Wie Sicherheit und Gesundheit im Alltag praktiziert werden, ist nicht nur abhängig von den eingeführten Standards und Vorgaben. Vielmehr kommt es darauf an, welche kulturellen Umgangsformen sich in Bezug auf Sicherheit und Gesundheit eingespielt haben, also der jeweiligen Kultur der Prävention. Im Unternehmen A kann es zum Beispiel typisch sein, dass beim Tragen von Schutzausrüstung immer dann ein Auge zugedrückt wird, wenn es schnell gehen muss. Im Unternehmen B dagegen ist es für alle selbstverständlich, dass Mitarbeiter sofort das Gespräch suchen, wenn jemand psychisch unter Druck gerät oder Arbeitsmittel nicht korrekt verwendet werden.
Warum aber gelingt es einigen Firmen, mehr für Sicherheit und Gesundheit zu tun? Und wie lässt sich eine Kultur der Prävention gezielt entwickeln oder fördern?
Kultur-to-go?
Die Forderung, eine Kultur der Prävention zu entwickeln, ist einfacher gesagt, als getan. Denn im Gegensatz zu formalen Regeln und Vorgaben ist die Kultur nichts, wofür sich ein Unternehmen oder Führungskräfte mal eben entscheiden können. Eine Unternehmenskultur – das sind die Verhaltensweisen, die sich im Laufe der Zeit im Unternehmen „irgendwie“ eingespielt haben. Im Tun hat sich ergeben, dass diese oder jene Verhaltensweise gut funktioniert und deshalb hat man sie wiederholt. Erst wenn sie verletzt wird (zum Beispiel von einem Neuling), werden die ungeschriebenen Spielregeln plötzlich sichtbar.
Welche Umgangsformen und Verhaltensweisen also sind selbstverständlich oder normal für alle Beteiligten? Was ist typisch, wie die Dinge gemacht werden? Dies sind Fragen, mit denen man die eigene Kultur erforschen kann. Geht es um die Präventionskultur, so interessieren zum Beispiel folgende Aspekte:
- Wie gehen wir mit Regeln oder Vorgaben wie einer Gefährdungsbeurteilung um? Werden sie formal auf dem Papier erfüllt oder immer wieder im Alltag ins Gespräch gebracht?
- Wie bereiten sich Mitarbeiter auf unerwartete Situationen vor, insbesondere dann, wenn es schnell gehen muss?
- Wird Zeit für eine kurze Risikoanalyse eingeräumt und diese Zeit auch effektiv genutzt? Oder ist das ein notwendiges Übel, dass alle, wenn überhaupt, über sich ergehen lassen?
- Wie aufmerksam sind Beschäftigte für kleine Abweichungen, die sie bei ihrer Arbeit beobachten? Sprechen sie mit anderen darüber oder versuchen sie, diese so gut es geht zu ignorieren?
- Wie schätzen Beschäftigte die Meinung oder Feedback von anderen? Als Affront oder als wertvollen Hinweis?
Das 5‑Stufenmodell als Brille für die eigene Präventionskultur
Zur Selbstbeobachtung der eigenen Präventionskultur ist das 5‑Stufenmodell der DGUV (vgl. Gebauer, 2017, in Anlehnung an Hudson, 2001) hilfreich. Es nennt fünf „typische“ Verhaltensmuster, die sich auf den Umgang mit Sicherheit und Gesundheit beziehen. Während die unteren Stufen gleichgültiges, reaktives oder ein rein regelorientiertes Verhaltensmuster beschreiben, bündeln die Stufen 4 und 5 Verhaltensmuster, die typisch sind für eine Kultur der Prävention.
Einige Ansätze, die ein Agieren auf den Stufen 4 und 5 verdeutlichen, sollen hier vorgestellt werden.
Schnell und effektiv auf Veränderungen reagieren
Ein hilfreicher Ansatz ist es, schnell und effizient auf das Wissen und die Erfahrung der Praktiker vor Ort zurückzugreifen. Das gelingt, wenn Beschäftigte und Führungskräfte darin geübt sind Problemlösetechniken gemeinsam anzuwenden. In wöchentlichen Teamtreffen werden Probleme identifiziert, priorisiert und gemeinsam nach Lösungen gesucht. Es geht dabei nicht darum, konkrete Vorgaben zu machen, sondern einen praktikablen Weg zu finden, wie mit Beteiligung der Beschäftigten routiniert Entscheidungen getroffen werden.
