Der Ansatz der Sicherheitskultur geht ursprünglich auf Katastrophenszenarien wie Tschernobyl oder Deep Water Horizon zurück, und umfasst in dieser Konsequenz insbesondere das Ziel der Prävention von Fehlern menschlicher und organisatorischer Natur, die low frequency and high severity events nach sich ziehen (Cooper 2018). Die prominentesten theoretischen Modelle beziehen sich dabei in unterschiedlicher Art und Weise auf ähnliche Faktoren: Gemeinschaftlich geteilte Werte, (un)ausgesprochene Annahmen über Sicherheit, Lernprozesse zwischen Individuen und verschiedenen Organisationsebenen, Ziele, Erwartungen und Führung. Weiterhin auf sogenannte Artefakte, die im Rückgriff auf die wohl gängigste Kulturdefinition nach Schein (1992) sichtbare Manifestation einer Sicherheitskultur darstellen. Das können Verhaltensweisen, formalisierte Gesprächsstrukturen, aber auch Sicherheitsinspektionen, Plakate usw. sein. Auch dieser Tatsache ist es wohl geschuldet, dass bislang mehr die kulturelle Komponente einer Sicherheitskultur als die Komponente Sicherheit in diesen Modellen betrachtet wird. Das schlägt sich auch in häufig zu beobachtenden Sätzen im Zusammenhang mit Arbeitssicherheit nieder: Dass Kultur die „Art und Weise ist, wie man hier mit Dingen umgeht“ (Hopkins 2019). An dieser Stelle wird auch deutlich, dass es keine generalisierte und theoretisch begründete Eingrenzung gibt, was eine Sicherheitskultur in der Breite ausmacht und folglich, was die Erfolgsfaktoren für eine Transformation in die Praxis sind (Glesner et al. 2020; Antonsen 2009).
Interessant ist in diesem Kontext auch die Verankerung und der Stellenwert des Verhaltensaspektes der Organisationsmitglieder in den meisten theoretischen Ansätzen. Ob es nun im Sinne einer funktionalistischen Perspektive, ein durch das Management kulturell geprägter top-down‑, oder im Sinne einer interpretativen Perspektive eher ein bottom-up Ansatz ist, in welchem die Werte gemeinschaftlich durch Interaktion gebildet werden. Das Verhalten spielt immer eine Rolle. Sei es als Treiber oder als Ergebnis einer Sicherheitskultur. Obgleich es für beide Positionen gute Argumente gibt, fällt vor allem die Betonung menschlicher Faktoren auf (Schulman 2020). Kulturelle Manifestationen können auch nicht-menschliche Elemente sein, wie zum Beispiel Sicherheitskameras, (elektronische) Zugangssysteme, Türen, oder sogar Unfallreportingsysteme – es fehlt, paradoxerweise, aber bislang an ausreichender Evidenz, wie diese Elemente eine individuelle oder organisationale Sicherheitskultur beeinflussen und bilden (Rollenhagen 2010).
Ebenso vielfältig wie die Definitionsversuche sind die Ansätze, sich dem Konstrukt in der Praxis zu nähern. Dabei hat sich eine Sichtweise scheinbar durchgesetzt, die zwischen der individuellen und strukturellen Ebene von Sicherheitskultur unterscheidet. Um die Ausgangsfrage zu beantworten, müssen wir also noch ein wenig tiefer graben.
