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Verhaltensorientierter Arbeitsschutz

Der Nutzen einer guten Sicherheitskultur
Moderner Arbeitsschutz beginnt beim Verhalten von Menschen

Moderner Arbeitsschutz beginnt beim Verhalten von Menschen
© sittinan – stock.adobe.com
Stefan Ganzke

Wenn die Mehrzahl an Arbeit­sun­fällen nicht mehr durch Maschi­nen, son­dern durch Men­schen verur­sacht wer­den, dann lohnt sich ein Blick auf die Ursachen hin­ter den Ursachen. Hier­bei wird deut­lich, dass das Safe­ty Mind­set entschei­dend für eine gute Sicher­heit­skul­tur geprägt und somit weniger Arbeit­sun­fälle ist. 

Eine Pro­duk­tion­s­mi­tar­bei­t­erin bekommt von ihrem Schicht­führer den Auf­trag, den vollen Staubbe­häl­ter der Pro­duk­tion­san­lage zu leeren. Die Mitar­bei­t­erin beg­ibt sich ohne Zeit­not schnellen Schrittes die zehn­stu­fige Stahltreppe hin­auf. Oben auf dem Plateau angekom­men, ent­nimmt sie den gefüll­ten Sack, schnürt ihn zu und packt einen neuen Sack in den Staubbe­häl­ter. Nach­dem der Staubbe­häl­ter wieder ord­nungs­gemäß gesichert ist, beg­ibt sich die Pro­duk­tion­s­mi­tar­bei­t­erin wieder schnellen Schrittes die Treppe herunter. Auf der fün­ften Stufe stolpert sie plöt­zlich. Der panis­che Griff an den blau gestrich­enen Hand­lauf ver­fehlt diesen, sie kann das Gle­ichgewicht nicht mehr hal­ten und stürzt fünf Stufen herunter auf den Beton­bo­den. Die Unter­suchung im Kranken­haus ergibt, dass die Pro­duk­tion­s­mi­tar­bei­t­erin neben ein­er zehn Zen­time­ter lan­gen Schür­fwunde am linken Arm auch eine stärkere Prel­lung an der linken Schul­ter davonge­tra­gen hat…

Arbeit­sun­fälle wie dieser ereignen sich täglich mehrfach in Deutsch­land. Stolpern, Rutschen und Stürzen zählen zu den häu­fig­sten Ursachen von meldepflichti­gen Arbeit­sun­fällen und ste­hen hier sym­bol­isch für die Her­aus­forderung, vor der sich die Unternehmen heute sehen.

Safety Mindset – der Arbeitsschutz muss sich anpassen

Nach­dem seit Mitte der 90er Jahre die meldepflichti­gen Arbeit­sun­fälle deut­lich reduziert wer­den kon­nten, stag­nieren die Arbeit­sun­fälle seit 2012 bei rund 870.000 pro Jahr. Eine Aus­nahme stellt das Pan­demie-Jahr 2020 dar, welch­es jedoch bed­ingt durch zum Beispiel Home­of­fice (mobile Arbeit) oder Kurzarbeit beson­dere Rah­menbe­din­gun­gen besaß. Die Auswer­tung von Arbeit­sun­fällen zeigt sehr deut­lich, dass die Unfal­lur­sachen heute nur noch sel­ten auf Maschi­nen zurück­zuführen sind. Ein Zeichen dafür, dass die Maschi­nen­sicher­heit beziehungsweise der tech­nis­che Arbeitss­chutz in den let­zten Jahren ein hohes Niveau erre­icht hat. Der Haup­tan­teil von bis zu 90 Prozent der Arbeit­sun­fälle entste­ht durch bewusste beziehungsweise unbe­wusste Entschei­dun­gen von Men­schen. Entschei­dun­gen von Führungskräften und Mitar­bei­t­en­den, sich nicht sich­er zu ver­hal­ten. Das oben geschilderte Beispiel der Pro­duk­tion­s­mi­tar­bei­t­erin zeigt, dass der Unfall mit hoher Wahrschein­lichkeit durch die Nutzung des Hand­laufs sowie langsamen Schrittes hätte ver­mieden wer­den können.

