Hemmschwellen überwinden
Was hält Beschäftigte davon ab, Sicherheitsbeauftragte zu werden? Hemmschwellen dafür gibt es einige: Manche befürchten, zur Verantwortung gezogen zu werden, falls sie eine Gefährdung übersehen sollten. Andere sorgen sich, von den Kolleginnen und Kollegen als Kontrolleure oder verlängerter Arm der Unternehmensleitung angesehen zu werden. Sind geeignete Personen nicht gleich zur Hand, nehmen Führungskräfte das Amt mitunter einfach selbst wahr. Warum diese scheinbar naheliegende Lösung grundsätzlich keine gute Lösung ist, erschließt sich aus den Vorschriften und Schutzzielen zur Prävention.
Grundlagen und Aufgaben der Sicherheitsbeauftragten
Alle wesentlichen Anforderungen an die Beauftragung von Sicherheitsbeauftragten ergeben sich aus § 20 der DGUV Vorschrift 1 „Grundsätze der Prävention“. In den sechs Absätzen dieses Paragraphen werden Kriterien für die Anzahl der Sicherheitsbeauftragten (Absatz 1), deren Aufgaben (Absatz 2), die Voraussetzungen für deren Aufgabenwahrnehmung (Absätze 3 und 4), eine Schutzklausel (Absatz 5) sowie das Recht auf Aus- und Fortbildung (Absatz 6) beschrieben. Da die eher allgemein gehaltenen Schutzzielformulierungen des Vorschriftentextes allein jedoch nicht ausreichen, um komplexe Themen zu beschreiben, enthält die DGUV Regel 100–001 „Grundsätze der Prävention“ weiterführende Erläuterungen und Präzisierungen zum Erreichen der in den Paragraphentexten beschriebenen Schutzziele sowie Umsetzungshilfen, zum Beispiel in Form von Musterbestellungsurkunden. Darüber hinaus existiert auch die DGUV Information 211–042 „Sicherheitsbeauftragte“, welche nicht an die formalen Gestaltungsgrundsätze von DGUV Vorschriften und DGUV Regeln gebunden ist und durch Fotos, Graphiken und andere anschauliche Beispiele praxisnäher aufgebaut ist.
Aus diesen Schriften leiten sich fünf wesentliche Gründe ab, warum sich Führungskräfte als Sicherheitsbeauftragte nicht eignen. In diesem Beitrag wird bewusst der Begriff „Führungskraft“ verwendet, auch wenn in der DGUV Vorschrift 1 „Grundsätze der Prävention“ fast immer nur der Begriff „Unternehmer“ gebraucht wird. Einerseits erfolgt dies, da auch nachrangige Führungskräfte bis hin zur Ebene der Gruppenleiter oder Vorarbeiter unternehmerische Verantwortung innerhalb des Verantwortungsbereichs des Unternehmers tragen können, und andererseits, um den im staatlichen Arbeitsschutzrecht verwendeten Begriff „Arbeitgeber“ mit einschließen zu können.
Grund 1: Alle für einen, einer für alle
Gemäß § 20 Abs. 1 der DGUV Vorschrift 1 hat in […] Unternehmen mit regelmäßig mehr als 20 Beschäftigten […] der Unternehmer unter Berücksichtigung der im Unternehmen bestehenden Verhältnisse hinsichtlich der Arbeitsbedingungen, der Arbeitsumgebung sowie der Arbeitsorganisation Sicherheitsbeauftragte in der erforderlichen Anzahl zu bestellen. Kriterien für die Anzahl der Sicherheitsbeauftragten sind:
- Im Unternehmen bestehende Unfall- und Gesundheitsgefahren;
- Räumliche Nähe der zuständigen Sicherheitsbeauftragten zu den Beschäftigten;
- Zeitliche Nähe der zuständigen Sicherheitsbeauftragten zu den Beschäftigten;
- Fachliche Nähe der zuständigen Sicherheitsbeauftragten zu den Beschäftigten;
- Anzahl der Beschäftigten.“
Bei mehr als 20 Beschäftigten wird also davon ausgegangen, dass der Unternehmer einerseits andere Aufgaben wahrnimmt (weshalb eine fehlende fachliche Nähe unterstellt werden kann) und andererseits auch nicht mehr über die notwendige räumliche beziehungsweise zeitliche Nähe zum Arbeitsumfeld der Beschäftigten verfügt, um die sich aus den betrieblichen Verhältnissen ergebenden Gefährdungen erkennen zu können. Der Unternehmer soll sich also von Personen unterstützen lassen, die ihr Arbeitsumfeld kennen und deshalb zum Beispiel um die sicherheitstechnischen Tücken eines Arbeitsplatzes, die persönlichen Verhaltensweisen der Beschäftigten, das typische Unfall- oder Beinahunfallgeschehen oder den Soll-Zustand von Anlagen und Betriebsmitteln (… und was tatsächlich vorhanden ist …) wissen.