Die individuelle Ebene
Ein 2016 veröffentlichter Review zum Forschungsstand der letzten 30 Jahre (Cooper 2016) stellt fest, dass die statistische Beziehung zwischen dem, was man in der Psychologie als attitude bezeichnet (ein Set von Emotionen, Verhalten und Überzeugungen gegenüber etwas), und dem Outcome safety performance (z. B. sicherheitsorientierte Führung, Gefahrenreduktion, reduzierte Unfallhäufigkeit usw.) nur sehr schwach oder kaum existent ist. Dieser Modellansatz wird folglich nicht von Evidenz gestützt. Das bedeutet nicht zwangsweise, dass der Zusammenhang nicht da ist. Mindestens aber, dass er bislang nicht belegt werden kann. Außerdem wird konstatiert, dass es an Belegen zum Zusammenhang zwischen Werten und safety outcomes mangelt, bzw. an Studien insgesamt. Die Ergebnisse des Reviews können zuerst verwundern, denn rein logisch macht der Gedanke Sinn: Wenn das Festhalten am Treppengeländer kulturelles Allgemeingut wird, ist die Chance für Stürzen oder Umknicken auf der Treppe zwar nicht gleich null, wahrscheinlich aber geringer (Achtung: anekdotische Evidenz). Der Review kommt aber ebenso zu dem Schluss, dass es gute Belege für den Zusammenhang zwischen safety performance und Verhalten (im Allgemeinen als behaviour-based safety bezeichnet) sowie der Existenz eines formalen safety managements gibt.
Dass der Faktor Wahrnehmung in der gesamten Diskussion aber weiterhin nicht vernachlässigt werden darf, zeigen zum Beispiel Studien aus dem Stahlsektor. Hier wird darauf hingewiesen, dass ein von den Mitarbeitern als trade-off wahrgenommenes Verhältnis zwischen sicherem Verhalten und Produktivität sicherheitsrelevantes Verhalten nicht nur erschwert, sondern die Wahrnehmung bestärkt, dass diese Verantwortung vor allem auf den eigenen Schultern lastet (Nordlöf et al. 2015). Das Verhalten scheint also in vielerlei Hinsicht eine wichtige Komponente zu sein.
Die organisationale Ebene
Ohne Verhalten mit Kultur gleichzusetzen, kann Kultur als Treiber von Verhalten verstanden werden. Forschung aus dem Bereich der high reliability organizations (z. B. Atomkraftwerke oder Luftfahrt), wo Sicherheit als Primat über anderen Werten steht, zeigt, dass die persönliche Identifikation mit dem Unternehmen und dessen Strukturen ein kritisches Element bzgl. sicherem Verhalten ist (Schulman 2020). Zunächst ein Gegensatz zu den oben beschriebenen Erkenntnissen, bezieht sich dieser Aspekt der Identifikation allerdings auf Prozesse und Strukturen, wie zum Beispiel auf Unternehmensstrategien zur Vermeidung von Unfällen. Sicherheit kann in diesem Zusammenhang auch zweischrittig als die Implementierung eines safety managements, ergänzt durch eine Sicherheitskultur verstanden werden, in der die Werte durch die Strukturen und Prozesse sowie deren Einhaltung durch die Belegschaft als Werte reflektiert werden (Reason 2005). Dabei spielen auch Frühindikatoren, wie zum Beispiel unsichere Handlungen, eine Rolle. Mehr vielleicht noch die Einstellung der Organisation gegenüber und der Umgang mit solchen Indikatoren. Das passt zu der Definition von Sicherheit gemäß des Psychologen Weick (2011), der Sicherheit nicht als die Abwesenheit von Unfällen, sondern als einen Prozess proaktiver Anstrengungen zur Vermeidung zukünftiger Ereignisse beschrieben hat.
Einen Ansatz, Sicherheitskultur nicht direkt umzusetzen, sondern soz. ein Beobachtungsinstrument zur Feststellung möglicher Handlungsschwerpunkte zu etablieren, welches auf den hier gegebenen Ausführungen fußt, stellen wir im Folgenden vor: Den Sicherheitskulturindex.
Ein möglicher Angriffspunkt: Der Sicherheitskulturindex
Der Index besteht aus drei Komponenten, die quantitativ durch eine Formel miteinander in Beziehung gesetzt werden und einen gemeinsamen Prozentwert bilden. Die drei Komponenten werden als Bewusstseinsindex, Dialogindex, und Präventionsindex bezeichnet.
