Die sicherheitstechnische und arbeitsmedizinische Betreuung der Betriebe ist in Deutschland im Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit (ASiG) geregelt, das 1973 in Kraft trat und seither nicht mehr substanziell angepasst wurde. Es regelt die Aufgaben, Bestellung und Qualifikation von Betriebsärzten (BA) und Fachkräften für Arbeitssicherheit (Sifa).
Während im Gesetz die Qualifikation relativ detailliert festgelegt wurde, blieben die Aufgaben im Detail und insbesondere der notwendige zeitliche Umfang der Betreuung der DGUV Vorschrift 2 (bzw. ihren Vorgängern) vorbehalten, die so das ASiG konkretisiert.
Die DGUV Vorschrift 2 ist eine Unfallverhütungsvorschrift, die derzeit in einer Projektgruppe des Fachbereichs „Organisation von Sicherheit und Gesundheit“ der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) aktualisiert wird – unter anderem da sie in der Fläche nicht mehr erfüllbar ist.
Entwicklungen seit Inkrafttreten des ASiG und ihre Folgen
Betrachtet man die Situation des Arbeitsschutzes Anfang der 1970er Jahre, so war die Arbeitswelt stark von mechanischen Gefahren, Gefahrstoffen, physisch schwerer Arbeit sowie Lärm geprägt. Psychische Belastungen, die es natürlich schon gab, standen nicht im Fokus der Prävention. Auch war die Arbeitspsychologie – aber auch die Arbeitswisschenschaften und ‑hygiene – universitär und institutionell noch im Aufbau. Somit ist es nicht verwunderlich, dass das ASiG die Beratung der Betriebe auf die Professionen beschränkte, die zum Zeitpunkt seiner Entstehung in größerer Zahl vorhanden waren und die einen Beitrag zu den damals wichtigsten Gefährdungen und Belastungen leisten konnten. Dies waren auf der einen Seite die Sicherheitsingenieure, ‑techniker und ‑meister für Beratungen der Unternehmer und der Beschäftigten zu mechanischen, chemischen und vergleichbaren Gefährdungen und Belastungen sowie die Arbeitsmediziner für die Durchführung von Eignungs- und Vorsorgeuntersuchungen und für die Beratung in gesundheitlichen Fragen.
Inzwischen hat sich die Arbeitswelt stark verändert: Zwar sind die genannte „traditionelle“ Gefährdungen und Belastungen weiterhin zu finden – ein deutlich größeres Gewicht in der Präventionsarbeit nehmen aber nun die Folgen der Digitalisierung, psychische Belastungen, Entgrenzung der Arbeit, ungünstige soziale Beziehungen und die Schnittstelle Mensch – Maschine ein. Hierzu ist eine deutlich breitere Expertise erforderlich, als es sie in den 1970er Jahren gab. Zudem stehen nun mit den Arbeits- und Organisationspsychologen, Arbeitswissenschaftlern und Arbeitshygienikern auch Professionen in einer größeren Anzahl zur Verfügung, die in der Beratung der Betriebe zu den aktuellen Themen einen wichtigen Beitrag leisten könnten.
Hinzu kommt, dass die Zahl der Arbeitsmediziner rückläufig ist. Mehr als die Hälfte der ausgebildeten Arbeitsmediziner ist mehr als 65 Jahre alt (Neumann & Brüning, 2019); zudem ist die Mehrzahl der arbeitsmedizinisch ausgebildeten Ärzte nicht (mehr) betriebsmedizinisch tätig. So bestätigte eine Statistik der Bundesärztekammer 2021, dass von rund 12.000 arbeitsmedizinisch ausgebildeten Ärztinnen und Ärzten lediglich knapp 3.500 betriebsmedizinisch tätig waren.
Bemühungen der Unfallversicherungsträger, der Ärztekammern und Fachverbände zur Steigerung der Attraktivität der Arbeitsmedizin für angehende Ärzte waren nicht ausreichend erfolgreich. Daher wird die Lücke zwischen den benötigten und den zur Verfügung stehenden Ärzten trotz leicht steigender Absolventenzahlen immer größer (Barth, Hamacher & Eickholt, 2014, sowie Schäfer, Hollich & Charisse, 2021). Dies führt dazu, dass Klein- und Mittelbetriebe – insbesondere in ländlichen Gebieten – zunehmende Schwierigkeiten haben, eine arbeitsmedizinische Beratung zu organisieren. Für diese Arbeitgeber ist die Vorschrift in der jetzigen Form objektiv nicht erfüllbar.
