1 Monat GRATIS testen, danach für nur 3,90€/Monat!
Startseite » Organisation » Prävention »

Storytelling als Methode für den Arbeitsschutz

Weil Kopfkino Spaß macht
Storytelling als Methode für den Arbeitsschutz

„Oje, schon wieder was zu Arbeitssicher­heit – wie lang­weilig!“ So reagieren die einen. „Bitte nicht noch eine Regel, die ich mir merken und umset­zen muss!“, stöh­nen die anderen. Hier set­zt Sto­ry­telling an. Die Meth­ode des Geschicht­en-Erzäh­lens kann Langeweile durch gute Laune und Anstren­gung durch Leichtigkeit erset­zen. Darüber hin­aus eröffnet Sto­ry­telling eine Kul­tur des Einan­der-Erzäh­lens, die richtiges Ver­hal­ten fördert und Unfälle ver­mei­den hil­ft – auch wenn kein Chef daneben­ste­ht und keine Regel dazu zwingt.

Müsli-Klaus arbeit­et im Qual­itäts­man­age­ment, er hat sein Büro in der Werk­shalle hin­ten links. Er ist ein Spä­taufste­her, vor 9 Uhr sieht man den nicht. Und wenn, dann kommt er mit ein­er dick belegten Müs­li-Sem­mel – deshalb sein Spitz­name – in der einen und seinem Kaf­febech­er mit heißem Milchkaf­fee in der anderen Hand aus sein­er Tür und latscht zum Wach­w­er­den erst ein­mal quer durch die Halle.

Der Schichtleit­er kann das gar nicht lei­den. Als Espres­so-Fan ist er ein erk­lärter Milchkaf­fee-Geg­n­er. Vor allem aber hat er was gegen diese Mor­gen­rou­tine, denn sollte Müs­li-Klaus ein­mal aus­rutschen, lan­det der Kaf­fee wom­öglich in der teuren Mas­chine. Das geht gar nicht! Eines späten Mon­tag­mor­gens also läuft Müs­li-Klaus wie immer ver­schlafen und verträumt durch die Pro­duk­tion­shalle. Der Azu­bi hat nicht aufgepasst und auf dem Boden eine Ölpfütze hin­ter­lassen. Und was passiert? Müs­li-Klaus rutscht aus, stolpert und sein Milchkaf­fee ergießt sich mit Schwung über das Gesicht des Schichtleiters.

Nachhaltiges Kopfkino

Eine solche Geschichte set­zt Kopfki­no in Gang. Sie lässt schon mal schmun­zeln und öffnet neben dem Ver­stand auch das Gemüt und die Sinne. Und das ist genau die richtige Mis­chung, damit weit­ere Inhalte gerne aus­ge­tauscht und aufgenom­men wer­den – in diesem Fall über das richtige Ver­hal­ten in ein­er Pro­duk­tion­shalle – und dann auch im Gedächt­nis bleiben. Die Folge: Mitar­beit­er hal­ten sich bess­er an die Regeln – nicht weil sie sie ken­nen, son­dern weil sie mith­il­fe der Geschichte ihren Sinn ver­standen haben. Außer­dem ver­bre­it­et sich über das Sprechen darüber die Hal­tung, dass man aufeinan­der acht­gibt, so die Erfahrung der Sto­ry­telling-Exper­tin Sigrid Hauer. Sie hat die Kun­st­fig­ur des Müs­li-Klaus für ein Unternehmen kreiert und diese kleine Geschichte dazu erfunden.

