Die Leiterin des Fachgebiets Sicherheitstechnik/Arbeitssicherheit der Bergischen Universität Wuppertal, Prof. Dr.-Ing. Anke Kahl, hat keine Wunschvorstellung, die besonders die ethischen Aspekte in der Arbeitssicherheit betrifft. Vielmehr vertritt die Vorsitzende des Ausschusses für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit (ASGA) des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) die Auffassung, dass alle Akteure des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, zum Beispiel die staatlichen Regelsetzer, die Behörden, die Arbeitgeber bis hin zu den Beschäftigten, ethische Grundsätze in ihrem jeweiligen Handlungs- und Verantwortungsbereich verantworten sollten. Als methodisch verbindendes Instrument steht für die Beirätin unserer Zeitschrift “Sicherheitsingenieur” die Gefährdungsbeurteilung im Fokus. Denn die Compliance und das sichere und solidarische Verhalten Einzelner wirken als Brennglas für die kollektive Akzeptanz von arbeitsschutzspezifischen Schutzmaßnahmen und das reflektierte Verhalten von Gruppen.
Prof. Dr.-Ing. Anke Kahl zu Ethik in der Arbeitssicherheit
Ethik – ein schwergewichtiges Wort, dass in Zeiten der Pandemie und durch neue Gesetze wie das Lieferkettengesetz zunehmend im Unternehmensumfeld an Bedeutung gewonnen hat. Wo sehen Sie die ethischen Ansatzpunkte in der Arbeitssicherheit?
Auch wenn das Thema Ethik gerade durch zahlreiche Rahmenbedingungen unserer globalisierten Welt mehr in den medialen Fokus gerückt ist und dies sicher zu Recht, so lässt sich sachlich konstatieren, dass die Auseinandersetzung mit sozial-ethischen Grundsätzen kein brandneues Thema im Arbeits- und Gesundheitsschutz ist. Zahlreiche zentrale arbeitsschutzpolitische Entscheidungen und Handlungsgrundsätze folgen bereits sozial-ethischen Kriterien, drei möchte ich ganz kurz aufführen.
Einen „weltumspannenden“ Rahmen setzt bereits die WHO in ihrer Verfassung (Stand 7/2020), in dem sie die Gesundheit als einen „Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit oder Gebrechen“ beschreibt. Damit wird ein durchaus herausforderndes, wenngleich auch unverbindliches Schutzziel für alle Gesundheitsakteure weltweit gesetzt, indem klargestellt wird, dass sozial-ethische Aspekte kein Ad on bei Sonnenschein sind, sondern dass die Akteure in ihren Verantwortungsbereichen sozial-ethische Aspekte – natürlich im jeweils kulturellen Kontext – zu beachten haben, wenn es um die Gesunderhaltung der Menschen und damit der Gesellschaft geht. Diese begriffliche Bestimmung der WHO subsumiert deutlich mehr als im Art. 2, Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit umfasst wird. Dies gilt umso mehr am Arbeitsplatz, als hier die Verantwortung für die Gesunderhaltung der Beschäftigten grundlegend beim Unternehmer beziehungsweise der Unternehmerin liegt.
Auch beim Blick in die europäische beziehungsweise nationale Grenzwertsetzung lässt sich konstatieren, dass sich die verantwortlichen Akteure bereits vor vielen Jahren auf die Beachtung ethischer Grundsätze verständigen konnten. Bei der Festsetzung von Grenzwerthöhen wird grundsätzlich auf das Schutzziel abgestellt, die betroffenen Beschäftigten bei einer Exposition unterhalb des gesetzten Grenzwertes über ihr Arbeitsleben lang keine Schädigung infolge dieser Exposition zuzumuten. Begrenzt wird dieses Schutzziel in seiner Umsetzung und Wirkung natürlich durch den Stand der Technik und des Wissens zum Zeitpunkt der Grenzwertsetzung. Besonders interessant ist die Berücksichtigung ethischer Grundsätze im Kontext der Ableitung von risikobasierten Grenzwerten für Tätigkeiten mit kanzerogenen Stoffen. Wir arbeiten seit über 10 Jahren in Deutschland mit dem Risiko-Akzeptanz-Konzept gemäß TRGS 910. Hier besteht der ethische Konsens, keine Kosten-Nutzen-Rechnung in die Ableitung einzubeziehen, sondern allen Betroffenen „das gleiche, als sehr gering erachtete „akzeptierbare” Risiko zuzumuten, unabhängig von der wirtschaftlichen Bedeutung eines Arbeitsstoffes, der Schwere oder Therapierbarkeit der vorzubeugenden Krebserkrankung und der Zahl der Exponierten“. Auch die geschlechterspezifische Grenzwertsetzung, zum Beispiel beim Heben und Tragen von Lasten oder die Berücksichtigung besonders schutzbedürftiger Gruppen wie Schwangeren bei der Grenzwertsetzung (Gefahrstoffe) ist auch eine Antwort auf ethische Herausforderungen im Arbeitsschutz.