Je größer der Betrieb, desto wichtiger
Je mehr Beschäftigte vorhanden sind beziehungsweise je mehr unterschiedliche Arbeitsplätze es gibt, desto schwieriger wird es für Führungskräfte, die vielleicht gegebenen Defizite zu erkennen. Sicherheitsbeauftragte sind also bildlich gesprochen die offenen Augen und Ohren des Unternehmers, wobei dieses Bild im besten Sinne des Wortes gemeint ist und nicht mit Spitzelei und Denunziantentum verwechselt werden sollte.
Es gilt deshalb das Motto der Musketiere in umgekehrter Reihenfolge: Alle
(= die Sicherheitsbeauftragten) achten für einen (= den Unternehmer beziehungsweise die Führungskraft) auf Sicherheitsdefizite. Sie gehen entweder selbst dagegen vor oder melden sie, damit der eine (der Unternehmer beziehungsweise die Führungskraft) die Sicherheit für alle (Beschäftigte inklusive Sicherheitsbeauftragte) gewährleisten kann.
Grund 2: „Es kann nur einen geben!“
§ 20 Absatz 2 der DGUV Vorschrift 1 „Grundsätze der Prävention“ liefert einen weiteren Grund, warum Führungskräfte nicht gleichzeitig auch Sicherheitsbeauftragte sein sollen: „Die Sicherheitsbeauftragten haben den Unternehmer bei der Durchführung der Maßnahmen zur Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten zu unterstützen, insbesondere sich von dem Vorhandensein und der ordnungsgemäßen Benutzung der vorgeschriebenen Schutzeinrichtungen und persönlichen Schutzausrüstungen zu überzeugen und auf Unfall- und Gesundheitsgefahren für die Versicherten aufmerksam zu machen.“
Dieser Satz verdeutlicht, dass grundsätzlich von mindestens zwei verschiedenen Personen mit unterschiedlichen Aufgaben und in unterschiedlicher Position gesprochen wird. Auch wenn neben dem Unternehmer weitere Personen Führungsaufgaben übernehmen können, überwiegt doch die Anzahl der Beschäftigten die Anzahl der Führungskräfte zumeist deutlich. Insofern können einzelne Personen nicht solche Aufgaben übernehmen, für die eigentlich mehrere Personen notwendig sind. Sicherheitsbeauftragte nehmen lediglich Unterstützungsaufgaben wahr
- gegenüber dem Unternehmer, welcher die Gesamtverantwortung für die Arbeitssicherheit und den Gesundheitsschutz im gesamten Unternehmen trägt, beziehungsweise
- gegenüber der vorgesetzten Führungskraft, die nur für ihren Zuständigkeitsbereich verantwortlich ist.
Die beschriebenen Aufgaben der Sicherheitsbeauftragten setzen aber die räumliche, zeitliche und fachliche Nähe zum jeweiligen Arbeitsumfeld voraus, was vom Unternehmer nicht verlangt wird beziehungsweise nicht verlangt werden kann.
Ein Blick in die konkretisierende DGUV Regel 100–001 verdeutlicht in Abschnitt 4.2, was gemeint ist: Eine angemessene Anzahl der Sicherheitsbeauftragten orientiert sich z. B. daran, dass die Sicherheitsbeauftragten die in ihrem Zuständigkeitsbereich tätigen Beschäftigten persönlich kennen. Die Mindestanzahl der zu bestellenden Sicherheitsbeauftragten legt der Unternehmer auf der Grundlage der oben genannten Kriterien betriebsbezogen fest. Konkretisierende Empfehlungen für die Staffelungen der Anzahl der Sicherheitsbeauftragten erfolgen durch den zuständigen Unfallversicherungsträger.“
Auch dieser Abschnitt differenziert deutlich zwischen der Stellung der Führungskraft und jener der Sicherheitsbeauftragten, indem ersterer festlegt, wie viele Sicherheitsbeauftragte zu bestellen sind.