Marketing-Botschaften

Geschicht­en wer­den erzählt, seit es Men­schen gibt. Auch Märchen und Fabeln trans­portieren eine „Moral von der Geschicht“. Seit einiger Zeit haben Unternehmen dieses Werkzeug unter dem englis­chen Begriff „Sto­ry­telling“ für sich ent­deckt. Fir­men machen zunehmend davon Gebrauch, um einen Kern­in­halt, etwa ein pos­i­tives Marken­im­age, über eine Geschichte zu trans­portieren – so etwa durch das Bild des in ein­er Garage bastel­nden IT-Genies, das später eine welt­bekan­nte Fir­ma grün­det. Ein anderes Beispiel ist der Lebens­mit­telkonz­ern, der mit sein­er rühren­den Geschichte über einen ein­samen alten Mann, der seine Ange­höri­gen zu Wei­h­nacht­en mit Hil­fe ein­er fin­gierten Tode­sanzeige um sich ver­sam­melt, große Gefüh­le und Fest­tagsstim­mung mit seinen Pro­duk­ten verknüpfte. Dahin­ter ste­ht die Erken­nt­nis, dass reine Fak­ten nur einen kleinen Teil des men­schlichen Gehirns erre­ichen; Bilder, Geschicht­en, Assozi­a­tio­nen wirken hinge­gen ganzheitlich, sprechen Emo­tio­nen an, machen Spaß und bleiben bess­er im Gedächt­nis haften.

Storytelling im Arbeitsschutz

Vom Mar­ket­ing aus wird dieses Ver­fahren nun auch auf andere Bere­iche über­tra­gen – darunter das Gebi­et der Arbeitssicher­heit. Sigrid Hauer, Wirtschaftsin­for­matik­erin mit ein­er Büh­ne­naus­bil­dung als Geschicht­en-Erzäh­lerin, und die studierte Umweltschutz- und Agrar­wis­senschaft­lerin sowie Fachkraft für Arbeitssicher­heit Clara Röder sind Pio­nierin­nen auf dem Gebi­et Sto­ry­telling im Arbeitss­chutz. Die bei­den Münch­ner­in­nen haben sich zusam­menge­tan und bieten Work­shops und Inhouse-Sem­i­nare zum The­ma an. Dass Röder im Sto­ry­telling sog­ar das ide­ale Tool zur Förderung der Sicher­heit­skul­tur in deutschen Unternehmen sieht, hat auch damit zu tun, dass es hier­bei nicht nur um kon­stru­ierte Geschicht­en geht und das Erzählen nicht als Ein­bahn­straße zu ver­ste­hen ist. Zum einen sei es förder­lich, neue Inhalte in ein­er Geschichte zu ver­pack­en – am besten in eine, die gut zu den Mitar­beit­ern und zum Ziel passe, und die helfe, den Zusam­men­hang zu ver­ste­hen. Wenn einem das Geschicht­en­erfind­en und ‑erzählen nicht in die Wiege gelegt sei, ist das kein Hin­derungs­grund: Man könne es durch Übung und gute Vor­bilder spielerisch ler­nen, sind die bei­den überzeugt.

Stichwort Beinahe-Unfälle

Zum anderen sei es von beson­der­er Bedeu­tung, über­haupt eine Kul­tur des Geschicht­en-Erzäh­lens im Arbeitss­chutz zu etablieren. Dabei solle vor allem den Mitar­beit­ern Raum für ihre Geschicht­en gegeben wer­den: „Warum sollen die Leute von dem, was sie erlebt haben, erzählen? Damit ich die Dinge, die mir selb­st passiert sind, weit­ergebe und auch andere davon prof­i­tieren“, erk­lärt Röder. Das entschei­dende Stich­wort dazu laute: Beina­he-Unfälle. „Davon wird dur­chaus erzählt, aber meist erst abends in der Fam­i­lie oder im Fre­un­deskreis“, weiß Hauer. Doch auch die Kol­le­gen, Schichtleit­er, Sicher­heits­beauf­tragten und Vorge­set­zten soll­ten davon erfahren – um entsprechende Präven­tiv­maß­nah­men ableit­en zu kön­nen, bevor wirk­lich etwas passiert. So ließen sich über diese sehr natür­liche Kom­mu­nika­tions­form Unfälle deut­lich reduzieren.