Und noch ein Aspekt zum Thema Schutzniveau: Auch wenn die Einhaltung zahlreicher betrieblicher Arbeitsschutzmaßnahmen im Handwerk und in einem Großunternehmen aufgrund unterschiedlicher Voraussetzungen, zum Beispiel den Zugriff auf Fachexpertise und Ressourcen, unterschiedliche Anstrengungen erfordern, so ist es zutiefst ethisch für Beschäftigten im Handwerksunternehmen das gleiche Arbeitsschutzniveau einzufordern, wie für Beschäftigten in Großkonzernen.
„Das Leben ist schön, solange nichts passiert“ – Im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit nicht zu verunfallen, ist keine Frage des Glücks. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen in der Gratwanderung zwischen einer ethischen Umsetzung der Vorschriften und der Gewinnmaximierung von Unternehmen?
Auch wenn ich bei der Beantwortung der ersten Frage auf bestehende sozial-ethische Ansätze im Arbeits- und Gesundheitsschutz verwiesen habe, so ist es mir zugleich auch sehr wichtig herauszustellen, dass diese sozial-ethischen Errungenschaften nicht selbstverständlich sind und – so meine Prognose – in den kommenden Jahren aus unterschiedlichen Richtungen durchaus auch einigen Angriffen ausgesetzt sein werden. Scheinbar konkurrierende Schutzziele und die Globalisierungsherausforderungen werden dabei sicher ins Feld geführt. Auch ist bei dieser Thematik der konkreten Umsetzung sozial-ethischer Grundsätze noch viel Luft nach oben, denn das Thema ist einerseits inhaltlich nicht loszulösen von zentralen Herausforderungen im Arbeits- und Gesundheitsschutz, wie zum Beispiel der Compliance zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung oder dem Minimierungsgebot, sowie andererseits eng angebunden an andere schutzbezogene Themenfelder, wie zum Beispiel dem Gestaltungsgrundsatz der Nachhaltigkeit und der Geschlechtergerechtigkeit.
Aber ich möchte den Fokus zunächst kurz darauf richten, dass wir im Kontext des betrieblichen Arbeitsschutzes seit vielen Jahren mit Agreements „leben“, die diese Gratwanderung untermauern und die durchaus auch einen ethischen Charakter aufweisen. Wir haben uns zum Beispiel darauf verständigt, (Lebens-)-Zeit, die am Arbeitsplatz über das normale Maß der 5‑Tage-Woche und der Tagschicht hinausgeht, monetär durch Zuschläge abzugelten, beispielsweise bei Nacht-und Wochenarbeit oder bei 24h-Schichten wie bei der Feuerwehr. Dieses monetäre Agreement findet auch Anwendung bei ausgewählten physischen Erschwernissen, zum Beispiel bei Hitze- und Kältearbeitsplätzen.
Ihre Frage zielte aber auf die aktuell größten Herausforderungen ab. Wir erleben gerade eine sichtbare Positionierung ethischer Grundsätze in der Produktsicherheit, diese Entwicklung würde ich in diese Kategorie einordnen. Ohne den Einsatz sicherer Produkte in den Arbeitsprozessen ist ein effektiver und schutzzielgerechter betrieblicher Arbeits- und Gesundheitsschutz nicht möglich. Daher rechne ich die Produktsicherheit mit ihren Freiheitsgraden der Gestaltung einem zeitgemäßen Arbeit- und Gesundheitsschutz zu, untrennbar von der betrieblichen Arbeitsschutzebene.