Wenn rund 90 Prozent der Arbeit­sun­fälle durch men­schlich­es Ver­hal­ten bed­ingt sind, dann braucht es in den Unternehmen einen neuen Fokus auf den ver­hal­tensori­en­tierten Arbeitss­chutz. Die kon­ven­tionellen tech­nis­chen, organ­isatorischen und per­so­n­en­be­zo­genen Schutz­maß­nah­men haben weit­er­hin Bestand und sind wichtig, jedoch braucht es den Baustein der ver­hal­tensori­en­tierten Gestal­tungs­maß­nah­men, um die stag­nieren­den Unfal­lzahlen zu reduzieren. Der wesentliche Unter­schied zwis­chen dem kon­ven­tionellen und dem ver­hal­tensori­en­tierten Arbeitss­chutz lässt sich vere­in­facht darin find­en, dass bei let­zterem die Akzep­tanz für den Arbeitss­chutz und das Sicher­heits­be­wusst­sein bei den Führungskräften und Mitar­bei­t­en­den weit­er­en­twick­elt wird.

Sicherheitsbewusstsein und Arbeitsunfälle

Der Zusam­men­hang zwis­chen dem Sicher­heits­be­wusst­sein von Men­schen und der Anzahl der Arbeit­sun­fälle lässt sich anhand der Bradley Kurve™ erk­lären. Anhand dieser Kurve lässt sich erken­nen, dass es vier Phasen ein­er Sicher­heit­skul­tur gibt. In der ersten Phase der Sicher­heit­skul­tur besitzen die Führungskräfte und Mitar­bei­t­en­den den Glaubenssatz, dass Arbeit­sun­fälle halt passieren und nicht ver­hin­dert wer­den kön­nen. Es ist wahrschein­lich keine Über­raschung, dass die Arbeit­sun­fälle bei diesem Glaubenssatz am häu­fig­sten sind. In der vierten Stufe der Sicher­heit­skul­tur haben sowohl Führungskräfte und Mitar­bei­t­ende die Erwartung, dass keine Arbeit­sun­fälle ein­treten, und sind davon überzeugt, dass jed­er Unfall ver­mieden wer­den kann. Das bei diesem flächen­deck­enden Glaubenssatz die Arbeit­sun­fälle auf einem tiefen Stand sind, lässt sich ver­mut­lich auch ableiten.

Unsere Glaubenssätze sind entscheidend

„Ob Du denkst, du kannst es, oder Du kannst es nicht. Du wirst auf jeden Fall recht behal­ten“, sagte einst schon Hen­ry Ford. Ein Zitat, das sich an die Glaubenssätze von Men­schen anlehnt. Glaubenssätze, die anhand der Bradley Kurve™ auch nach­weis­lich das sichere Ver­hal­ten von Men­schen am Arbeit­splatz bee­in­flussen. Die Her­aus­forderung von Unternehmen ist es also, an den Glaubenssätze beziehungsweise der Hal­tung zum Arbeitss­chutz, auch Safe­ty Mind­set genan­nt, zu arbeit­en. Eine Fähigkeit, die ins­beson­dere in den sehr stark tech­nisch geprägten Aus­bil­dun­gen von Sicher­heitsin­ge­nieuren und Fachkräften für Arbeitssicher­heit noch zu wenig gefördert wird.