Grund 3: „Führen kann man nicht von vorne!“
Zugegeben: Dieser militärische Grundsatz mag in der heutigen Zeit etwas martialisch wirken. Er beschreibt jedoch recht gut, warum strategische Entscheidungen nicht an der Front, sondern eher in der Etappe getroffen werden. Direkt an der Front haben militärische Entscheider nur einen begrenzten Wahrnehmungsbereich und können deshalb von dem Geschehen einen falschen Eindruck erhalten. In der relativen Ruhe der Etappe hingegen können Informationen gesammelt und – meist zusammen mit dem Führungsstab – bewertet werden.
Ähnlich verhält es sich mit der Führung eines Unternehmens: Damit sich Führungskräfte eine objektive Meinung bilden können, ist es für sie wichtig, dass sie sowohl unterschiedliche Aspekte bewerten als auch eine gewisse Distanz wahren können. Im Gegensatz dazu ist es die Aufgabe der Sicherheitsbeauftragten, das eigene Arbeitsumfeld mitsamt den Eigenheiten der Kolleginnen und Kollegen genau zu kennen. Für eine Führungskraft wird dies allerdings umso schwieriger, je größer das Unternehmen ist. Selbst wenn Führungskräfte versuchen, die Tuchfühlung zur Basis zu halten, kann der im Rahmen einer Begehung oder Besprechung gewonnene Eindruck doch meistens nur eine Momentaufnahme der jeweils betrachteten Situation beziehungsweise Stimmung sein, welche zudem gegebenenfalls noch durch die eigene Wahrnehmung beeinflusst wird. Zudem müssen die Verhältnisse in einer Abteilung auch noch lange nicht für das gesamte Unternehmen gelten.
Hierzu ein Beispiel: Bei der Begehung eines Arbeitsplatzes mag der hinsichtlich technischer Ausstattung, Platzbedarf, Klima, Lautstärke und sonstigen offensichtlichen Faktoren gewonnene Eindruck in Ordnung sein. Ob aber auch die Chemie zwischen den Beschäftigten stimmt, es zu Belastungen aufgrund der Arbeitsorganisation kommt oder andere nicht direkt offensichtliche Faktoren eine Rolle spielen, vermögen nur jene Personen zu benennen, die tagtäglich in diesem Bereich arbeiten.
Da solche eher „weichen“ Faktoren selbst bei gleicher Ausstattung und gleichem Arbeitsablauf die Bedingungen von Arbeitsbereichen stark zu beeinflussen vermögen, können Sicherheitsbeauftragte in der jeweils erforderlichen Anzahl helfen, diese Probleme aufzudecken und bei ihrer Lösung zu helfen.
Grund 4: „Wer bin ich?“
Um die sich aus der Führungsposition ergebenden Aufgaben und Verantwortlichkeiten erfüllen zu können, müssen Führungskräfte mit den jeweils hierzu notwendigen Vollmachten und Entscheidungsbefugnissen ausgestattet sein. Sicherheitsbeauftragte sollen hingegen ausdrücklich frei von Verantwortung sein, wie die DGUV Regel 100–001 „Grundsätze der Prävention“ in Abschnitt 4.2.2 verdeutlicht: „Sicherheitsbeauftragte üben ihre Aufgabe im Betrieb nicht hauptamtlich, sondern ehrenamtlich neben ihrer eigentlichen Aufgabe aus. Entgegen den anderen Beauftragten im Betrieb, z. B. Strahlenschutzbeauftragte, Umweltschutzbeauftragte, haben Sicherheitsbeauftragte keine Verantwortung für die ihnen übertragenen Aufgaben hinsichtlich dieser Funktion. Sie unterstützen die im Betrieb für den Arbeitsschutz verantwortlichen Personen nach dem Motto: „Vier Augen sehen mehr als zwei“. Daraus ergibt sich, dass Personen mit Führungsverantwortung, z. B. Meister, Vorarbeiter, Gruppenleiter, nicht zu Sicherheitsbeauftragten bestellt werden sollten.“
Während Sicherheitsbeauftragte also ein Ehrenamt bekleiden, welches sie jederzeit niederlegen können, haftet die Verantwortung wie das sprichwörtliche Kaugummi am Schuh der Führungskräfte. Wenn Führungskräfte das Amt eines Sicherheitsbeauftragten in Personalunion ausüben, müssten sie sich ständig die Frage stellen, in welcher Funktion sie gerade agieren. Dieser Aspekt ist umso wichtiger, sobald Entscheidungen hinsichtlich der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes getroffen werden müssen: Ist ein Mangel wirklich so schwerwiegend, dass die Sicherheit nicht mehr ausreichend gewährleistet ist? Oder wiegen die Störung des Betriebsablaufs und die zu erwartenden Kosten schwerer?
