Ziel der Thesis war es, eine effektiv strukturierte Unfallanalyse für die innerbetriebliche Anwendung zu konzeptionieren. Das Forschungsdesign bestand insbesondere aus einer eingehenden Literaturanalyse und einer umfangreichen Befragung von Experten aus Berufsgenossenschaften, Unfallkassen, Gewerbeaufsichtsämtern und Fachabteilungen der Landespolizei Baden-Württemberg. Für einen hohen Praxisbezug wurden zudem inner- und überbetriebliche Fachkräfte für Arbeitssicherheit befragt.
In der strukturierten Unfallanalyse konnten die Vorteile der bestehenden Unfallanalysemodelle zusammengeführt werden. Die nützlichen Bestandteile aus den Vorgehensweisen der Experten in der Unfallanalyse wurden in das Verfahren integriert (inklusive Lösungen für Schwachstellen). So ist das Verfahren zielführend sowie durch den hohen Praxisbezug in verschiedenen Unternehmenskontexten (unterschiedliche Größe, Branche und Risikopotenzial) und in der gelebten Praxis konkret anwendbar.
Mit den Erläuterungen der Konzeption ist diese ohne spezielle Vorkenntnisse anwendbar. Jede Führungskraft sollte die strukturierte Unfallanalyse durchführen können.
Das Verfahren
Die strukturierte Unfallanalyse ist eine aus zehn Schritten bestehende, retrospektive Unfallanalyse (Abb. 1). Sie ist ein Verfahren, das eine übergeordnete Richtschnur vorgibt und innerhalb der Schritte die Durchführung mehrerer Unfallanalysemodelle zulässt. Die Modelle beziehungsweise Methoden sind in notwendig und optional differenziert.
Im Folgenden werden die einzelnen Schritte erläutert: Bevor mit der Beweissicherung begonnen wird, muss zunächst ein sicherer Zustand hergestellt werden (z. B. muss ein Brand zuerst gelöscht werden). Da dies Grundvoraussetzung für den Einstieg in die strukturierte Unfallanalyse – aber nicht Bestandteil dieser – ist, soll auf die Sicherung des Unfallortes hier nicht weiter eingegangen werden.
Vergängliche Spuren werden durch eine Fotodokumentation des Unfallortes möglichst schnell gesichert (Vorweg). Sie ist entscheidend für die darauffolgende Unfallanalyse.
Die Durchführung der Unfallanalyse erfolgt in einem Analyse-Team (Schritt 1), das ereignisbezogen zusammengestellt wird und über ausreichende personelle Kapazitäten verfügt. Die Führungskraft des Verunfallten veranlasst das Verfahren und leitet das Team. Unterstützt wird sie von der Fachkraft für Arbeitssicherheit (Sifa), einem Sicherheitsbeauftragten (Sibe) und, sofern vorhanden, einem Mitarbeitervertreter (Betriebsrat, Personalrat oder Mitarbeitervertretung). Nur bei Bedarf werden weitere interne oder externe Experten hinzugezogen (z. B. Betriebsarzt, Maschinenhersteller). Das Analyse-Team bearbeitet die folgenden Schritte gemeinsam oder arbeitsteilig und beginnt mit der Problembeschreibung (Unfallereignis und Unfallfolgen) und Zieldefinition (gleiche und ähnliche Unfälle zukünftig verhindern). Besprechungen finden gemeinsam statt. Durch das Vier-Augen-Prinzip wird die Neutralität der Analyse sichergestellt.
In Schritt 2 folgt eine objektive und detaillierte Faktensammlung am Unfallort, bestehend aus:
- Sichtung des Unfallorts (Zustand beteiligter Arbeitsmittel [fest/beweglich], beteiligte Hilfsmittel, Stellung von Bedienelementen/Not-Aus, Umgebungsbedingungen),
- Sichtung von Dokumenten (Gefährdungsbeurteilung, Betriebsanweisungen, Unterweisungsnachweise, Produktdatenblätter, Fehlerprotokolle, Störmeldungen),
- Erfassung aller Beteiligten inklusive deren Einschränkungen (z. B. Behinderung),
- Befragungen und Überprüfungen (Veränderungen, Arbeitsaufgabe, Gruppenarbeit, Kommunikation, Unterbrechungen, Unfallzeitpunkt, Funktionsfähigkeit und Zustand (z. B. Normalbetrieb, Wartung) von Arbeitsmitteln/technischen Anlagen, Rechtskonformität, Prüffristen, Zustand und Kennzeichnung von Gefahrstoffen, Materialproben, Vorhandensein und Nutzung von PSA, Schutzmaßnahmen [vor dem Unfall] und Umsetzung, vergangene Unfälle und deren Konsequenzen, Unfallnachstellung).