In ein­er chemis­chen Pro­duk­tion entste­ht plöt­zlich ein schleifend­es Geräusch an ein­er großen Abfül­lan­lage. Ein Mitar­beit­er der Instand­hal­tung wird gerufen, der mit seinem geschul­ten Ohr das Geräusch unter­halb eines Förder­ban­des lokalisiert. Der rou­tinierte Schloss­er nimmt seine schwarze Anstoßkappe in die Hand und legt sie neben sich. Ohne Anstoßkappe kriecht er unter das Förder­band, find­et gelock­erte Schrauben und zieht diese wieder fest. Auf dem Weg zurück hebt er mit Schwung zu früh den Kopf und knallt an eine scharfe Kante unter­halb des Förder­ban­des. Hier­bei zieht sich der Schloss­er eine rund sechs Zen­time­ter lange Platzwunde in der Mitte des Kopfs zu. Im Kranken­haus wird die Platzwunde gere­inigt und genäht. In der Unfal­l­analyse wird der Schloss­er gefragt, warum er seine Anstoßkappe bei­seite legte und nicht auf­set­zte. Der Schloss­er schildert ver­trauenswürdig, dass er sich dieses Ver­hal­ten auch nicht erk­lären kann.

Unbewusste Entscheidungen

Das Beispiel des Schlossers zeigt eine wesentliche Erken­nt­nis aus der Neu­rowis­senschaft. Die Entschei­dun­gen von Men­schen wer­den bis zu 99 Prozent unter­be­wusst getrof­fen. Als Men­schen tre­f­fen wir also kaum Entschei­dun­gen bewusst. Unser Unter­be­wusst­sein wird durch Glaubenssätze geprägt, die durch unser soziales, famil­iäres und kul­turelles Umfeld sowie unsere eige­nen Erfahrun­gen geprägt wer­den. Ger­ade die eige­nen Erfahrun­gen sind ein wichtiger Fak­tor, wenn ein förder­lich­es Safe­ty Mind­set im Unternehmen erre­icht wer­den soll.

An ein­er Mas­chine zur Her­stel­lung von Kun­st­stoff­folien kommt es zu einem Prob­lem mit der Folie. Wenn der Mitar­beit­er an dieser Stelle bei laufen­d­em Prozess in die Mas­chine hine­in­greift und den Fehler behebt, entschei­det die Reak­tion seines Umfeldes darüber, welche Erfahrung er sam­melt. Wird das Ver­hal­ten geduldet, dann entste­ht der Glaubenssatz, dass man mal eben in die Mas­chine fassen kann, weil eh nichts passiert. Wird der Mitar­beit­er jedoch bei sein­er Hand­lung von Kol­le­gen unter­brochen oder von sein­er Führungskraft mit einem klären­den Gespräch bedacht, in dem Sicher­heit als höch­stes Gut her­aus­gestellt wird, entste­ht ein ander­er Glaubenssatz. Die Erfahrun­gen entschei­den also darüber, welche Glaubenssätze sich bei Men­schen entwick­eln. Im Wesentlichen kann dieser Prozess in vier Schrit­ten beschrieben wer­den, dem soge­nan­nten Safe­ty Loop. Im ersten Schritt hat ein Men­sch bere­its einen Glaubenssatz. Dann kommt es zum Beispiel zu einem Prob­lem an der Mas­chine und unter­be­wusst läuft ein Denkprozess ab, der Men­sch entschei­det sich für eine Hand­lung und sam­melt so eine Erfahrung. Diese Erfahrung prägt dann wieder die Glaubenssätze. Der Safe­ty Loop wieder­holt sich immer wieder und kann dadurch Glaubenssätze zum Arbeitss­chutz ver­tiefen oder verändern.

Safety Loop
Safe­ty Loop
Grafik: © WandelWerker

Hemmende Glaubenssätze gegenüber dem Arbeitsschutz

Hem­mende Glaubenssätze gegenüber dem betrieblichen Arbeitss­chutz dürften sich wahrschein­lich in jedem Unternehmen wiederfind­en. Gängige hem­mende Glaubenssätze sind beispiel­sweise „es ist noch nie etwas passiert“, „wenn ich das so mache, kann ich nicht mehr arbeit­en“ oder auch „das machen wir schon immer so“. Entschei­dend dafür, wie sich­er beziehungsweise nicht sich­er Führungskräfte und Mitar­bei­t­ende arbeit­en, ist die Anzahl und Aus­prä­gung der hem­menden Glaubenssätze.

