Frau Werner-Keppner, nicht immer bekommen Sicherheitsbeauftragte in Unternehmen die Aufmerksamkeit, die ihnen gebührt. Wie kam es, dass die Gasrußwerke gezielt ein Projekt für ihre Sicherheitsbeauftragten aufgelegt haben?
Die Gasrußwerke haben zu Beginn 2019 ein Sicherheitskulturprogramm angestoßen, in dem wir zunächst nur mit den Führungskräften gearbeitet haben. Allerdings ist gleich zu Beginn in einer Analyse der bestehenden Sicherheitskultur aufgefallen, dass die Sicherheitsbeauftragten als wichtige Ressource in der Sicherheitskultur nicht genutzt werden. Das heißt, es war von Anfang an geplant, diese Gruppe im Lauf des Prozesses einzubeziehen und ihnen eine veränderte Rolle zu geben.
Es gab zwar schon ausreichend Sicherheitsbeauftragte am Standort, die sich allerdings je nach eigenem Engagement und Wunsch des Vorgesetzten sehr individuell und überwiegend isoliert voneinander für die Sicherheitsbelange in ihren Bereichen einsetzten. Das heißt, es gab eine Begehung hier und da sowie die Treffen, zu der die Sicherheitsfachkraft einlud. Einige führten zudem regelmäßige Sicherheitskurzgespräche mit den Kollegen, wobei sich die Themen im Lauf der Jahre eingespielt hatten und regelmäßig wiederholt wurden. Andere Sicherheitsbeauftragte hatten hingegen keine eigenen expliziten Aufgaben und wurden daher auch nicht in dieser Funktion wahrgenommen.
Welche Ziele verfolgt das Projekt?
Als primäres Ziel wurde die Bildung eines Teams der Sicherheitsbeauftragten formuliert, die werks- und abteilungsübergreifend zusammenarbeiten. Jedes Teammitglied sollte in die Lage versetzt werden, durch eigenständige Arbeiten die Sicherheit am Standort nachhaltig zu verbessern und die Vorgesetzten aktiv zu unterstützen. Das Team sollte sich zunehmend selbst organisieren und gleichzeitig eine feste Stimme zum Thema Arbeitssicherheit am Standort bekommen.
Wie sind Sie vorgegangen?
Vor dem eigentlichen Start wurden zunächst eine Aufgabenbeschreibung sowie ein Anforderungsprofil ausgearbeitet. Dafür wurde das Managementteam nach seinen Erwartungen an eine solche aktive Unterstützung aus den Reihen der Mitarbeitenden gefragt. Und selbstverständlich wurde auch der Betriebsrat von Anfang an in die Planung und Durchführung einbezogen.
Zu den klassischen Aufgaben eines Sicherheitsbeauftragten sollten insbesondere folgende hinzukommen: Regelmäßige Begehungen gemeinsam mit Kollegen, Mitarbeit bei überschaubaren Projekten zum Thema Arbeitssicherheit, regelmäßige Treffen mit dem eigenen Vorgesetzten – sogenannte Jours Fixes – in denen die Sicherheitsaufgaben im eigenen Bereich abgestimmt werden sowie regelmäßige Teamtreffen. Letztere wurden anfänglich noch durch die Sicherheitsfachkraft initiiert, während sich das Team im Laufe der Zeit mehr und mehr selbst organisieren sollte.
Das erfordert einiges Engagement von Seiten der Sicherheitsbeauftragten. Wie groß war denn deren Motivation zur Teilnahme an dem Projekt beziehungsweise dazu, sich stärker einzubringen und zunehmend eigeninitiativ zu handeln?
Es war davon auszugehen, dass nicht alle schon seit langem benannten Sicherheitsbeauftragten Lust auf die neuen Aufgaben haben würden. Deshalb startete das Projekt mit einer Art „Casting“: Jede beziehungsweise jeder Sicherheitsbeauftragte wurde von ihren jeweiligen Abteilungsleitern gefragt, ob sie oder er Interesse hätte, auch unter den neuen Voraussetzungen dabei zu bleiben. Dabei wurde viel Augenmerk darauf gerichtet, dass auch eine Absage an weitere Mitarbeit im Team akzeptiert und respektiert wurde.
Zudem wurden zusätzliche Sicherheitsbeauftragte engagiert. Dabei wurde unter anderem darauf geachtet, dass zukünftig Kollegen aus allen Bereichen und Schichtteams zum Team gehören.
Wie ging es weiter, nachdem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer feststanden?