Ein Beispiel: Fällt Beschäftigten in einem Betrieb auf, dass einzelne Arbeitsgänge nicht mehr in hoher Qualität geleistet werden und Anzeichen von Stress, Abgeschlagenheit oder auch Schlafstörungen zunehmen, ist es selbstverständlich, dass die Belastungssituation beim Teamtreffen besprochen wird. Dafür gibt es extra den festen Tagesordnungspunkt: Sicherheit und Gesundheit. Und auch klare Absprachen dazu, wie Führungskräfte mit solchen Meldungen lösungsorientiert umgehen sollen.
Durch die formalen Änderungen
- regelmäßiger Tagesordnungspunkt in Sitzungen und
- klare Anweisung an Führungskräfte zum Umgang mit Meldungen zu kritischen Belastungssituationen
wird also der Umgang mit gesundheitlichen Risiken verändert. Sie werden nicht mehr ignoriert (oder versucht intrapersonelle, individuelle Lösungen zu finden), sondern es wird angestrebt zusammen auch die Ursachen im System zu erkennen und zu bearbeiten.
Handeln in Notfallsituationen
Treten plötzlich Sicherheitsrisiken auf, zum Beispiel an einer Maschine, reicht es natürlich nicht, auf das nächste Teamtreffen zu warten. Hier hilft es, wenn die Beschäftigten über Strategien verfügen, wie sie sofort entscheidungsfähig werden. Einige Betriebe haben eine gut eingeführte und bewährte Praxis, dass sich sofort alle Beteiligten und die Führungskraft zusammensetzen und anhand von Leitfragen zu einer gemeinsamen Risikoeinschätzung und Entscheidung kommen (siehe hierzu Praxishilfe Kampagne kommmitmensch der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen: Dreisatz für Warnsignale).
Um in Notfallsituationen schnell reagieren zu können, ist es sinnvoll, bereits im normalen Arbeitsalltag einen intensiven Austausch über mögliche Problembereiche, auch Beinahe-Unfälle, zu führen. Hier sind beispielsweise Lernteams ein Ansatz (siehe hierzu Praxishilfe Kampagne: Lernteams). Im Lernteam geht es nicht darum, eindeutige Ursache-Wirkungszusammenhänge zu definieren. Vielmehr lernt das Team, wie es im Alltag mit der gegebenen Komplexität sowie mit Abweichungen und Überraschungen umgehen kann. Neben einer Sensibilisierung für Sicherheit und Gesundheit ermöglicht dies, sinnvolle Verbesserungsmaßnahmen zu finden – bevor etwas passiert.
Aufmerksamkeit gezielt fördern
Damit Sicherheit und Gesundheit nachhaltig Eingang in die Unternehmenskultur finden, bedarf es einer dauerhaften Aufmerksamkeit. Das gelingt immer dann am besten, wenn sich Beschäftigte aktiv mit Sicherheit und Gesundheit auseinandersetzen. Lernteams sind hier ein Ansatz oder auch gemeinsame Sicherheitsrundgänge, bei denen Risikostellen identifiziert werden. Ebenso aktivieren Gesundheitszirkel, Ideentreffen oder die für die Kampagne entwickelten kommmitmensch-Dialoge den Austausch – und schaffen so neben guten Verbesserungsansätzen auch mehr Sensibilität für Sicherheit und Gesundheit im Arbeitsalltag.
Wege zur Kultur der Prävention
Auch Unterweisungen können so gestaltet werden, dass sie alle Beteiligten aktivieren und sensibilisieren anstatt sie nur zu informieren. So können Beschäftigte beispielsweise selbst Themen aus ihren Bereichen aufbereiten und vorstellen oder es werden gemeinsam konkrete Problemstellungen erarbeitet. Hinweise finden sich zum Beispiel in der DGUV‑I 211–005 „Unterweisung – Bestandteil des betrieblichen Arbeitsschutzes“.