Während der Bewusstseinsindex analog zur Unfallpyramide das Verhältnis zwischen Unfällen und Beinaheunfällen mit dem Korrekturfaktor 5 in Beziehung zueinander setzt, illustriert der Präventionsindex die Compliance zur Einhaltung geplanter Präventionsgänge. Diese fokussieren sich in Ergänzung zu den Inspektionen auf verhaltensbasierte Beobachtungen während der Ausübung einer vorab ausgesuchten Tätigkeit. Ziel dieser Beobachtung ist es, insbesondere positive sicherheitsrelevante Aspekte der Arbeitsausführung aufzunehmen und so noch verstärken zu können. Der Dialogindex hingegen quantifiziert das Verhältnis zwischen unsicheren Handlungen und dazu geführten Sensibilisierungsgesprächen. Wird eine unsichere Handlung seitens eines Vorgesetzten registriert, bedient er sich einer vorab gemeinsam mit der Mitbestimmung definierten Konsequenzenmatrix. Dieses Verfahren sieht unter anderem vor, dass je nach Schweregrad die unsichere Handlung (1) im Unfallmeldetool registriert und evaluiert wird, (2) durch die Software automatisch eine Maßnahme zum Führen eines Sensibilisierungsgespräches generiert wird, und (3) dieses Gespräch mit dem Mitarbeiter innerhalb von zwei Wochen nach Meldung auch geführt wird. Erst dann gilt die Maßnahme als erledigt. Die Absicht hinter diesem Vorgehen ist, unsichere Handlungen nicht nur sichtbar im Sinne einer Fehlerkultur als Lernobjekt zu dokumentieren – der Name des Mitarbeiters ist nur dem jeweiligen Vorgesetzten bekannt –, sondern auch, das Verhalten in einem nicht zu großen Abstand zum Ereignis gemeinsam zu reflektieren. Welcher Personenkreis an diesem Gespräch teilnimmt, hängt vom Schweregrad der Handlung ab.
Unsichere Handlungen zielen analog zu den eingangs beschriebenen Elementen einer Sicherheitskultur auf den Verhaltensaspekt ab, während Bewusstseins- und Präventionsindex eher auf Engagement der Führung oder proaktive Bewusstseinsbildung abzielen. Mit dem Gedanken der Vorstufe eines Verhaltens, das potenziell zu einem Unfall führen kann (unsichere Handlungen sind Teil von Beinaheunfällen), kann argumentiert werden, dass so gewünschtes, sicheres Verhalten und damit verbundene Werte bereits in einem frühen Stadium transportiert werden. Auch kann diese Vorgehensweise an sich bereits als Artefakt einer Sicherheitskultur gesehen werden.
Durch das monatliche Berichtswesen wird der gesamte Index regelmäßig beobachtet und kommuniziert, was es zudem ermöglicht, zum Beispiel größere Abweichungen in den Indizes über die Monate hinweg kurzfristig zu analysieren.
Fazit
Die beschriebene Quantifizierung ist im Kern der Versuch einer Komplexitätsreduktion hinsichtlich eines vielschichtigen Konstruktes. Auch wenn sich der schlussendliche Nutzen erst noch zeigen muss, ist der Ansatz im Sinne einer proaktiven Adressierung der Sicherheitskultur als kontinuierlichem Verbesserungsprozess mehr als einen Versuch wert. Führt man sich die oben skizzierten theoretischen Modelle noch einmal vor Augen, fällt auf, dass sie sich nicht mehr ausschließlich auf die als high risk organiza-tions bezeichneten Settings beziehen und folglich mehr im Blickfeld haben als Ereignisse mit katastrophengleichem Ausgang. Auch eine solche Verlagerung kann zu einer Verwässerung in den theoretischen Konzepten führen. Eine neuere systematische Überblicksarbeit (Aburumman et al. 2019) zeigt, dass insbesondere die Interventionen zur Verbesserung der Sicherheitskultur erfolgversprechend sind, die sich auf Verhaltensmonitoring sowie auf den Führungsstil des Managements und deren Fokus auf Arbeitssicherheit beziehen.