Nachdem das neue Team stand, ging es mit einer „Kick-Off Veranstaltung“, einem zweitägigen Teamworkshop, los. Neben dem Training für die „neuen Aufgaben“ wurde darin auch viel Raum für die Teambildung gegeben. Danach wollten wir richtig durchstarten – doch dann kam Corona. Das Projekt musste über den ersten Lockdown ruhen. Wir standen vor der Frage, ob Corona das Ende auch dieser Idee bedeuten würde. Doch das wollten wir nicht akzeptieren. Dazu war der Anfang einfach zu vielversprechend.
Und so folgten im Juli und August 2020 vorsichtige Neuanfänge, die den geänderten Umständen Rechnung trugen. Weil es nun nicht mehr möglich war, mit dem gesamten Team zu arbeiten, entschlossen wir uns, das Begehungskonzept im Rahmen eines Mini-Projekts durch eine kleine Gruppe von Sicherheitsbeauftragten ausarbeiten zu lassen. Das Ergebnis war wiederum vielversprechend: Die Begehungen sollten Teamaufgabe sein und einen aktiven Beitrag zur Verbesserung der Sicherheitsarbeit darstellen. Die Durchmischung und Zusammenarbeit der Sicherheitsbeauftragten untereinander wurde angestrebt, um die Kollegen und deren Herangehensweisen besser kennenzulernen und Erfahrungen teilen zu können.
Im September 2020 konnten wir die Sicherheitsbeauftragten für dieses neue Konzept der Begehung schulen und mit einer ersten Trainingsrunde starten. In wechselnden Zweierteams gehen die Sicherheitsbeauftragten seitdem einmal im Monat in einen zuvor festgelegten Bereich. Dazu wird vorher in den Teamsitzungen mit allen zusammen für jeden Monat ein Fokusthema bestimmt.
Wie kam das neue Begehungskonzept an?
Das neue Begehungskonzept wurde sehr positiv angenommen und zeigte sofort Erfolge in der Sicherheitsarbeit. So zum Beispiel beim ersten Fokusthema „Erkennen von Risiken im Umgang mit Leitern“, die im Arbeitsalltag kaum noch wahrgenommen wurden. Durch das bewusste Lenken der Aufmerksamkeit auf dieses Thema wurden in den Begehungen sehr viele kleinere und größere Mängel, die in der Alltagsroutine komplett untergegangen waren, erkannt.
In Kooperation von Sicherheits- und Leiterbeauftragten und mit Unterstützung des Produktionsmanagers, der sich als Sponsor einbrachte, wurde daraufhin das bestehende Leiterkonzept komplett überarbeitet und zum Teil neu erstellt. Die daraus entstandenen klaren Vorgaben zur Kontrolle, Aufbewahrung und Neuanschaffung von Leitern finden heute am gesamten Standort Anwendung.
Der erste Anstoß hat demnach sofort überzeugt und weitere Kreise gezogen?
Ja, genau. Weitere sichtbare Folgen der „neuen“ Sicherheitsbeauftragten-Arbeit waren, dass sehr viel mehr Meldungen von Risikosituationen und Beinaheunfällen eingingen und eigenständige Be- und Überarbeitungen von Gefährdungsbeurteilungen durchgeführt wurden. Dies geschieht am Standort unter anderem nach dem vor einigen Jahren sehr erfolgreich eingeführten JSA-Konzept, eine Abkürzung für job safety analyse. Die Eigeninitiative der Sicherheitsbeauftragten wuchs dann in bewundernswertem Maße. Es folgten nicht nur Ideen und Vorschläge an das Management, sondern auch deren Umsetzung in kleinen Projekten, zum Beispiel das Gestalten und Einrichten eines virtuellen Teamraums und die Entwicklung einer neuen Form von Sicherheitskurzgesprächen.
Gleichzeitig machte sich ein Multiplikatoreneffekt bemerkbar: Es wurde mehr Engagement der Teamleiter und Schichtmeister sichtbar. Dies wurde durch die steigenden Erwartungen und Nachfragen der Sicherheitsbeauftragten im Rahmen eines Konzeptes, das sich „Team der Sicherheit“ nennt, hervorgerufen. Dies ist der Schulterschluss zwischen den Sicherheitsbeauftragten und ihren jeweiligen Vorgesetzten. An dieser Stelle entwickelte sich eine Eigendynamik: Inspiriert durch den eigenen Erfolg und bestärkt durch die Treffen mit den Vorgesetzten übernahmen die Sicherheitsbeauftragten zunehmend Verantwortung für die Durchführung der Sicherheitsarbeit.
Sie wurden aber noch einmal von der Corona-Pandemie ausgebremst. Wie haben Sie es geschafft, am Ball zu bleiben?