Wenn sich Produktionsprozesse oder Anforderungen von Kunden an Dienstleistungen verändern, können auch neue Risiken entstehen. Die Gefährdungsbeurteilung muss damit Schritt halten und aktuell gehalten werden. Sie ist eine tragende Säule der Kultur der Prävention, wenn sie als ein lebendes Dokument verstanden wird und immer wieder unter Beteiligung der Beschäftigten geprüft wird, ob sie gute Antworten auf die täglichen Risiken und künftigen Herausforderungen gibt. Damit die Gefährdungsbeurteilung Kultur fördert, sollte auch vermerkt sein, wie mit unvorhersehbaren Risiken umgegangen wird, also wie dann eine Entscheidung gefällt wird.
Die zentralen Akteure
Eine Kultur der Prävention lebt vom Engagement der Leitung und der Führungskräfte. Viele Unternehmen, vor allem aber die größeren, haben Sicherheit und Gesundheit in ihrem Leitbild verankert. Damit diese das tägliche Handeln tatsächlich prägen und Grundlage der Unternehmenspolitik werden, müssen auf höchster Leitungsebene die Werte Sicherheit und Gesundheit mitgetragen und bei allen Entscheidungen mitgedacht werden.
Die Kampagne der gesetzlichen Unfallversicherung und ihrer Träger
Führung, Kommunikation und Beteiligung sind zentrale Stellschrauben. Hier schließt sich der Kreis zur Kampagne der DGUV und ihrer Träger. Dort sind diese Aspekte neben Fehlerkultur und Betriebsklima die Handlungsfelder, die letztlich dazu beitragen, dass Sicherheit und Gesundheit selbstverständlich im Betriebsalltag werden. Sicherheit und Gesundheit ist damit das sechste und letztlich übergeordnete Handlungsfeld und gleichzeitig auch das letztendliche Ziel der Kampagne.
Die aktive Unterstützung der Betriebe bei der Entwicklung einer Kultur der Prävention lässt sich am Beispiel der BG ETEM gut nachvollziehen. Eine breit angelegte Kampagne, die sowohl klassische Kommunikationskanäle als auch soziale Medien nutzt, soll zunächst Aufmerksamkeit wecken. Zielgruppen sind betriebliche Entscheidungsträger und Führungskräfte. Im Betrieb vor Ort sind die Aufsichtspersonen der BG ETEM die ersten Ansprechpartner. Sie nehmen die zentrale Lotsenfunktion wahr und beraten zur Kampagne, soweit es ihnen aufgrund der betrieblichen Situation angemessen erscheint. Wenn ein ernsthaftes Interesse des Betriebs an einer systematischen Kulturentwicklung erkennbar ist, bieten sie ein Gespräch mit einem Arbeitspsychologen des regionalen Präventionszentrums an.
In diesem Klärungsgespräch werden mögliche Ziele, Maßnahmen und Vorgehensweisen besprochen und Tools und Handlungshilfen vorgestellt. Der von dem Arbeitspsychologen empfohlene Prozess zielt auf eine nachhaltige Kulturentwicklung. Präventionskulturberater können dabei eine wertvolle Unterstützung sein. Daher bieten die Arbeitspsychologen größeren Betrieben an, Präventionskulturberater hinzuzuziehen, um dem Bedarf nach einer systematischen Prozessberatung und ‑begleitung zu entsprechen.
Die Präventionskulturberater sind durch Qualifizierungsmaßnahmen mit dem Konzept der BG ETEM zur Entwicklung einer Kultur der Prävention vertraut. Sie moderieren Workshops und können die Betriebe zu allen Fragen rund um die Kulturentwicklung beraten und unterstützten. Damit kann ein nachhaltiger Prozess zur Entwicklung einer Kultur der Prävention einsetzen. Der Prozess wird begleitet und evaluiert.
Weiterführende Literatur
- DGUV‑I 211–005 „Unterweisung – Bestandteil des betrieblichen Arbeitsschutzes“
- Gebauer, A. (2017). Kollektive Achtsamkeit organisieren: Strategien und Werkzeuge für eine proaktive Risikokultur. Stuttgart: Schäffer-Pöschel
- Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse (BG ETEM) (2018). Gemeinsam zur Kultur der Prävention – So läuft es rund im Betrieb – Broschüre für Verantwortliche
- Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse (BG ETEM) (2015). Unterweisungen planen und durchführen
- Präventionskampagne: www.kommmitmensch.de
Die Werte Sicherheit und Gesundheit müssen auf höchster Leitungsebene mitgetragen und bei allen Entscheidungen mitgedacht werden.
Dr. Annette Gebauer
Interventions for Corporate Learning GmbH