Der manipulierte Handschuh

Manch­mal reiche ein Bild, um eine heik­le Sit­u­a­tion oder eine grund­sät­zliche Prob­lematik wachzu­rufen, wis­sen die bei­den Exper­tin­nen. So erzählte jemand in einem Meet­ing zu Sicher­heits­fra­gen, dass sich eine Mitar­bei­t­erin im Betrieb zwar vorschriftsmäßig die Schutzhand­schuhe ange­zo­gen, aber eines Tages wegen ihrer frisch deko­ri­erten Fin­gernägel die Hand­schuh-Spitzen ein­fach abgeschnit­ten habe, sodass die Fin­gerkup­pen samt bunter Fin­gernägel völ­lig ungeschützt her­auss­chaut­en. Für die Mitwiss­er der Geschichte reichte for­t­an der Begriff „Hand­schuh“, um mit einem Schmun­zeln diese Szene wachzu­rufen – und mit ihr das Bewusst­sein, wie wichtig es ist, Vorschriften nicht nur dem Wort nach, son­dern auch in ihrem Sinn zu verstehen.

Wissen in den Köpfen teilen

Ein Großteil des Know-hows über einen Arbeit­splatz, über Arbeitsabläufe und über das Unternehmen existiere laut Stu­di­en nur in den Köpfen der Mitar­beit­er und werde nicht doku­men­tiert, sagt Hauer. „Diese große Ressource kann ich nicht schriftlich fassen, aber mit Sto­ry­telling unkom­pliziert nutzen und anschaulich weitertragen.“

In Bezug auf Arbeitssicher­heit bedeute dies, dem Erzählen von dem, was (fast) passiert ist, in offiziellem Rah­men einen Raum zu geben, damit Gefahren­quellen und Nach­läs­sigkeit­en ins Bewusst­sein rück­en und ern­stgenom­men wer­den. Voraus­set­zung dafür sei, dass der Arbeitss­chutz im Unternehmen bere­its hohen Stel­len­wert genieße, die Struk­turen stimmten und die Führung dahin­ter­ste­he. „Denn wenn ich auf eine Gefahr hin­weise und es passiert nichts, hil­ft Sto­ry­telling wenig und die Leute schweigen in der Folge lieber“, erk­lärt Hauer. In diesem Fall müsse zuerst an ein­er anderen Stelle im Unternehmen ange­set­zt wer­den, bevor Sto­ry­telling frucht­bar einge­set­zt wer­den könne.

Wenn Sicherheitsbeauftragte erzählen

Beson­ders Sicher­heits­beauf­tragten käme als Kol­le­gen unter Kol­le­gen dabei eine wichtige Rolle zu. Zum Aus­tausch anbi­eten wür­den sich zum Beispiel die Team­meet­ings bei der täglichen Schichtüber­gabe: „Hier sind alle Mitar­beit­er zusam­men und reden über Dinge, die passiert sind. Wenn man es hin­bekommt, dort über sicheres Arbeit­en zu sprechen, hat man das richtige Bewusst­sein dafür geschaf­fen. Wenn aber nur von Pro­duk­tion­szahlen die Rede ist, kriegen die Mitar­beit­er das Sig­nal: Pro­duk­tion­szahlen sind das einzig Wichtige. Schon alleine, dass ich dort das The­ma Arbeitss­chutz rein­bringe, gibt ihm eine Bedeu­tung“, erk­lärt Hauer. „Und dann geht es darum, wie ich es rein­bringe, näm­lich über Geschicht­en, von denen auch andere Kol­le­gen etwas haben. Indem ich konkret erzäh­le, was passiert ist.“