Überarbeitung der DGUV Vorschrift 2
Der Prozess der Überarbeitung
Die DGUV Vorschrift 2 wird aktuell in einer Projektgruppe überarbeitet, an der neben Fachleuten der Unfallversicherungsträger die Sozialpartner, das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMAS), die Sozialministerien der Länder sowie die Fachverbände (für die Betriebsärzte der VDBW, für die Sifa der VDSI und für die Arbeitspsychologen und anderen Berufsgruppen der PASIG) beteiligt sind.
Die Projektgruppe griff zum einen die oben genannten Entwicklungen (Veränderung der Arbeitswelt und Mangel an Betriebsärzten) auf. Zum anderen sollten zahlreiche Ungenauigkeiten und Mängel beseitigt werden, die eine umfangreiche Evaluation der Vorschrift 2016 aufdeckte – etwa die unzureichende Verständlichkeit der Vorschrift, die ungeregelte Berechnung von Teilzeitkräften, die mangelnde Abgrenzung der Aufgaben der Grundbetreuung und der betriebsspezifischen Betreuung sowie das Fehlen einer Fortbildungsverpflichtung für Sifas (Wetzstein et al., 2017).
In acht Treffen der Projektgruppe sowie in zahlreichen Einzelgesprächen mit Sozialpartnern und Ministerien konnte für fast alle zu klärenden Punkte eine Lösung gefunden werden, die von allen oder der großen Mehrheit der Mitglieder der Projektgruppe mitgetragen wurden. Dies betrifft insbesondere:
- Die Aufteilung der Vorschrift in einen verbindlichen (Vorschrift) und erläuternden Teil (Regel) und ihre redaktionelle Überarbeitung.
- Die Aufnahme einer Fortbildungsverpflichtung für Sifas.
- Eine bessere Abgrenzung von Grundbetreuung und betriebsspezifischer Betreuung.
- Vereinfachter Zugang zur Sifa-Ausbildung für weitere Professionen.
- Eine vielfältigere Betreuung der Betriebe im betriebsspezifischen Teil.
- Die Aktualisierung der WZ-Code-Liste.
- Die Konkretisierung der Regelung, wenn der Betrieb keinen Betriebsarzt findet.
- Erhöhung der Grenze für Kleinbetriebe von zehn auf 20 Beschäftigte.
Noch keine Lösung wurde hingegen für zwei Punkte gefunden, die bis heute zwischen den Sozialpartnern, aber auch teilweise zwischen den übrigen Beteiligten strittig sind:
- Dies betrifft zum einen die Berücksichtigung von Teilzeitkräften. Hier galt bisher für die Auswahl des Betreuungsmodells das so genannte ASiG-Modell (§ 2 Abs. 5 ASiG), in dem Teilzeitkräfte bis zu 20 Wochenstunden zu 50%, bis zu 30 Wochenstunden zu 75% und darüber voll gezählt werden. Es ist weiterhin strittig, ob dieses Berechnungsmodell auch für die Berechnung der Grundeinsatzzeit gelten soll.
- Noch umstrittener ist die Frage, in welcher Form die Vorschrift auch in der Fläche wieder erfüllbar gemacht werden kann. Da mehrere Millionen betriebsärztliche Stunden fehlen und hier nicht mit einer Entspannung in den kommenden Jahren zu rechnen ist, bliebe als Ausweg nur die Konzentration der noch zur Verfügung stehenden betriebsärztlichen Kapazitäten auf die Tätigkeiten mit direktem Arzt-Beschäftigten-Kontakt (z.B. Vorsorge oder Beratungen zu individuellen Problemen). Dies würde aber bedeuten, dass der Umfang der betriebsärztlichen Tätigkeiten in der Beratung der Unternehmer (Grundbetreuung) reduziert werden muss. Ein vorgeschlagener Ausweg war hierbei die Modifikation der verpflichtenden Mindesteinsatzzeiten von Sifa und Betriebsarzt (20% der Grundeinsatzzeiten, in Gruppe III sogar 40%) durch Neufassung der Anlage 2 (zu § 2 Abs. 3), Abschnitt 2. Nach diesem Modell würde in der Vorschrift lediglich festgelegt, dass an der Grundbetreuung sowohl Sifa als auch Betriebsärzte zu beteiligen sind, der Umfang wäre aber nur in der Regel zu finden. In dieser Frage verlief die Diskussion bisher sehr kontrovers: Während die Befürworter des Vorschlages auf die dann mögliche Erfüllbarkeit der Vorschrift in der Fläche und die verbesserte Möglichkeit einer fachlich breiteren Betreuung verweisen, befürchten die Gegner des Vorschlages einen Abbau der gut funktionierenden arbeitsmedizinischen Betreuung in den Großbetrieben und eine weitere Reduktion der Bereitschaft, eine arbeitsmedizinische Ausbildung zu beginnen.