Auch wenn in der Überblicksarbeit von einer eher schwachen methodischen Qualität der einbezogenen Studien die Rede ist, war eine abschließende Forderung der Autoren unter anderem, die bislang existierenden Erkenntnisse stärker weg von der theoretischen Ebene hin zur Interventionsforschung zu bewegen – will sagen, in praktische Kontexte. In diesem Verständnis fungiert auch der beschriebene Sicherheitskulturindex, der an sich keine eigene Maßnahme darstellt, aber die Grundlage dafür bieten soll.
Literaturverzeichnis
- Aburumman, Mohammed; Newnam, Sharon; Fildes, Brian (2019): Evaluating the effectiveness of workplace interventions in improving safety culture. A systematic review. In: Safety Science 115 (1), S. 376–392. DOI: 10.1016/j.ssci.2019.02.027.
- Antonsen, Stian (2009): Safety culture and the issue of power. In: Safety Science 47 (2), S. 183–191. DOI: 10.1016/j.ssci.2008.02.004.
- Cooper, Dominic (2016): Navigating the safety culture construct: a review of the evidence. Hg. v. BSMSInc. Online verfügbar unter https://www.researchgate.net/publication/305636897_Navigating_the_safety_culture_construct_a_review_of_ the_evidence_July_2016.
- Cooper, Dominic (2018): The Safety Culture Construct: Theory and Practice. In: Claude Gilbert, Benoît Journé, Hervé Laroche und Corinne Bieder (Hg.): Safety Cultures, Safety Models. Taking Stock and Moving Forward. Cham: Springer International Publishing (SpringerBriefs in Safety Management), S. 47–61.
- Glesner, Colin; van Oudheusden, Michiel; Turcanu, Catrinel; Fallon, Catherine (2020): Bringing symmetry between and within safety and security cultures in high-risk organizations. In: Safety Science 132 (6), S. 104950. DOI: 10.1016/j.ssci.2020.104950.
- Hopkins, Andrew (2019): Organising for Safety: How structure creates culture. North Ryde: CCH Australia Limited.
- Nordlöf, Hasse; Wiitavaara, Birgitta; Winblad, Ulrika; Wijk, Katarina; Westerling, Ragnar (2015): Safety culture and reasons for risk-taking at a large steel-manufacturing company. Investigating the worker perspective. In: Safety Science 73 (4), S. 126–135. DOI: 10.1016/j.ssci.2014.11.020.
- Reason, J. (2005): Safety in the operating theatre – Part 2. Human error and organisational failure. In: Quality & safety in health care 14 (1), S. 56–60.
- Rollenhagen, Carl (2010): Can focus on safety culture become an excuse for not rethinking design of technology? In: Safety Science 48 (2), S. 268–278. DOI: 10.1016/j.ssci.2009.07.008.
- Schein, Edgar (1992): Organizational Culture and leadership. 2nd. San Francisco: John Wiley & Sons.
- Schulman, Paul R. (2020): Organizational structure and safety culture. Conceptual and practical challenges. In: Safety Science 126 (4), S. 104669. DOI: 10.1016/j.ssci.2020.104669.
- Weick, Karl E. (2011): Organizing for Transient Reliability. The Production of Dynamic Non-Events. In: Journal of Contingencies and Crisis Management 19 (1), S. 21–27. DOI: 10.1111/j.1468–5973.2010.00627.x.
Ciel Neuhaus
Doktorandin bei der thyssenkrupp Steel Europe AG in Kooperation mit der Universität Duisburg-Essen
Dr. Yannick Metzler
Corporate Safety Manager im Geschäftsfeld Stahl der thyssenkrupp Steel Europe AG