Adrian Mattern, wie kam es zu Ihrer Leidenschaft für Wildwasserschluchten und Wasserfälle?
Als ich neun war haben mein Vater und ich in Heidelberg zusammen angefangen mit dem Kajakfahren auf Vereinsebene. Mit Zehn hätte ich den Sport beinahe wieder drangegeben, denn nach einem Unglück im Odenwald hatte ich erstmal keinen Bock mehr auf Kajakfahren, wirklich Null Komma Null: Ich war unter einen Baum geraten, hatte mich mit dem Kajak verkeilt und hing hilflos im Wasser. Mein Vater konnte mich dann irgendwie befreien. Er hat es auch geschafft, mich langsam wieder an den Sport und das kalte Wasser heranzuführen. Das ist ein Drahtseilakt bei einem Kind – es regelmäßig zu motivieren, aber auch nicht zu sehr zu pushen. Er hat das wirklich gut gemacht und so habe ich langsam meine Angst überwunden. Mit fast 13 hatte ich dann das erste Mal wieder so richtig Spaß am Kajakfahren. Da waren wir in einem Wildwasserpark in Hüningen. Ich habe dann meine gesamte Freizeit dafür aufgewendet, bin schnell aus den Vereinsschuhen herausgewachsen und war für ein paar Jahre in der Nationalmannschaft. 2013 bei der WM in den USA kam es dann für mich zu einem Schlüsselerlebnis: Ich hatte mich vom Training weggestohlen und war außerhalb des offiziellen Kurses unterwegs. Das war wegen des Verletzungsrisikos eigentlich untersagt. Aber für mich war es mein bislang schönstes Erlebnis und ab diesem Zeitpunkt war mir klar, dass ich mein eigenes Ding machen muss. Extremsport betreiben muss, außerhalb des Regelwerks.
Stichwort Verletzungsrisiko: Wie viel Kontrolle haben Sie denn in der reißenden Strömung von Wildwassern und Wasserfällen noch über Ihr Boot?
Es ist mir persönlich sehr wichtig, zwischen kalkuliertem und unkalkuliertem Risiko zu unterscheiden. Diesen wenigen Sekunden auf dem Wasserfall geht ein unglaublicher Aufwand voraus, um alles so sicher und kontrolliert wie möglich zu machen. Das heißt, ich besichtige den Wasserfall bei verschiedenen Wasserständen. Ich überlege mir eine Linie, die ich langfahren muss. Und ich definiere Gefahrenzonen und den Worst Case. Gibt es irgendwelche Höhlen, wie sieht der Landungsplatz aus, wie geht es weiter nach dem Pool? Wie ist die Abbruchkante beschaffen, droht irgendwo Steinkontakt auf halbem Weg? All diese Fragen müssen im Voraus geklärt werden.
Hinzu kommt die Absicherung im Unglücksfall: Haben wir Kontakt zum nächsten Krankenhaus, gibt es einen Krankenwagen, haben wir genug Erste Hilfe-Material? Das braucht man in der Wildnis, da gibt es nichts um uns herum. Wir haben natürlich ein Satellitentelefon dabei und jeder ist in Erster Hilfe fit. Aber es gilt – das ist auch mein persönlicher Anspruch – all diese Risikofaktoren im Voraus zu kennen und einschätzen zu können. Nur wenn ich dann sage, die Kosten-Nutzen-Rechnung geht für mich auf, lasse ich mich auf das Abenteuer ein. Das alles sieht man natürlich sehr selten in den Videos, aber es nimmt tatsächlich 90 Prozent meiner Zeit in Anspruch.
Also gibt es durchaus Vorhaben, die Sie abbrechen?
Genau, sogar oft. Diese Entscheidungen sind nicht zuletzt abhängig von der Tagesform. Man muss da brutal ehrlich mit sich sein, um sich auch mal einzugestehen, das traue ich mir jetzt nicht zu, dass ich zum Beispiel an dieser Stelle mit der Strömung ganz nach rechts komme und dann genau von dort über die Fallkante fahre und die und die Schläge mache, damit ich da eine kontrollierte Befahrung garantieren kann. Dieser psychologisch-mentale Anteil, diese Kopfstärke und extreme Ehrlichkeit zu sich selbst, macht das Kajakfahren für mich so reizvoll und mega spannend. Und man muss sich immer bewusst sein: Der Fluss ist stärker als man selbst. Das verlangt nach Respekt und ist ein ganz entscheidender Punkt im Kajaksport.
Das sind natürlich auch Erfahrungswerte. Ich fahre seit zwanzig Jahren Kajak und die letzten zehn Jahre mit über 250 Tagen im Jahr. Ich habe da unglaublich viele Stunden und Energie reingesteckt. Und wie das bei allen Sachen so ist: Man steigert sich, fängt mit einem Meter Falltiefe an, irgendwann sind es fünf, dann vielleicht zehn, zwanzig und auf einmal 45. Das ist aber ein jahrelanger Prozess. Man kann hier nicht einfach mal so auf einem hohen Level einsteigen. Das würde nicht gut ausgehen.
Ihre Trips machen Sie nicht allein. Wie wichtig ist die Gemeinschaft in Ihrem Sport?
Kajakfahren ist ein Einzelsport, weil man allein in seinem Kajak sitzt, aber der Teamgedanke ist extrem wichtig. Viele Expeditionen und Befahrungen könnten allein gar nicht durchgeführt werden. Und wenn ich mich in eine Situation reinmanövriere, aus der ich mich selbst nicht befreien kann, können mir nur die anderen das Leben retten. Und natürlich auch andersrum. Man schenkt sich da erstmal einen Riesenvorsprung an Vertrauen und auf dieser Grundlage entstehen unheimlich intensive Freundschaften. Man lernt sich sehr gut kennen, wenn man gemeinsam Extremsituationen durchsteht. Meistens im Guten, manchmal auch im Schlechten.
Diese vielen Aspekte machen den Kajaksport für mich aus: die Zeiten auf dem Fluss, die Freundschaften, die Erlebnisse, die vielen Orte und Landschaften, die man ohne Kajak niemals zu sehen bekäme. Das ist längst nicht nur ein Sport, sondern ein Lebensstil.
Steckbrief von Adrian Mattern
- geboren 1995 in Heidelberg
- leidenschaftlicher Wildwasser-Kajakfahrer
- startete 2006 seine Karriere
- war Mitglied der Kanu-Freestyle-Nationalmannschaft
- sucht seit 2013 weltweit nach gigantischen Stromschnellen und Wasserfällen
- befuhr 2017 als persönlichen Rekord den 45 Meter hohen Wasserfall „Big Banana“ in Mexiko
- dokumentiert seine Trips auf Facebook und Instagram
- ist seit 2019 Red Bull Athlet
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