Durch die vielfältigen technologischen Möglichkeiten der Digitalisierung – wie den Einsatz intelligenter Algorithmen im Rahmen der Künstlichen Intelligenz (KI)– sehen wir uns im Rahmen der Technikgestaltung und der Technikfolgenabschätzung der Situation ausgesetzt, dass die im Handlungsdreieck von Technik, Mensch und Organisation bisherige Dominanz des menschlichen Handelns in Frage gestellt werden kann. Seit einigen Jahren arbeiten zum Beispiel Wettervorhersagen, diverse Rankings, Produkt- und Medienempfehlungen oder auch betriebliche Fertigungsprozesse KI-basiert, das heißt auf Basis von teils komplexen Algorithmen werden Entscheidungenroutinen und Befugnisse festgelegt sowie Entwicklungen prognostiziert. Je nach Art der genutzten Methode werden die Algorithmen mit großen Datenmengen trainiert. Es ist im Rahmen der Konzipierung die Frage zu beantworten, was die KI im konkreten Anwendungsfall können soll und was nicht.
KI-basierte Technologien und Produkte müssen nicht nur als vertrauenswürdig durch die Nutzer*innen eingestuft werden, sondern müssen sozial-ethischen Grundsätzen entsprechen, denn sie werden gegebenenfalls millionenfach eingesetzt und kommen machtvoll in allen Lebenswelten zum Einsatz. Im Fokus stehen dabei unter anderem Fragen der Verantwortung beziehungsweise Verantwortungsverteilung, der Fairness, der Robustheit, der Diskriminierungsfreiheit, zum Schutz der Privatsphäre sowie der Sicherheit. Dabei ist unter anderem auch die Qualität der Daten und die Architektur des jeweiligen Algorithmus entscheidend für eine faire Dateninterpretation. Besonders kritisch und herausfordernd ist die KI-Thematik dann zu bewerten, wenn im konkreten Fall die Gefahr besteht, dass Rechtsgüter und Menschenleben gegeneinander abgewogen werden. Wem soll dabei welcher Wert zugesprochen werden? Sind die Daten, die die KI trainieren diskriminierungsfrei? Dies sind ethische Fragen, die es mittels sozial-ethischer Grundsätze und gegebenenfalls konkreter Einzelfallentscheidungen zu beantworten gilt. Kommen KI-basierte Systeme zum Beispiel in Fertigungs- oder Dienstleistungsprozessen zum Einsatz, sind sie Teil des Arbeitssystems und charakterisieren auch Gefährdungspotentiale und die Zusammenarbeit und Kollaboration mit den Beschäftigten.
Nicht nur Unternehmen, Verbände und Institutionen legen eigene sozial-ethische Grundsätze und Regeln fest, auch die Europäische Union (EU) hat dafür nun einen Rechtsrahmen für Entwickler und Nutzer von KI geschaffen. Sie geht dabei in eine Vorreiterrolle was die Setzung von ethischen KI-Prinzipien in eine Rechtsnorm anbelangt. In dieser europäischen Ethik-Leitlinie werden Regulierungsanforderungen ausgewählter KI-Szenarien auf Basis der ihnen unterstellten Risikopotentiale festgelegt.
Die Leitlinie benennt und erläutert sieben Kernanforderungen für die Verwirklichung einer „vertrauenswürdigen KI“. Die Kernanforderungen „Vorrang menschlichen Handelns und menschlicher Aufsicht“ zielt auf ein zutiefst ethisches Anliegen ab, in dem „die menschliche Autonomie und Entscheidungsfindung“ gesichert, die KI menschliches Handeln unterstützen und „menschliche Aufsicht, etwa durch Lenkungs- und Kontrollmechanismen“, ermöglicht werden soll. Dazu gehört auch unter anderem die Möglichkeit, „KI-basierte Entscheidungen außer Kraft zu setzen sowie die Entscheidung, KI in bestimmten Situationen nicht zu verwenden.“ Eine weitere Kernforderung ist die „Technische Robustheit und Sicherheit“. Diese ist darauf ausgerichtet, „ein Sicherheitsniveau aufzuweisen, das in einem angemessenen Verhältnis zur Höhe des jeweiligen Risikos steht“. Darüber hinaus subsumiert diese Kernforderung das Anliegen, unter anderem „die Nutzer über die Wahrscheinlichkeit von Fehlern zu informieren und Sicherheitsvorkehrungen vorzusehen, die bei Problemen einen sicheren Rückfall ermöglichen.“
Wo sehen Sie die Zusammenhänge zwischen einer Sicherheitskultur im Unternehmen und einer ethischen Umsetzung?