Der Dissens in den o.g. Fragen beeinflusste den Gang der Beratungen stark: Zwar wurde Ende 2019 bereits ein erster Entwurf der überarbeiteten Vorschrift und einer zugehörigen (neuen) Regel fertig gestellt, die eigentlich 2020 den zuständigen Gremien der Unfallkassen und Berufsgenossenschaften zur Stellungnahme zugehen sollte. Vor diesem Stellungnahmeverfahren sollten allerdings die strittigen Fragen in einem Workshop der Sozialpartner auf Bundesebene diskutiert werden. Dieser wurde coronabedingt verschoben und wird nun Ende 2021 stattfinden. Daher ist kaum vor Ende 2022 mit einem Inkrafttreten einer überarbeiteten DGUV Vorschrift 2 zu rechnen.
Die gravierendsten Veränderungen
Es wäre bedauerlich, wenn der aktuelle Entwurf der überarbeiteten DGUV Vorschrift 2 noch lange „auf Eis“ läge – enthält er doch viele positive Ansätze und stellt eine deutliche Verbesserung im Vergleich zur aktuell geltenden Vorschrift dar. Dies betrifft nicht nur die Verständlichkeit der Vorschrift, sondern auch die fachliche Erweiterung der Beratung der Betriebe durch die Einbeziehung weiterer Professionen: So soll bei der Betreuung der Betriebe zukünftig auch auf Fachleute jenseits der Ingenieurswissenschaften und Medizin zurückgegriffen werden.
Dies soll durch die Einbeziehung weiterer Professionen – gedacht ist an Physiker, Chemiker, Biologen, Humanmediziner, Ergonomen, Arbeits- und Organisationspsychologen, Arbeitshygieniker und Arbeitswissenschaftler – in die Ausbildung der Sifa erreicht werden. Diese werden dann das gleiche Curriculum durchlaufen wie die Sifa mit ingenieurswissenschaftlich-technischem Hintergrund und hätten dann im Regelfall die uneingeschränkte Möglichkeit, Betriebe nach ASiG zu betreuen, sofern die jeweils notwendige bereichsspezifische Ausbildung erworben wurde. Gerade überbetrieblichen Diensten sowie den sicherheitstechnischen und arbeitsmedizinischen Diensten größerer Betriebe würde es mit dieser Öffnung der Vorschrift nun möglich, mit einem interdisziplinären Sifa-Team die Betriebe bedarfsgerecht zu betreuen.
Weiterhin wurde die Option des Einsatzes von Spezialisten in der betriebsspezifischen Beratung der Betriebe geschaffen, die keine Sifas oder Betriebsärzte sind. Neben technischen Spezialisten (z.B. zum Lärm- oder Brandschutz) können hier auch Arbeitspsychologen tätig werden – zum Beispiel zur Planung und Durchführung größerer Mitarbeiterbefragungen im Zuge der Einbeziehung der psychischen Belastungen in die Gefährdungsbeurteilung.
In der Überarbeitung der DGUV Vorschrift 2 ist es allerdings nicht gelungen, die „weiteren“ Professionen als eigenständige Säule der betrieblichen Betreuung neben Sifas und Betriebsärzten zu etablieren. Dies wäre ohne Anpassung des ASiG nicht möglich gewesen, die von Seiten des BMAS aktuell aber nicht für nötig angesehen wird.