Indem gezielt Beschäftigte ohne Weisungsbefugnis als Sicherheitsbeauftragte bestellt werden, soll deren Unabhängigkeit gewahrt bleiben. Abgesehen von den eher moralischen Fragen, die eine Personalunion von Führungskraft und Sicherheitsbeauftragte/r aufwerfen, können sich auch handfeste rechtliche Probleme ergeben, zum Beispiel wenn Defizite in der Betriebsorganisation ursächlich für die Entstehung von Unfällen sind.
Grund 5: „Stille Post“
Mag die Unternehmenskultur noch so gut sein: Sobald Hierarchieunterschiede bestehen, wird man mit der ranghöheren Person nicht mehr so offen und mit der gleichen Unbefangenheit reden wie unter Gleichgestellten. Je größer die Hierarchieunterschiede werden, desto größer wird in der Regel auch die Befangenheit, unangenehme Themen anzusprechen. Gleiches gilt für die Art und Weise, wie man miteinander spricht.
Hier liegen die großen Chancen der Sicherheitsbeauftragten: Indem sie aus dem Kreis der Beschäftigten erwählt werden und durch ihr Amt nicht höhergestellt sind, finden sie meist eher eine Ebene des offenen Dialogs zu ihrem Umfeld. Aufgrund der in § 20 Absatz 5 der DGUV Vorschrift 1 „Grundsätze der Prävention“ verankerten Schutzklausel (Die Sicherheitsbeauftragten dürfen wegen der Erfüllung der ihnen übertragenen Aufgaben nicht benachteiligt werden.) können und sollen sie auch die Funktion des Mittlers zu den Führungskräften wahrnehmen.
Was für die eine Richtung zutreffend ist, gilt auch für die andere: Manche notwendige Anweisung einer Führungskraft findet aufgrund der fehlenden Nähe zu den Beschäftigten nicht die angemessene Akzeptanz. Wird jedoch die gleiche Botschaft von einer zum Beispiel aufgrund ihrer Erfahrung oder Besonnenheit im Kreise der Beschäftigten besonders akzeptierten Person übermittelt, die zudem womöglich noch den richtigen Ton trifft und auch jederzeit für Rückfragen zur Verfügung steht, wird diese wahrscheinlich sehr viel eher akzeptiert werden.
Identifikation mit dem Arbeitsschutz?
Die genannten Gründe sind nicht abschließend zu verstehen, sondern sollen die wichtigsten Gründe im Kontext der Vorschriften darstellen. Ergänzend kann man sich zum Beispiel auch die Frage stellen, wie sich die Beschäftigten mit dem Arbeits- und Gesundheitsschutz identifizieren sollen, wenn ihnen diese Aufgaben von der Führungskraft abgenommen werden. Gleiches gilt für das Wecken von Interesse bei den Beschäftigten, sich selbst für den Arbeits- und Gesundheitsschutzes zu engagieren. Wie sonst sollten sie den Arbeits- und Gesundheitsschutz ernst nehmen und für sich verinnerlichen?
Aufgaben delegieren können
Sicherlich ist Engagement der Führungskräfte in vielen Fällen gut gemeint und lobenswert, doch die hohe Kunst einer guten Führung besteht auch darin, Aufgaben gut, also im richtigen Maße und auf die zur eigenständigen Erfüllung der Aufgaben geeigneten Personen, delegieren zu können.
Es mag durchaus Fälle geben, in denen die Personalunion von Führungskraft und Sicherheitsbeauftragter funktioniert. Diese Fälle dürften jedoch eher auf jene Situationen beschränkt sein, in denen nur sehr wenige Beschäftigte einer Führungskraft unterstellt sind, die Hierarchieunterschiede gering sind und in denen die Führungskraft noch mit den an den Arbeitsplätzen gegebenen Verhältnissen vertraut ist. Auch wenn diese Fälle existieren, sind sie weder die Regel noch sind sie in den hier zitierten Schriften ausdrücklich vorgesehen.
Es spricht sicherlich nichts dagegen, wenn sich Führungskräfte in die Rolle der Sicherheitsbeauftragten hineinversetzen, doch sollte vor dem Hintergrund der vorgestellten Gründe stets der alte Grundsatz beachtet werden, dass Führungskräfte an der Spitze stehen und Sicherheitsbeauftragte an der Basis wirken. Oder anders ausgedrückt: Äpfel sind nicht gleich Birnen.
Immer bleibt die Frage: In welcher Funktion agiere ich gerade?