Mit sozial-ethischen Grundsätzen verhält es sich ähnlich wie zum Beispiel mit nachhaltigkeits- oder arbeitsschutzbezogenen Grundsätzen: Sie entwickeln ihre gewünschte (langfristige) Wirkung nur dann, wenn sie in Weg und Ziel von den Betroffenen akzeptiert und konsequent von den Akteuren auch umgesetzt werden. Sie müssen zudem klar sein und gegebenenfalls auch verteidigt werden, unter anderem gegenüber scheinbar anderen „aktuell wichtigeren“ Zielen. Dies gilt für den staatlichen Arbeitsschutz im Rahmen der Regelsetzung ebenso wie für den gelebten betrieblichen Arbeitsschutz.
Unabhängig davon, welche Entwicklungsphase einer betrieblichen Sicherheitskultur betrachtet wird, sind verhaltensbezogene Aspekte der Sicherheitsarbeit (zum Beispiel bestimmungsgemäße Verwendung, Nutzung von Persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Funktionskontrollen) von zentraler Bedeutung und bestimmen nicht nur die langfristige Etablierung einer guten betrieblichen Sicherheitskultur, sondern vor allem auch deren Weiterentwicklung. Jedoch sind sozial-ethische Grundsätze nicht aushandelbar. Es sind Werte, wie zum Beispiel Achtsamkeit und Freundlichkeit, Zuhören und Wertschätzung, die im Team durch gemeinsame betriebliche Normen, wie „Wir achten aufeinander“, konkretisiert werden können. Ob und wenn ja, wie dieser Prozess ablaufen kann, ist wieder von der jeweiligen betrieblichen Sicherheitskultur abhängig und – das sei hier auch erwähnt – auch von den bereitgestellten Ressourcen, zum Beispiel für Teambildungsveranstaltungen, interaktive E‑Learningmodule bis hin zu Gesprächskreisen mit externen Fachexpert*innen zu ausgewählten ethischen Fragestellungen.
Das WIR – als angestrebter betrieblicher Handlungsrahmen – ist unter anderem ohne eine individuelle und kollektive Awareness sowie den Blick auf die Sicherheit Dritter nicht realisierbar. Das Arbeitsschutzgesetz greift dieses Schutzziel in § 15 auf. Durch den Verweis auf die Pflicht der Beschäftigten auch Sorge zu tragen für die Sicherheit und Gesundheit der Personen, die von ihren Handlungen oder Unterlassungen bei der Arbeit betroffen sind.
Ein Blick in die gängigen Methoden und Verfahren für die Praxis macht zudem deutlich, dass einige auch ethische Aspekte aufgreifen, die im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung oder des ständigen Verbesserungsprozesses Anwendung finden können. Beispiele hierfür sind die Leitlinie der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) mit dem Gefährdungsfaktor 10.3 „Ungenügend gestaltete soziale Bedingungen“ in Verbindung mit dem Handbuch „Gefährdungsbeurteilung“ der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) sowie die forschungsbasierte Methodensammlung Behaviour based safety, die Verhaltensänderungen in der Arbeitssicherheit unter anderem mittels ausgewählter Verhaltensbeobachtungs- und Feedbackprozesse unterstützt. Ziel ist die Erhöhung des Sicherheitsbewusstseins und die Verbesserung der Sicherheitskultur.
