Müsli-Klaus arbeitet im Qualitätsmanagement, er hat sein Büro in der Werkshalle hinten links. Er ist ein Spätaufsteher, vor 9 Uhr sieht man den nicht. Und wenn, dann kommt er mit einer dick belegten Müsli-Semmel – deshalb sein Spitzname – in der einen und seinem Kaffebecher mit heißem Milchkaffee in der anderen Hand aus seiner Tür und latscht zum Wachwerden erst einmal quer durch die Halle.
Der Schichtleiter kann das gar nicht leiden. Als Espresso-Fan ist er ein erklärter Milchkaffee-Gegner. Vor allem aber hat er was gegen diese Morgenroutine, denn sollte Müsli-Klaus einmal ausrutschen, landet der Kaffee womöglich in der teuren Maschine. Das geht gar nicht! Eines späten Montagmorgens also läuft Müsli-Klaus wie immer verschlafen und verträumt durch die Produktionshalle. Der Azubi hat nicht aufgepasst und auf dem Boden eine Ölpfütze hinterlassen. Und was passiert? Müsli-Klaus rutscht aus, stolpert und sein Milchkaffee ergießt sich mit Schwung über das Gesicht des Schichtleiters.
Nachhaltiges Kopfkino
Eine solche Geschichte setzt Kopfkino in Gang. Sie lässt schon mal schmunzeln und öffnet neben dem Verstand auch das Gemüt und die Sinne. Und das ist genau die richtige Mischung, damit weitere Inhalte gerne ausgetauscht und aufgenommen werden – in diesem Fall über das richtige Verhalten in einer Produktionshalle – und dann auch im Gedächtnis bleiben. Die Folge: Mitarbeiter halten sich besser an die Regeln – nicht weil sie sie kennen, sondern weil sie mithilfe der Geschichte ihren Sinn verstanden haben. Außerdem verbreitet sich über das Sprechen darüber die Haltung, dass man aufeinander achtgibt, so die Erfahrung der Storytelling-Expertin Sigrid Hauer. Sie hat die Kunstfigur des Müsli-Klaus für ein Unternehmen kreiert und diese kleine Geschichte dazu erfunden.
Marketing-Botschaften
Geschichten werden erzählt, seit es Menschen gibt. Auch Märchen und Fabeln transportieren eine „Moral von der Geschicht“. Seit einiger Zeit haben Unternehmen dieses Werkzeug unter dem englischen Begriff „Storytelling“ für sich entdeckt. Firmen machen zunehmend davon Gebrauch, um einen Kerninhalt, etwa ein positives Markenimage, über eine Geschichte zu transportieren – so etwa durch das Bild des in einer Garage bastelnden IT-Genies, das später eine weltbekannte Firma gründet. Ein anderes Beispiel ist der Lebensmittelkonzern, der mit seiner rührenden Geschichte über einen einsamen alten Mann, der seine Angehörigen zu Weihnachten mit Hilfe einer fingierten Todesanzeige um sich versammelt, große Gefühle und Festtagsstimmung mit seinen Produkten verknüpfte. Dahinter steht die Erkenntnis, dass reine Fakten nur einen kleinen Teil des menschlichen Gehirns erreichen; Bilder, Geschichten, Assoziationen wirken hingegen ganzheitlich, sprechen Emotionen an, machen Spaß und bleiben besser im Gedächtnis haften.