Wird ein eilender Handlungsbedarf (Gefahr im Verzug) festgestellt (Schritt 3), werden Sofortmaßnahmen umgesetzt und deren Wirksamkeit sichergestellt (innerhalb von 24 Stunden). Ein eilender Handlungsbedarf kann beispielsweise entstehen, wenn an einer Maschine oder in einem Arbeitsvorgang ein Unfall verursacht wird, der an ähnlichen oder identischen Maschinen oder Arbeitsvorgängen ebenfalls verursacht werden könnte.
Anhand der gesammelten Informationen aus Schritt 2 wird der eigentliche Ablauf des Ereignisses (Unfallhergang) rekonstruiert und in einer Ereigniskette übersichtlich dargestellt (Schritt 4). Bei komplexen Sachverhalten mit mehreren Akteuren empfiehlt sich die Darstellung des Unfallhergangs mit Ereignisbausteinen (einzelne Bausteine für jede Handlung jedes Akteurs [Mensch oder Komponente]; optional). Am Ende werden die Ereignisbausteine in einem Zeit-Akteur-Diagramm (Ereignisbausteindiagramm; Abb. 2) übersichtlich dargestellt. Der Unfallhergang enthält die Betrachtung der Unfallgegenstände (z. B. Arbeitsmittel), die Tätigkeit(en) während des Unfalls in zeitlichem Verlauf (z. B. Einrichtbetrieb) und den Unfallvorgang (z. B. eingezogen werden). Auf Kausalzusammenhänge ist in diesem Schritt möglichst zu verzichten. Es können Hintergründe offenbleiben, die erst im nächsten Schritt untersucht werden. In allen Schritten sind Sachverhalte zu belegen und Vermutungen als solche zu kennzeichnen.
Die tiefreichende Ursachensuche (Schritt 5) ist das Herzstück der strukturierten Unfallanalyse (Abb. 3). Hier werden die grundlegenden Unfallursachen (Root-Causes) hinter den offensichtlichen Unfallursachen (Direct-Causes) ermittelt (Root-Cause-Analysis). Jede offensichtliche Unfallursache hat Verbindungen zu einer oder mehreren grundlegenden Unfallursachen. Sind alle offensichtlichen Unfallursachen festgestellt, werden mit der 5‑Warum-Fragemethode (Ermittlung der jeweils tieferen Ursachenebene mit einem fragenden Warum) die grundlegenden Unfallursachen ermittelt. Dabei findet die Ursachensuche in allen Unfallfeldern (technische, organisatorische und personenbezogene Unfallursachen) statt.
In der tiefreichenden Ursachensuche werden alle Bedingungen, aktive und latente Fehler, die Ursachen sicherheitskritischen Verhaltens und Abweichungen betrachtet und hinterfragt (z. B. Arbeitsfähigkeit des Verletzten, fehlende Schutzvorrichtungen, Maschinenmanipulationen). Außerdem wird eine Compliance-Prüfung durchgeführt (kritische Betrachtung des Arbeitsplatzes in der Arbeitsschutzorganisation). Erst wenn alle Warum-Fragen beantwortet sind, kann die Ursachensuche beendet werden. Für die übersichtliche Erstzuordnung von offensichtlichen Unfallursachen empfiehlt sich die Anwendung des Ishikawa-Modells (optional) und für die genauere Betrachtung, insbesondere von technischen Unfallursachen, die Fehlerbaumanalyse (optional). Am Ende wird aus der Unfallursachen-Gesamtheit eine Ursachenkette erstellt, die die stammbaumartige Verzweigung der Unfallursachen grafisch darstellt.
Zur Abstellung der ermittelten Unfallursachen und zur Durchbrechung der Ursachenkette werden in Schritt 6 Schutzmaßnahmen entwickelt. Dabei ist darauf zu achten, dass die Schutzmaßnahmen ursachenbezogen wirken, die Unfallursachen dauerhaft abstellen, möglichst viele Root-Causes beseitigen und keine neuen oder anderen Gefahren verursachen. Die Maßnahmenhierarchie (STOP-Prinzip) ist einzuhalten. Aus den möglichen Maßnahmen werden die geeignetsten Maßnahmen ausgewählt. Bei der Auswahl sind die (begrenzten) Möglichkeiten der Einflussnahme, die Wirksamkeit und die Wirtschaftlichkeit zu berücksichtigen.
In einem Maßnahmenplan (Schritt 7) wird die Umsetzung der entwickelten Maßnahmen anhand von Prioritäten festgelegt. Der Maßnahmenplan enthält eine Umsetzungs‑, Wirksamkeits- und Erhaltungsstrategie.
In Schritt 8 wird die Übertragbarkeit der Erkenntnisse aus der Unfallanalyse auf andere Prozesse (z. B. Arbeitsverfahren, Arbeitsmittel) geprüft. Dieser Schritt ist entscheidend: Er ist die Voraussetzung für die zukünftige Verhinderung ähnlicher Arbeitsunfälle im gesamten Unternehmen (wenn auch dort die Maßnahmen umgesetzt werden).