Mit dem zweiten Lockdown kam in der Tat erneut die Sorge auf, dass die Motivation zur Mitarbeit im Projekt verloren gehen könnte. Aber dazu hatten wir schon zu viel in Bewegung gesetzt und erreicht. Beim ersten Lockdown im März 2020 war das Projekt direkt nach dem ersten Anlauf steckengeblieben. Wir haben damals aus der Not eine Tugend gemacht, knöpften uns das Pilotprojekt noch einmal vor und konnten es entsprechend überarbeiten. Der Neustart im Juli/August 2020 erfolgte daraufhin mit einem verbesserten Konzept. Schnell stellte sich Erfolg ein und gab uns recht.
Das motivierte uns, auch nach dem erneuten Stopp im November weiterzumachen, diesmal allerdings online. Das Unternehmen hat dafür Geld in die Hand genommen und Lizenzen sowie Tablets für das Sibe-Team angeschafft. So konnte das Projekt per Videokonferenzen weitergehen. Statt Workshops gab es Coachings für Zweierteams. Kleinere Arbeitsgruppen trafen sich in regelmäßigen Abständen virtuell. So wurde – wie an so vielen Stellen – aufgrund der Pandemie sehr schnell eine völlig neue Art der Zusammenarbeit eingeführt.
Eine weitere Umstellung für die Teilnehmenden. Haben die neuen Kommunikations- und Arbeitsformen denn gleich reibungslos funktioniert?
Für viele der Beteiligten war es neu und irritierend, per Web-Konferenz zu arbeiten. Doch die direkte Coachingsituation mit maximal zwei Teilnehmern gleichzeitig erlaubte es uns, auf individuelle Bedürfnisse, Sorgen oder auch Misstrauen gegenüber der neuen angestrebten Linie in der Sicherheitsarbeit einzugehen. Anders als im Teamworkshop wird der Einzelne im Coaching stärker wahrgenommen und damit auch in seinen persönlichen Bedürfnissen angesichts der geforderten Veränderungen spürbar ernstgenommen. So konnten wir wieder etwas Gutes aus der zunächst misslichen Situation ziehen und persönliche Bedenken besser auffangen. Das hat den Prozess letztlich intensiviert und kam folglich allen zugute.
Wo stehen Sie jetzt und wie geht es weiter?
Angesichts der sichtbaren Erfolge wurde und wird dem Programm auch weiterhin große Priorität eingeräumt. Einen Meilenstein in der Veränderung der Sicherheitskultur stellt dabei das unternehmenseigene „Lebensretterkonzept“ dar. Es ist dazu bestimmt, die Sicherheitsarbeit bei den Gasrußwerken auf ein völlig neues Niveau zu heben. Dazu wurden fünf Themen identifiziert, von denen die höchsten Risiken für Gesundheit und Leben ausgehen.
Neu sind wohlgemerkt nicht die Maßnahmen für den sicheren Umgang mit diesen Risiken; neu ist das konsequente Ansprechen und Einfordern der dazu gehörigen überlebenswichtigen Regeln. Und hier kommen insbesondere die Sicherheitsbeauftragten ins Spiel. Es ist wieder ein Projektteam aus Sicherheitsbeauftragten, die – von der Fachkraft für Arbeitssicherheit moderiert – das komplette Konzept erarbeiten. Damit sind sie nicht nur von Anfang dabei, sondern maßgeblich an der Entwicklung des „Lebensretterkonzept“ beteiligt. Sie sind bei Absprachen mit der Geschäftsleitung und dem Managementteam zugegen und werden die Umsetzung aktiv im Unternehmen begleiten.
Leider bremst uns auch hierbei Corona immer wieder mächtig aus – aber wir bleiben dran und gehen, immer wenn die Inzidenzzahlen Aktionen erlauben, sofort ein Stück weiter. So etabliert sich Schritt für Schritt ein Umgang miteinander, in dem sich alle Kollegen – gänzlich ungeachtet ihrer Position in der Hierarchie – konsequent gegenseitig auf sicheres Verhalten ansprechen und dadurch schützen.
Die Sicherheitsbeauftragten haben also schon eine Menge bewirkt. Sie sind sichtbar geworden und werden als wichtige Mitspieler in der Arbeitsschutzorganisation wahrgenommen und geschätzt. Das soll auch in Zukunft so bleiben.