Storytelling im Arbeitsschutz
Vom Marketing aus wird dieses Verfahren nun auch auf andere Bereiche übertragen – darunter das Gebiet der Arbeitssicherheit. Sigrid Hauer, Wirtschaftsinformatikerin mit einer Bühnenausbildung als Geschichten-Erzählerin, und die studierte Umweltschutz- und Agrarwissenschaftlerin sowie Fachkraft für Arbeitssicherheit Clara Röder sind Pionierinnen auf dem Gebiet Storytelling im Arbeitsschutz. Die beiden Münchnerinnen haben sich zusammengetan und bieten Workshops und Inhouse-Seminare zum Thema an. Dass Röder im Storytelling sogar das ideale Tool zur Förderung der Sicherheitskultur in deutschen Unternehmen sieht, hat auch damit zu tun, dass es hierbei nicht nur um konstruierte Geschichten geht und das Erzählen nicht als Einbahnstraße zu verstehen ist. Zum einen sei es förderlich, neue Inhalte in einer Geschichte zu verpacken – am besten in eine, die gut zu den Mitarbeitern und zum Ziel passe, und die helfe, den Zusammenhang zu verstehen. Wenn einem das Geschichtenerfinden und ‑erzählen nicht in die Wiege gelegt sei, ist das kein Hinderungsgrund: Man könne es durch Übung und gute Vorbilder spielerisch lernen, sind die beiden überzeugt.
Stichwort Beinahe-Unfälle
Zum anderen sei es von besonderer Bedeutung, überhaupt eine Kultur des Geschichten-Erzählens im Arbeitsschutz zu etablieren. Dabei solle vor allem den Mitarbeitern Raum für ihre Geschichten gegeben werden: „Warum sollen die Leute von dem, was sie erlebt haben, erzählen? Damit ich die Dinge, die mir selbst passiert sind, weitergebe und auch andere davon profitieren“, erklärt Röder. Das entscheidende Stichwort dazu laute: Beinahe-Unfälle. „Davon wird durchaus erzählt, aber meist erst abends in der Familie oder im Freundeskreis“, weiß Hauer. Doch auch die Kollegen, Schichtleiter, Sicherheitsbeauftragten und Vorgesetzten sollten davon erfahren – um entsprechende Präventivmaßnahmen ableiten zu können, bevor wirklich etwas passiert. So ließen sich über diese sehr natürliche Kommunikationsform Unfälle deutlich reduzieren.
Der manipulierte Handschuh
Manchmal reiche ein Bild, um eine heikle Situation oder eine grundsätzliche Problematik wachzurufen, wissen die beiden Expertinnen. So erzählte jemand in einem Meeting zu Sicherheitsfragen, dass sich eine Mitarbeiterin im Betrieb zwar vorschriftsmäßig die Schutzhandschuhe angezogen, aber eines Tages wegen ihrer frisch dekorierten Fingernägel die Handschuh-Spitzen einfach abgeschnitten habe, sodass die Fingerkuppen samt bunter Fingernägel völlig ungeschützt herausschauten. Für die Mitwisser der Geschichte reichte fortan der Begriff „Handschuh“, um mit einem Schmunzeln diese Szene wachzurufen – und mit ihr das Bewusstsein, wie wichtig es ist, Vorschriften nicht nur dem Wort nach, sondern auch in ihrem Sinn zu verstehen.
Wissen in den Köpfen teilen
Ein Großteil des Know-hows über einen Arbeitsplatz, über Arbeitsabläufe und über das Unternehmen existiere laut Studien nur in den Köpfen der Mitarbeiter und werde nicht dokumentiert, sagt Hauer. „Diese große Ressource kann ich nicht schriftlich fassen, aber mit Storytelling unkompliziert nutzen und anschaulich weitertragen.“
In Bezug auf Arbeitssicherheit bedeute dies, dem Erzählen von dem, was (fast) passiert ist, in offiziellem Rahmen einen Raum zu geben, damit Gefahrenquellen und Nachlässigkeiten ins Bewusstsein rücken und ernstgenommen werden. Voraussetzung dafür sei, dass der Arbeitsschutz im Unternehmen bereits hohen Stellenwert genieße, die Strukturen stimmten und die Führung dahinterstehe. „Denn wenn ich auf eine Gefahr hinweise und es passiert nichts, hilft Storytelling wenig und die Leute schweigen in der Folge lieber“, erklärt Hauer. In diesem Fall müsse zuerst an einer anderen Stelle im Unternehmen angesetzt werden, bevor Storytelling fruchtbar eingesetzt werden könne.