Der Unfallanalysebericht (Schritt 9) ist die Dokumentation der Erkenntnisse aus der Unfallanalyse und aller relevanten Dokumente. Maßgebliche Daten werden für die Unfallstatistik ausgewiesen. Alle wichtigen Erkenntnisse fließen in die Aktualisierung der Gefährdungsbeurteilung, Unterweisung und Mitarbeiterschulung ein.
Am Ende des Verfahrens (Schritt 10) wird den Teilnehmern des Analyse-Teams für ihre Mitarbeit gedankt. Das Feedback der Teilnehmer des Analyse-Teams und der Beteiligten fließt in die Evaluation des Verfahrens ein. So unterliegt dieses einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP).
Aufwand und Nutzen
Das Verfahren der strukturierten Unfallanalyse erreicht durch die Trennung in notwendige (z. B. Root-Cause-Analysis) und optionale Bestandteile (z. B. Fehlerbaumanalyse) sowie der Bildung eines Analyse-Teams einen gerechtfertigten Gesamtaufwand (hohe Effizienz). Die Abschlussevaluation (Schritt 10) sorgt zudem für einen KVP. Die situationsabhängige Methodenauswahl bindet zwar zeitliche Kapazitäten. Diese sind unter Betrachtung des Gesamtaufwands aber unwesentlich.
In der Thesis wurde des Weiteren ein konstruktiver Umgang mit Fehlern und Beinaheunfällen in Unternehmen erarbeitet. Dieser besteht erstens aus deren Meldung durch Ansprechen oder Meldekarte, zweitens aus der Analyse, Ableitung und Umsetzung von Schutzmaßnahmen zur zukünftigen Verhinderung, drittens der Übernahme eigener Verantwortung der Mitarbeiter für (ihre) Sicherheit durch eine ausgeprägte Sicherheitskultur und viertens der Vermittlung der Bedeutung von Fehlern und Beinaheunfällen für die Sicherheit der Mitarbeiter. Die strukturierte Unfallanalyse generiert diesen konstruktiven Umgang. Hierzu sind deren zehn Schritte sinngemäß auf Beinaheunfälle zu übertragen.
Fazit
Eine intensivere Durchführung der Unfallanalyse und die verstärkte Betrachtung von Beinaheunfällen bieten weiteres Potenzial für die Prävention von Arbeitsunfällen. Die strukturierte Unfallanalyse bietet die methodische Umsetzung dafür. Wendet ein Unternehmen nach einem Arbeitsunfall die strukturierte Unfallanalyse mit ihren Schritten konsequent an, kann davon ausgegangen werden, dass gleiche und ähnliche Arbeitsunfälle in der Zukunft verhindert werden. Das gleiche trifft auf Fehler und Beinaheunfälle zu. Ein einheitliches Verfahren steht nunmehr zur Verfügung.
Quelle und weiterführende Literatur:
- Freudemann, A. (2020). Konzeption einer strukturierten Unfallanalyse unter Einbeziehung eines konstruktiven Umgangs mit Fehlern und Beinaheunfällen. Masterthesis. Hochschule Furtwangen.
- Fahlbruch, B., Schöbel M. & Marold J. (2012). Sicherheit -&- Hofinger, G. (2012). Fehler und Unfälle. In P. Badke-Schaub, G. Hofinger & K. Lauche, Human Factors. Psychologie sicheren Handelns in Risikobranchen (2. Aufl., S. 21–38 -&- S. 39–60). Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag.
- Schaper, N. (2014). Psychologie der Arbeitssicherheit. In F. W. Nerdinger, G. Blickle & N. Schaper, Arbeits- und Organisationspsychologie (3. Aufl., S. 489–515). Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag.
- Fahlbruch, B., Meyer, I. (2013). Ganzheitliche Unfallanalyse. Leitfaden zur Ermittlung grundlegender Ursachen von Arbeitsunfällen in kleinen und mittleren Unternehmen. BAuA-Forschungsprojekt F 2287.
- Lehder, Günter (2011). Taschenbuch Arbeitssicherheit (12. Aufl.). Begründet von Reinald Skiba. Berlin, Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG.
- Kahl, Anke (2019): Arbeitssicherheit – Fachliche Grundlagen, Berlin, Erich Schmidt Verlag.
Andreas Freudemann
M.Sc. Risikoingenieurwesen
E‑Mail:
andreas.freudemann@gmx.de
Prof. Dr. Arno Weber
Hochschule Furtwangen
Fakultät Gesundheit, Sicherheit, Gesellschaft
Security & Safety Engineering
E‑Mail: weba@hs-furtwangen.de
www.hs-furtwangen.de