Durch die Pandemie waren viele Unternehmen dazu gezwungen das Arbeitsumfeld der Beschäftigten von einem Tag auf den anderen vollständig umzukrempeln. Plötzlich sah man sich der Herausforderung gegenübergestellt, dass beispielsweise alle Büro-Mitarbeitende im Home Office arbeiten mussten. Inwieweit hat die Pandemie mit seinen vielfältigen Herausforderungen an die Arbeitssicherheit eine Veränderung im Umgang miteinander und in der Umsetzung der Arbeitssicherheitsmaßnahmen bewirkt?
Wir sollten unsere Erwartungen an langfristige Veränderungen im Umgang miteinander als alleinige Folge aus den Pandemieerfahrungen nicht zu hoch hängen. Ich halte die öffentliche Diskussion um den Stellenwert des Arbeits- und Gesundheitsschutzes für ein pandemiebedingtes Aufflackern. Dennoch haben zwei Pandemie-Aspekte das Potential auf langfristige positive Veränderungen in der zukünftigen Arbeitswelt.
Die Etablierung der mobilen Arbeitsform als gleichwertige Alternative zur klassischen Präsenztätigkeit ist einer der Aspekte. Es ist schon erstaunlich, wie schnell und doch relativ geräuschlos die Arbeit im Homeoffice zur gängigen Praxis für eine relativ große Zahl an Beschäftigten wurde. Wenngleich ergonomische Mindestanforderungen an die neuen heimischen Arbeitsplätzen komplett in den Verantwortungsbereich der Beschäftigten gelegt wurden und zahlreiche IT-Herausforderungen, zum Beispiel Hardwaremangel, schwaches WLAN sowie neue, und zunächst unerprobte remote Formate die Kommunikation teilweise erschwerten. Auch das schwierige „Anfreunden mit dem virtuellen Ich“, die eingeschränkte Wahrnehmung des Gegenübers und der Verlust an informellem Austausch wurden von den Betroffenen – deren Arbeitsalltag aufgrund der Homeoffice-Pflicht aus 100% remote Arbeit bestand, festgestellt.
Mobile Arbeit, also die Erbringung der vertraglich vereinbarten Arbeitsleistung an unterschiedlichen Orten, in Verbindung mit Präsenzzeiten im Unternehmen, kann nach der Corona-Pandemie ein zukunftsfähiges (Standard-)Modell werden, was die Vorteile beider Arbeitsformen verbindet. Diese hybride Arbeitsform ist in unterschiedlichen Ausprägungen realisierbar, auch hierbei spielt die jeweiligen Unternehmenskultur eine wichtige Rolle. Studien, wie zum Beispiel die des ifo Zentrums für Industrieökonomie und neue Technologien gehen davon aus, dass etwa 56% aller Beschäftigten in Deutschland prinzipiell einen Zugang zu Homeoffice haben.
Die Vorteile liegen auf beiden Seiten: Unternehmen „binden damit qualifizierte Beschäftigte an sich. Das eröffnet Vorteile beim Wettbewerb um die besten Köpfe — gerade vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung“. Die Beschäftigten haben die Möglichkeit auf eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familien- bzw. Sorgearbeit und dies führt zu einer besseren Work-Life-Balance. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend stellt in diesem Zusammenhang fest, dass neun von zehn Arbeitnehmer*innen mit Kindern familienfreundliche Angebote mindestens so wichtig sind wie die Höhe des Gehalts.
Der Erfolg dieses hybriden Modells erfordert jedoch klare staatliche und tarifpolitische beziehungsweise betriebliche Vereinbarungen, die – aus unserem fachlichen Blickwinkel – vor allem arbeitsschutzspezifische Regeln betreffen, die Themen, wie Gefährdungsbeurteilung, Compliance und Mindeststandards umfassen, gleiches gilt für die betriebliche Mitbestimmung.
Ob dieses Vorhaben – was nach meiner Wahrnehmung eine breite mehrheitliche Unterstützung in der Fach-Community erfährt – einer Verordnung bedarf oder ob eine konkretisierende Regel für Arbeits- und Gesundheitsschutz dem Anliegen besser gerecht werden kann, ist auch für mich noch nicht abschließend geklärt. Jedoch sehe ich bei einer Verordnung den Eingriff in das Direktionsrecht des Arbeitgebers als kritischen Punkt an.