Wenn Sicherheitsbeauftragte erzählen
Besonders Sicherheitsbeauftragten käme als Kollegen unter Kollegen dabei eine wichtige Rolle zu. Zum Austausch anbieten würden sich zum Beispiel die Teammeetings bei der täglichen Schichtübergabe: „Hier sind alle Mitarbeiter zusammen und reden über Dinge, die passiert sind. Wenn man es hinbekommt, dort über sicheres Arbeiten zu sprechen, hat man das richtige Bewusstsein dafür geschaffen. Wenn aber nur von Produktionszahlen die Rede ist, kriegen die Mitarbeiter das Signal: Produktionszahlen sind das einzig Wichtige. Schon alleine, dass ich dort das Thema Arbeitsschutz reinbringe, gibt ihm eine Bedeutung“, erklärt Hauer. „Und dann geht es darum, wie ich es reinbringe, nämlich über Geschichten, von denen auch andere Kollegen etwas haben. Indem ich konkret erzähle, was passiert ist.“
Kettenreaktion in Gang setzen
Und wenn einer erzähle, so die ausgebildete Geschichten-Erzählerin, rücke auch der andere mit seiner Geschichte heraus. „Das ist ein ganz natürlicher Prozess: Erzählst du mir was, erzähle ich dir was“, verweist die Expertin auf eine verlässliche Kettenreaktion. Ziel sei, jedem zu vermitteln, dass seine Erfahrung einen Wert habe, und alle etwas beitrügen. Dass nicht jeder gleich zielgerichtet erzähle, verstehe sich dabei von selbst. „Manchmal muss man auch die Kollegen, die abschweifen, etwas bremsen. Aber mit etwas Übung kriegt man das tatsächlich ganz gut hin.“
Hierdurch erklärt sich auch, warum Röder Storytelling für eine besonders passende Methode für den Arbeitsschutz in deutschen Unternehmen hält. „Es gibt eine Menge Tools für den Arbeitsschutz. Die einen Betriebe setzen auf Regeln und Loben, andere gehen eher traditionellere Wege. Die Angloamerikaner arbeiten mit klaren Strukturen und auf eine eher aufoktroyierende Weise“, führt Röder aus. Mitarbeiter in Deutschland fühlten sich jedoch angesichts etlicher Aufgaben, die „von oben‘ verordnet würden, eher gegängelt. „Hier noch was dokumentieren, da nochmal ein Foto, hier noch einen Rundgang machen und da noch Punkte sammeln.“ Diese Systeme funktionierten zwar auch, aber auf eine andere Art.
Du bist wichtig!
„Storytelling passt gut in hiesige Unternehmen, weil Mitarbeiter hierzulande nicht gerne bevormundet werden. Sie möchten selber mitdenken sowie gehört und wertgeschätzt werden“, fasst die Expertin zusammen.
„Genau das machen wir mit den Geschichten. Sie drücken aus: Du bist wichtig, deine Erfahrung ist wichtig. Teile sie und damit kommst du voran.“ In vielen Fällen brauche es keine weitere Handlungsanweisung. Anstrengende Angelegenheiten gäbe es im Arbeitsschutz schon genug. Das Geschichtenerzählen sei dagegen unterhaltsam und spannend. „Ich habe noch niemanden getroffen, der daran keinen Spaß hatte.“
Erzählkultur zur Arbeitssicherheit einüben
Die selbstständigen Münchnerinnen Sigrid Hauer und Clara Röder haben sich zum Thema „Storytelling im Arbeitsschutz“ geschäftlich zusammengeschlossen und bieten dazu Beratung und Seminare an – auch inhouse. In diesen geht es sowohl um das spannende Verpacken von Inhalten in Geschichten als auch um das Einüben einer Erzählkultur über sicherheitsrelevante Erfahrungen und Erlebnisse. Inhouse-Seminaren ist ein Kennenlernen des Unternehmens vorgeschaltet. An die Beratung anschließen können sich weitere Empfehlungen zum Arbeitsschutz, die über das Storytelling hinausreichen.