Statement der Geschäftsführung
„Unser Problem war, dass wir zwar viele Sicherheitsregeln hatten, diese aber nicht immer eingehalten wurden. Hier gab es gewisse ‚Wellenbewegungen‘, je nachdem, welche ‚Sicherheitsaktion‘ gerade gefahren wurde. Mit den ‚Lebensrettern‘ wurden jetzt typische Arbeitsgebiete identifiziert, von denen die größten Gefährdungen ausgehen. Hierzu wurde ein Konzept entwickelt, das die Gefährdungen beschreibt, die Regeln definiert und auch die Konsequenzen für eine Nichtbefolgung klar kommuniziert. Der Grundgedanke dabei ist, dass die Regeln für jeden gelten – egal, ob Mitarbeiter, Kontraktor oder Besucher. Dies alles wurde von einer Arbeitsgruppe der Sicherheitsbeauftragten erarbeitet, die auch bei der Umsetzung die tragende Rolle spielen. Das Konzept kommt daher nicht ‚von oben‘, sondern wurde aus der Mannschaft heraus entwickelt. Wir versprechen uns davon, dass das Sicherheitsbewusstsein der gesamten Belegschaft hierdurch dauerhaft gestärkt wird.“
Harald Baumgart, Geschäftsführer KG Deutsche Gasrußwerke GmbH & Co.
Statement der Fachkraft für Arbeitssicherheit
„Bisher war es so, dass die Sicherheitsbeauftragten mehr oder weniger als ‚Einzelkämpfer‘ in ihren Abteilungen oder Schicht unterwegs waren. Input gab es durch die Sicherheitsfachkraft in regelmäßigen Meetings. Da hat jeder einzelne mit unterschiedlichem Engagement die Themen der Sicherheit in den jeweiligen Teams transportiert und vertreten. Im Mittelpunkt der Weiterentwicklung des Aufgabenspektrums der Sicherheitsbeauftragten steht, schlagkräftige Teams zu formen, die sich als Gemeinschaft für den Arbeitsschutz einsetzen. Damit wird die Rolle, als Multiplikatoren für sicheres Arbeiten an der Basis zu wirken, nochmals wesentlich verbessert. Die Vernetzung stärkt das ‘Wir Gefühl‘ und damit auch das Ansehen der Sicherheitsbeauftragten bei den Kollegen, den Führungskräften und allgemein im Unternehmen. Unterstützt wird dieser Prozess durch die neu eingeführten Tools:
- Jour Fixe mit der direkten Führungskraft (sogenanntes Team der Sicherheit)
- Einrichtung eines gemeinsamen (virtuellen) Teamraums im lokalen Firmennetzwerk
- Neues Begehungskonzept mit Fokusthemen
- Cross Begehungen (Sicherheitsbeauftragte unterschiedlicher Abteilungen organisieren selbsttätig wechselnd Begehungen)
- Mitwirkungen bei Projekten (zum Beispiel Weiterentwicklung des Sicherheitsprogramms)
Als Ziel wird angestrebt, dass die Sicherheitsbeauftragten ihre Arbeit vollkommen selbsttätig organisieren und dieser Prozess durch die Sicherheitsfachkraft nur noch moderiert wird.“
Walter Blümel, Sicherheitsfachkraft am Standort in Dortmund
Statements von Sicherheitsbeauftragten
- „Die Sibe-Arbeit ist eine fundamentale Arbeit in unserem Unternehmen. Mit dem Stoppen-Denken-Schützen Programm und dem Lebensretter-Konzept dürfen wir einen großen Beitrag zur Arbeitssicherheit leisten“
- „Im Betrieb können wir nun schnell und sichtbar etwas verändern. Wir sehen unsere Erfolge, indem wir Missstände beheben und die Vorgänge selbst beeinflussen können.“
- „Es bleibt ein ständiger Kampf gegen die Betriebsblindheit – da müssen wir uns auch als Sicherheitsbeauftragte immer wieder an die eigene Nase packen.“
KG Deutsche Gasrußwerke GmbH & Co. (DGW)
Die KG Deutsche Gasrußwerke GmbH & Co (DGW) ist ein mittelständisch geprägtes Unternehmen aus der chemischen Industrie. DGW stellt Verstärkerfüllstoffe (Rubber Black) für die Reifen- und Gummiindustrie sowie Pigment Blacks für die Farb‑, Druck- und Kunststoffindustrie her. Darüber hinaus liefert DGW Strom und Fernwärme aus anfallender Prozesswärme für eine Vielzahl der Dortmunder Haushalte.
- Unternehmenssitz: Dortmund
- Gegründet 1936 als Russwerke Dortmund
- Bedeutender Hersteller von Carbon Black
- Mitarbeiterzahl: 190
- https://gasruss.de