückziehen und die Priorisierung klar auf der Internetnutzung liegt, dann lässt das auf eine Abhängigkeit schließen“, beschreibt Bottel. Sobald derartige Signale auffallen, empfiehlt es sich, Betroffene anzusprechen. Sicherheitsbeauftragte bekommen derartige Entwicklungen häufig früher mit als Vorgesetzte oder Führungskräfte, da sie näher am Arbeitsgeschehen dran sind. „Wenn Sicherheitsbeauftragte Warnsignale bei Kolleginnen oder Kollegen beobachten, sollten sie diejenigen ohne Druck und Vorwürfe ansprechen. Sie sollten ihre Beobachtungen mitteilen und ihre Sorge äußern“, erklärt Bottel. „Darüber hinaus sollten sie Hilfe anbieten, indem sie beispielsweise auf externe Hilfsangebote verweisen.“
Herausforderung Homeoffice
Diese Beobachtungen von Kolleginnen und Kollegen entfallen aber an vielen Arbeitsplätzen, seitdem sie pandemiebedingt übergangsweise oder auch dauerhaft ins Homeoffice verlagert wurden. Hier sind viel Selbstdisziplin und Eigenverantwortung gefragt. „Den einen fällt das leicht, andere haben damit immense Probleme. Diejenigen, die bereits vorher eine Tendenz zur Medienabhängigkeit hatten und für die der Arbeitsplatz eine feste Konstante war, laufen Gefahr, im Homeoffice in die virtuelle Welt abzudriften“, schildert Bottel. Dem können Arbeitgeber präventiv begegnen: „Hier ist Aufklärung entscheidend. Dadurch sind die Beschäftigten für das Thema sensibilisiert und kennen Wege, die im Falle einer Abhängigkeit gegangen werden können. Zudem empfehlen sich Schulungsangebote zur Selbstorganisation, damit sich die Beschäftigten auch im Homeoffice auf die Arbeit fokussieren.“
Schulung der Medienkompetenz
Ein weiterer Aspekt, der spätestens im Zuge der um sich greifenden Fake-News immer wieder auftaucht, ist die Medienkompetenz. Kaum jemand aus der arbeitenden Bevölkerung hat gelernt, mit dem Medium „Internet“ umzugehen. Kinder werden mittlerweile idealerweise in der Schule im richtigen Umgang unterrichtet. „Da die arbeitende Bevölkerung dem Internet erst im fortgeschrittenen Alter begegnet ist, sind die meisten in diese Welt hineingerutscht. Den Umgang haben sie sich vielfach selbst angeeignet“, verweist Bottel auf einen möglichen Grund, warum es gerade Älteren an Kompetenz im richtigen Nutzungsverhalten mangeln könnte. Diesem Problem lässt sich durch Schulungen, Workshops und Fortbildungen begegnen Arbeitgeber könnten dazu Anstoß geben, indem sie ihrer Belegschaft die Teilnahme ermöglichen.
Ohne Smartphone? Ohne mich!
Die Ergebnisse der bevölkerungsrepräsentativen Studie „Die Süchte der ‧Deutschen“ der pronova BKK aus dem Jahr 2021 zeigen, dass die Hälfte der Deutschen sich ein Leben ohne Smartphone nicht mehr vorstellen kann. Zum Vergleich: Bei der Befragung vor vier Jahren war es erst ein Drittel. Bei den unter 30-Jährigen sind es heute sogar drei Viertel der Befragten, die ihr Handy als unverzichtbar ansehen. Diese Zahlen belegen, dass der Gebrauch des Smartphones zur Gewohnheit geworden ist. 43 Prozent erwischen sich dabei, wie sie nach einer gewissen Zeit automatisch auf das Smartphone schauen. Doch nicht nur über den Tag verteilt gilt die Aufmerksamkeit dem smarten Begleiter, sondern 41 Prozent schenken ihrem Smartphone morgens den ersten und abends den letzten Blick. Und auch bei der Arbeit wird das Smartphone immer wieder gezückt: 37 Prozent checken auch während der Arbeitszeit regelmäßig ihre Nachrichten.
Hilfe finden bei Medienabhängigkeit
Auf der Website des Fachverbands Medienabhängigkeit e. V. sind Beratungs- und Anlaufstellen für Betroffene und Angehörige aufgeführt, die auf das Thema Medienabhängigkeit spezialisiert sind. Zudem sind regionale und bundesweite Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner aufgelistet, die Hilfe und Informationen vermitteln können. Über die Postleitzahlsuche lassen sich Angebote in der jeweiligen Region finden. Darüber hinaus stellt der Fachverband eine vollständige Liste der verzeichneten Angebote in Deutschland sowie Hilfsangebote in Österreich, der Schweiz und Luxemburg zur Verfügung.