Kettenreaktion in Gang setzen

Und wenn ein­er erzäh­le, so die aus­ge­bildete Geschicht­en-Erzäh­lerin, rücke auch der andere mit sein­er Geschichte her­aus. „Das ist ein ganz natür­lich­er Prozess: Erzählst du mir was, erzäh­le ich dir was“, ver­weist die Exper­tin auf eine ver­lässliche Ket­ten­reak­tion. Ziel sei, jedem zu ver­mit­teln, dass seine Erfahrung einen Wert habe, und alle etwas beitrü­gen. Dass nicht jed­er gle­ich ziel­gerichtet erzäh­le, ver­ste­he sich dabei von selb­st. „Manch­mal muss man auch die Kol­le­gen, die abschweifen, etwas brem­sen. Aber mit etwas Übung kriegt man das tat­säch­lich ganz gut hin.“

Hier­durch erk­lärt sich auch, warum Röder Sto­ry­telling für eine beson­ders passende Meth­ode für den Arbeitss­chutz in deutschen Unternehmen hält. „Es gibt eine Menge Tools für den Arbeitss­chutz. Die einen Betriebe set­zen auf Regeln und Loben, andere gehen eher tra­di­tionellere Wege. Die Angloamerikan­er arbeit­en mit klaren Struk­turen und auf eine eher aufok­troyierende Weise“, führt Röder aus. Mitar­beit­er in Deutsch­land fühlten sich jedoch angesichts etlich­er Auf­gaben, die „von oben‘ verord­net wür­den, eher gegän­gelt. „Hier noch was doku­men­tieren, da nochmal ein Foto, hier noch einen Rundgang machen und da noch Punk­te sam­meln.“ Diese Sys­teme funk­tion­ierten zwar auch, aber auf eine andere Art.

Du bist wichtig!

„Sto­ry­telling passt gut in hiesige Unternehmen, weil Mitar­beit­er hierzu­lande nicht gerne bevor­mundet wer­den. Sie möcht­en sel­ber mit­denken sowie gehört und wert­geschätzt wer­den“, fasst die Exper­tin zusammen.

„Genau das machen wir mit den Geschicht­en. Sie drück­en aus: Du bist wichtig, deine Erfahrung ist wichtig. Teile sie und damit kommst du voran.“ In vie­len Fällen brauche es keine weit­ere Hand­lungsan­weisung. Anstren­gende Angele­gen­heit­en gäbe es im Arbeitss­chutz schon genug. Das Geschicht­en­erzählen sei dage­gen unter­halt­sam und span­nend. „Ich habe noch nie­man­den getrof­fen, der daran keinen Spaß hatte.“


Foto: privat

Autorin: Bernadett Groß

Freie Jour­nal­istin


Erzählkultur zur Arbeitssicherheit einüben

Die selb­st­ständi­gen Münch­ner­in­nen Sigrid Hauer und Clara Röder haben sich zum The­ma „Sto­ry­telling im Arbeitss­chutz“ geschäftlich zusam­mengeschlossen und bieten dazu Beratung und Sem­i­nare an – auch inhouse. In diesen geht es sowohl um das span­nende Ver­pack­en von Inhal­ten in Geschicht­en als auch um das Einüben ein­er Erzäh­lkul­tur über sicher­heit­srel­e­vante Erfahrun­gen und Erleb­nisse. Inhouse-Sem­i­naren ist ein Ken­nen­ler­nen des Unternehmens vorgeschal­tet. An die Beratung anschließen kön­nen sich weit­ere Empfehlun­gen zum Arbeitss­chutz, die über das Sto­ry­telling hinausreichen.

www.ehsconsult.de

Newsletter

Jet­zt unseren Newslet­ter abonnieren

Webinar-Aufzeichnungen

Webcast

Jobs
Sicherheitsbeauftragter
Titelbild Sicherheitsbeauftragter 4
Ausgabe
4.2024
LESEN
ABO
Sicherheitsingenieur
Titelbild Sicherheitsingenieur 4
Ausgabe
4.2024
LESEN
ABO
Special
Titelbild  Spezial zur A+A 2023
Spezial zur A+A 2023
Download

Industrie.de Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Industrie.de Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Verlag Robert Kohlhammer GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum Industrie.de Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des Industrie.de Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de