Der zweite Aspekt der Auswirkungen der Pandemiezeit auf die künftige Arbeitswelt steckt für mich in dem Potential des Arbeitsschutzkontrollgesetzes (ArbSchKG), welches unter anderem Änderungen im ArbSchG (Art. 1) und der ArbStättV (Art. 4) zur Folge hatte. Das Gesetz soll laut Gesetzgeber „geordnete und sichere Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie“ herstellen. Es trat zum 1.1.2021 in Kraft und verbietet in der Fleischindustrie unter anderem den Einsatz von Fremdpersonal aufgrund von Werkverträgen. Ab April 2024 soll auch die Leiharbeit in diesem Industriesektor verboten werden, allerdings ist beim Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde gegen dieses sektorale Zeitarbeitsverbot anhängig.
Ein zentrales Ziel dieses Gesetzes ist die Unterbindung eines jahrelang praktizierten Geschäftsmodells in der Fleischindustrie, welches massive Ausbeutung der Beschäftigten ermöglichte. Auch wenn der bisherige Erfolg des Gesetzes in der betrieblichen Praxis von den Akteuren aktuell unterschiedlich bewertet wird, so lässt sich doch konstatieren, dass das Gesetz bisher mehr als 12.000 Beschäftigen in den drei größten Schlachtbetrieben Deutschlands eine feste Anstellung gebracht hat. Dieser Zustand hat natürlich keinen unmittelbaren Einfluss auf die betrieblichen Arbeitsbedingungen. Was es also in den nächsten Jahren auf Basis dieses Gesetzes braucht, ist eine verlässliche staatliche Kontrolle mit klaren Verantwortlichkeiten. Diese bezieht sich nicht nur auf die Kontrolle der Verbotsregelungen und der Einhaltung des Mindestlohns (in dieser überwiegend nicht-tarifgebundenen Branche werden Wege der Umgehung durch Insider und Gewerkschaften immer wieder aufgeführt) sondern vor allem auch auf die Kontrolle der Qualität der Unterkünfte und der Arbeitsbedingungen sowie der Arbeitszeiten.
Gemäß § 21 besteht für die zuständigen Landesbehörden ab 2026 eine Mindestbesichtigungsquote, das heißt mindestens 5 Prozent der im Land vorhandenen Betriebe müssen verbindlich kontrolliert werden. So eine Mindestquote in einem Gesetz verankert zu haben, ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Die Konkretisierung dieser Forderung im Vollzug durch die Länder lässt aktuell natürlich noch sehr viel Spielraum. Die Überwachungsbehörden werden die dafür erforderlichen Ressourcen erkämpfen müssen, alles andere würde mich überraschen. Die Fach-Community wird sehr aufmerksam wahrnehmen, ob es den Behörden gelingt, die entsprechenden personellen Ressourcen aufzubauen, um spätestens 2026 die verankerte Besichtigungsquote umsetzen zu können. Eine Evaluation ist im ArbSchKG lediglich für die Regelung zur Einschränkung des Einsatzes von Fremdpersonal vorgesehen. Für die Mindestbesichtigungsquote ist keine Evaluationsforderung verankert.
Aber es besteht zumindest eine Chance, dass der geänderte Rechtsrahmen, in Verbindung mit mehr staatlichen Kontrollen langfristig auch die Unternehmenskultur in den Schlacht- und Fleischverarbeitenden Betrieben ändert. Ein fairer, partizipativer Umgang mit den Beschäftigten wäre dazu ein wichtiger Meilenstein. Aber auch hier gilt anzumerken: Einige Unternehmen dieses Industriesektors haben das Fenster der Handlungsbereitschaft bereits geöffnet.
In Ihrer Tätigkeit als Professorin für Sicherheitstechnik/Arbeitssicherheit an der Bergischen Universität Wuppertal, interessiert uns natürlich sehr, welche sozial-ethischen Grundsätze und Standards in der Arbeitssicherheit Ihnen besonders am Herzen liegen und wie sie diese den Studierenden vermitteln.
Ich habe als Lehrende die große Freude und zudem auch den Handlungsspielraum den Bachelor- und Masterstudierenden auf der Basis eines soliden methodischen und faktorenspezifischen Fachwissens das Themenfeld Arbeits- und Gesundheitsschutz aus unterschiedlichen Perspektiven und unter Berücksichtigung aktueller Entwicklungen und Trends nahezubringen.