Der 4‑Stufen-Plan zur Lösung hemmender Glaubenssätze

Führungskräfte besitzen eine große Ver­ant­wor­tung im Arbeitss­chutz. Den­noch haben auch Sicher­heitsin­ge­nieure und Fachkräfte für Arbeitssicher­heit eine min­destens genau­so wichtige Rolle, wenn es um das Lösen von hem­menden Glaubenssätzen geht. Deshalb richtet sich der fol­gende 4‑Stufen-Plan an Sicher­heitsin­ge­nieure und Fachkräfte für Arbeitssicherheit.

Damit Führungskräfte und Mitar­bei­t­ende eine neue Erfahrung sam­meln kön­nen, müssen Sicher­heitsin­ge­nieure und Fachkräfte für Arbeitssicher­heit vier Schritte ein­hal­ten, um eine Verbindung zu dem Gegenüber aufzubauen und um dem Arbeitss­chutz einen anderen Stel­len­wert zu geben. Im ersten Schritt muss der Arbeitss­chutzex­perte sich bewusst machen, dass es nicht nur seine per­sön­liche Real­ität gibt, son­dern auch eine Real­ität der Führungskräfte und Mitar­beit­er. Die Real­itäten unter­schei­den sich wahrschein­lich im Stel­len­wert von Arbeitss­chutz und Pro­duk­tion. In der zweit­en Stufe wird eine gemein­same Basis geschaf­fen, indem der Sicher­heitsin­ge­nieur und die Fachkraft für Arbeitssicher­heit sich in Führungskräfte und Mitar­bei­t­ende „hine­in­fühlen“, um ehrlich zu ver­ste­hen, warum Mitar­bei­t­ende und Führungskräfte die jew­eili­gen und sit­u­a­tiv­en Entschei­dun­gen in der Prax­is tre­f­fen. Durch dieses Ver­ste­hen ergibt sich die Möglichkeit, den hem­menden Glaubenssatz zu erken­nen und diesen aufzulösen. Hier­durch kön­nen Sicher­heitsin­ge­nieure und Fachkräfte für Arbeitssicher­heit die Führungskräfte und Mitar­bei­t­ende abholen und zu mehr Sicher­heits­be­wusst­sein und Akzep­tanz für den Arbeitss­chutz in einem bes­timmten Kon­text führen. Abschließend wird ein Com­mit­ment mit den Führungskräften und Mitar­bei­t­en­den vere­in­bart, bei dessen Ein­hal­tung es pos­i­tives Feed­back gibt.

Arbeit am Safety Mindset

Wenn rund 90 Prozent aller Arbeit­sun­fälle sich auf men­schliche Entschei­dun­gen und somit men­schlich­es Ver­hal­ten zurück­führen lassen, dann muss mehr mit den Führungskräften und Mitar­bei­t­en­den an deren Sicher­heits­be­wusst­sein gear­beit­et wer­den. Das Sicher­heits­be­wusst­sein wird nach­weis­lich durch die Glaubenssätze der Men­schen im Unternehmen zum Arbeitss­chutz geprägt. Ger­ade weil über 90 Prozent aller Entschei­dun­gen unter­be­wusst ablaufen, ist es von großer Bedeu­tung, am Safe­ty Mind­set ein­schließlich beste­hen­der Glaubenssätze zu arbeit­en. Eine Meth­ode auf dem Weg zum ver­hal­tensori­en­tierten Arbeitss­chutz ist der 4‑Stufen-Plan, in dem Sicher­heitsin­ge­nieure und Fachkräfte für Arbeitssicher­heit eine wesentliche Rolle spie­len. Eine Rolle, in die Arbeitss­chutzex­perten in den meis­ten Fällen erst hineinwach­sen müssen.

 

Stefan Ganzke
Ste­fan Ganzke © Wan­del­W­erk­er Con­sult­ing GmbH

Autor:
Ste­fan Ganzke
Wan­del­W­erk­er Con­sult­ing GmbH
E‑Mail: stefan.ganzke@wandelwerker.com

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