Folgen für die Universitäten
Durch die Erweiterung der Liste der Professionen, die als Sifa ausgebildet werden können, wird es zum Beispiel Arbeits- und Organisationspsychologen zukünftig möglich sein, an der Grundbetreuung der Betriebe voll teilzunehmen – insbesondere als Teil eines interdisziplinären Teams in einem überbetrieblichen oder auch betrieblichen Dienst. Zudem wurde der Zugang zur Beratung im betriebsspezifischen Teil der Betreuung erleichtert.
Bereits jetzt beinhaltet die universitäre Ausbildung vieler Professionen Themen, die auch Bestandteil der Sifa-Ausbildung sind. Es gilt nun, die Curricula der universitären Ausbildung und die Ausbildung als Sifa so zu verzahnen, dass die doppelte Behandlung einzelner Themen vermieden wird und die Ausbildungszeiten verkürzt werden.
Fazit
Die aktuellen Überlegungen zur Reform der sicherheitstechnischen und arbeitsmedizinischen Betreuung werden die Vorschrift besser verständlich und erfüllbarer machen. Sie sollten daher schnellstmöglich umgesetzt werden.
Die überarbeitete Vorschrift wäre aber nur eine Zwischenlösung, da sie – wie ihre Vorgänger – auf dem veralteten Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) basiert. Dieses spiegelt eine Arbeitswelt der 1960er Jahre wieder und müsste grundlegend reformiert werden.
In einem reformierten ASiG könnte dann vom Betrieb aus gedacht werden:
- Zu welchen Themen besteht dort tatsächlich ein hoher Beratungsbedarf?
- Welche Professionen können zu den Themen die fachlich fundierteste Beratung anbieten?
- Wie kann die universitäre und weitere Ausbildung sicherstellen, dass genügend Fachkräfte für die Beratung zu allen Themen vorhanden sind?
- Mit welchen Organisationsmodellen lässt sich die interdisziplinäre Zusammenarbeit der Berater fördern?
- Welche Beratungsmodelle fördern eine Verstetigung der Verbesserungen von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit in besonderem Maße?
Berücksichtigt man bei der Überarbeitung des ASiG und einer dann neu justierten DGUV Vorschrift 2 die o. g. Fragen, wird es gelingen, die Situation von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit weiter voranzubringen – zugunsten von Beschäftigten und Betriebe gleichermaßen.
Literatur
- Neumann, S. & Brüning, T. (2019). Weiterbildung Arbeits- und Betriebsmedizin. IPA-Journal 3/2019, S. 40–41. Bochum: Institut für Prävention und Arbeitsmedizin.
- Barth, C., Hamacher, W. & Eickholt, C. (2014). Arbeitsmedizinischer Betreuungsbedarf in Deutschland. Dortmund/Berlin/Dresden: BAuA.
- Schäfer, K., Hollich, H. & Charisse, M. (2021).
Betriebsärztlicher Betreuungsbedarf in Deutschland. In: DGUV Forum 6/2021. Wiesbaden: Universum - Wetzstein, A., Rahnfeld, M., Bell, F. & Edelhäuser, S. (2017). Evaluation der DGUV Vorschrift 2, Anlage 2. DGUV Report 1/2017, Berlin: DGUV.
Autor: Dr. Torsten Kunz
Präventionsleiter der Unfallkasse Hessen
Aktives Mitglied im Fachverband Psychologie für Arbeitssicherheit und Gesundheit e.V. www.fv-pasig.de
Fachverband Psychologie für Arbeitssicherheit und Gesundheit e.V. (PASiG)
PASiG fördert die Forschung und Anwendung von interdisziplinärem Wissen und Erkenntnissen im Arbeitsschutz. Die tiefgreifenden Veränderungen in der Arbeitswelt erfordern ein multidisziplinäres Vorgehen. Vor allem Kompetenzen aus der Arbeitspsychologie, Arbeitswissenschaft/Ergonomie, Arbeitshygiene und Gesundheitswissenschaft sind neben Sicherheitstechnik und Arbeitsmedizin erforderlich. Sie tragen dazu bei, sowohl persönliches Verhalten, die Arbeit und ihre Umgebung, als auch systemische Prozesse in Unternehmen zu optimieren. Mit gemeinsamen interdisziplinären Bestrebungen kann die Arbeitswelt besser und bedarfsgerechter geschützt und die Gesundheit im Berufs- und Privatleben gefördert werden.