Basis unserer gemeinsamen Lehraktivitäten in der Sicherheitstechnik ist eine solide ingenieurwissenschaftliche Ausbildung. Flankiert wird dieses Vorgehen natürlich von weiteren wichtigen Fachthemen wie zum Beispiel Arbeitsmedizin, Arbeitsschutzrecht und den Grundlagen des wissenschaftlichen Arbeitens. Das praktische Einüben und Anwenden theoretischer Modelle und konkreter Verfahren erfolgt in Übungen, Laboren, Praktika und Studienarbeiten. Da wir neben der Arbeitssicherheit zahlreiche weitere fachliche Schwerpunkte parallel anbieten (zum Beispiel Brand- und Explosionsschutz, Verkehrssicherheit, Bevölkerungsschutz, Qualität und Zuverlässigkeit), wird das interdisziplinäre Verständnis bereits im Bachelorstudiengang angestoßen. Dieser kurze Überblick ist sträflich unvollständig und wird der thematischen Vielfalt des Studiengangs nicht gerecht. Ich möchte aber an dieser Stelle auf einen anderen Aspekt im Lehren und gemeinsamen Lernen abstellen.
Sicherheitsingenieur*innen – die oft auch als leitende Sicherheitsfachkräfte in Unternehmen tätig werden – sind in einer besonderen Beratungs- und Vermittlungsfunktion in Unternehmen. Ihre Weisungsfreiheit ist kein Freibrief, sondern stellt eine ganz besondere Verantwortung dar, die – zumindest in Unternehmen mit einer guten Sicherheitskultur – mit einer hohen Erwartungshaltung einhergeht und entsprechend ausgefüllt werden muss. Um diesen Erwartungen im späteren Arbeitsalltag gerecht werden zu können, sind neben den genannten methodischen und fachlichen Grundlagen vor allem die für die Aufgabe erforderlichen Softskills sowie Werte und Normen entsprechend herauszustellen und in die Lehrformate einzubinden.
Ich versuche daher sehr gezielt, bereits im Bachelorstudiengang und in allen Lehrformaten mit den Studierenden aktiv ins Gespräch zu kommen, um den Prozess der Meinungsbildung zu unterstützen und die Ausbildung eines fundierten Urteilsvermögens zu fördern und zu stärken. Themenbezogene Anlässe dafür gibt es zahlreiche. Im methodischen Kontext ist zum Beispiel der Prozess der Bewertung einer analysierten Tätigkeit von besonderer Bedeutung. Es steht eine zentrale Entscheidung darüber an, ob die bestehenden Maßnahmen im konkreten Fall ausreichend sind oder nicht. Für die betriebliche Praxis ist diese Entscheidung gegebenenfalls mit einer hohen Investition verbunden, die fachlich korrekt begründet werden muss. Die sachlogische Herleitung sollte in einer Art erfolgen, die die Gesprächspartner*in befähigt, die bestehende Ausgangssituation sowie die Entscheidung nachzuvollziehen. Wir diskutieren gemeinsam unter anderem über die Rolle und den Wert von Beurteilungsmaßstäben, den Stand der Technik und die Verhältnismäßigkeit.
Da ich dem Arbeits- und Gesundheitsschutz nicht nur die Rolle eines Technologiebegleiters zuschreibe, sondern die Wertstellung dieses Schutzbereiches auch als Spiegel unserer Gesellschaft verstehe, ist der gesellschaftliche Impact, zum Beispiel hinsichtlich der Risikowahrnehmung und ‑bewertung sowie der Akzeptanz getroffener oder anstehender Maßnahmen ein ebenso diskussionswürdiges wie hoch spannendes ethisches Thema.
Auch die Auseinandersetzung mit der Allokation von Verantwortung, zum Beispiel durch staatliche und betriebliche Regulierungen ist ein wichtiges Themenfeld, welches zum Aufbau eines umfassenden Verständnisses für den Arbeit- und Gesundheitsschutz und auch der Produktsicherheit beitragen soll. Dabei steht zugleich im Fokus, ein Gespür für die eigene Rolle im Unternehmen zu entwickeln und entsprechende Allianzen aufzubauen, die es ermöglichen, Arbeitsschutzaktivitäten effizient zu konzipieren und diese situationsabhängig auch an andere Investitionsentscheidung zu koppeln. Dies zu erkennen und auszuloten ist beispielsweise in Rollenspielen möglich, bei denen die Studierenden unterschiedliche Funktionen von betrieblichen Arbeitsschutzakteuren einnehmen, um sich wertschätzend und argumentativ zu festigen und Kompromissfähigkeit zu entwickeln.
Auch die Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen eines partizipativen Ansatzes, also die gezielte Einbindung der betroffenen Beschäftigten in die Entwicklung von Gestaltungs- und Weiterbildungskonzepten sowie die Ausgestaltung der Zusammenarbeit mit den anderen betrieblichen Akteuren, zum Beispiel den Sicherheitsbeauftragten sowie den Personalräten, zielt auf die Entwicklung eines umfassenden Verständnisses für eine effiziente betriebliche Arbeitsschutzorganisation ab. Auch unter Berücksichtigung besonders schutzbedürftiger Gruppen und zukünftig im Fokus: ältere Beschäftigte. Gerade in solchen Lehr- und Lernformaten spielen sozial-ethische Grundsätze eine diskussionsbestimmende Rolle.
Ein drittes, eher fachspezifisches Beispiel ist die Thematik der Anerkennung von Arbeitsunfällen gemäß Sozialgesetzbuch (SGB) VII. Mit aufbereiteten, aktuellen und gegebenenfalls strittigen Gerichtsurteilen wird der Unfallhergang vorgestellt und die möglichen Entscheidungen über eine Anerkennung zur Diskussion gestellt. Ich bin immer wieder überrascht, wie intensiv sich eine Mehrheit der Studierenden in diese Diskussion einbringt. Auch hier geht es um die Aufstellung von logischen Argumentationsketten, um das Verständnis des handlungsausfüllenden Zusammenhangs und die Handlungstendenz des Verunfallten. Die deutliche Abgrenzung zwischen einem Verständnis auf Basis sozial-ethischer Grundsätze und der Rechtslage ist hierbei für Studierenden häufig prägend.
Auch fachliche Zielkonflikte werden aufgegriffen und deren Auflösung diskutiert, als Beispiel sei hier auf die Gefahrstoffthematik Begasung verwiesen, die einen Zielkonflikt aufwirft im Zusammenwirken der Anforderungen an die Produktsicherheit von Medizinprodukten mit den hohen Arbeitsschutzschutzstandards für die im medizinischen Sektor Beschäftigten. Darüber hinaus sind der betriebliche Umgang mit Strategien wie dem Minimierungsgebot und dem ständigen Verbesserungsprozess durchaus streitbare Themen, die ethische Komponenten aufgreifen und in ihrem Anwendungskontext vielschichtig betrachtet werden können.
Im Masterstudiengang arbeiten wir mit den Studierenden in Kleingruppen an fachlich komplexeren oder auch ersten wissenschaftlichen Fragestellungen. Je nach Aufgabenstellung werden in die Teamsitzungen gezielt auch kontrovers diskutierte Themen eingebunden, wie die Diskrepanz zwischen Rechts- und Regelsetzung des Staates gegenüber des Umsetzungsstands in den Betrieben, Persönlichkeitsschutz gegenüber individueller Schutzmaßnahmen oder auch die Geschlechtergerechtigkeit im Arbeits- und Gesundheitsschutz, zum Beispiel im Rahmen der Grenzwertsetzung.
Und zum Schluss, Ihre „berühmten letzten Worte“ zum Interviewthema Ethik in der Arbeitssicherheit.
Auch auf die Gefahr hin, dass es etwas überzogen klingt, aber Immanuel Kants kategorischer Imperativ „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz werde“ spricht genau jene moralische Rechtfertigung von Handlungen an, denen ein guter Wille zugrunde liegt. Dieser hohe Anspruch an jedes Individuum kann auf eine Vielzahl ethischer Schutzziele übertragen werden.
Das Interview führte Saskia A. Rotterdam