Die Gefährdungsbeurteilungen sollen „angemessen“ und nachvollziehbar sein. Die Bewertung mittels Risikomatrix (zum Beispiel Nohl) ist praktikabel und vermeintlich einfach. Nicht immer sind die Beurteilungen dort aber im Detail begründet bzw. beruhen auf gleichlautenden und fachlich fundierten Vorgaben.
Für physische Belastungen sieht daher die Lastenhandhabungsverordnung die Leitmerkmalmethode (LMM) der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) als ein geeignetes Werkzeug zur Gefährdungsbeurteilung bei der Handhabung von Lasten. Die Verordnung sagt in Ziffer 2: Manuelle Handhabung im Sinne dieser Verordnung ist jedes Befördern oder Abstützen einer Last durch menschliche Kraft, unter anderem das Heben, Absetzen, Schieben, Ziehen, Tragen oder Bewegen einer Last.
Die LMM findet somit nicht nur in der Industrie Anwendung, sondern auch zum Beispiel in
- Gastronomie und Großküchen,
- Berufen der Krankenversorgung, Pflege oder Kinderbetreuung,
- Feuerwehr, Sanitätsdienst
Der nachfolgende Artikel richtet sich somit im Wesentlichen an alle, die in ihrem Verantwortungsbereich Tätigkeiten gemäß Lasthandhabungsverordnung zu beurteilen haben und für die eine Objektivierung dieser Beurteilung ein Ziel ist.
LMM – Welchen Beitrag kann eine IT-Unterstützung leisten?
Die Handhabungsanleitung der BAuA unterscheidet sechs Leitmerkmal-Methoden bzw. Teiltätigkeiten und sieht im Wesentlichen die folgenden Arbeitsschritte (Beispiel LMM Ganzkörperkräfte) vor:
- Bestimmung der Zeitwichtung für kontinuierliche bzw. diskontinuierliche Tätigkeiten
- Bestimmung der Wichtung weiterer Merkmale (u.a. Kraftausübung, Halten/Bewegen je Zeiteinheit, Symmetrie der Belastung, Umgebungsbedingungen, Kleidung etc.)
- Basierend darauf im Schritt 3 eine Berechnung auf Basis der Wichtungen und Ableitung von Risikobereich und Belastungshöhe, getrennt nach Geschlecht männlich/weiblich.
Die Arbeit mit der LMM erfordert Fachexpertise und ist in dieser Ausprägung primär eine „analoge“ Tätigkeit. Eine IT-Lösung kann/sollte unterstützend wirken:
- Bereitstellung der Erfassungsformulare mit interaktiven Erfassungshilfen
- Wiedervorlage von Beschreibungstexten für Tätigkeit, Arbeitsbereich und Arbeitsschutzmaßnahmen
- Mehrfachverwendung von LMM-Beurteilungen zu Teil-Tätigkeiten, die in mehreren Arbeitsbereichen anfallen
- Bereitstellung von Informationen aus anderen Gefährdungsfaktoren, z.B. PSA/Kleidungsvorgaben im Arbeitsbereich
- Technische Berechnung der Wichtung und der Ermittlung Risikobereich/Belastungshöhe
- Aggregation der Ergebnisse von Teil-Tätigkeiten zur Beurteilung der Gesamt-Tätigkeit im Arbeitsbereich
- Interpretation und Übertragung der Ergebnisse in die allgemein gängige Risikomatrix des etablierten Arbeitsschutzmanagementsystems (AMS) im Unternehmen
- Übernahme der ermittelten Maßnahmen in die Maßnahmensteuerung des AMS im Unternehmen
- Integration der LMM für physische Belastungen in den Freigabeprozess der Gesamt-Gefährdungsbeurteilung zu Tätigkeit/Arbeitsbereich
- Fortschreibung und Versionierung der LMM-Bewertung inkl. Wiedervorlagesteuerung zur Überprüfung der Nachhaltigkeit
Fazit: Die Standard-LMM ist mit IT-Mitteln sehr gut zu „fassen“ und ohne Medienbruch zu integrieren. Somit kann/sollte eine IT-Lösung den Fachexperten von einfachen Tätigkeiten und Übertragungsaufgaben befreien und Zeit für die Fach-Aufgabe sparen.
Prognose der Belastungen einer Arbeitsschicht
Für den Schutz der Mitarbeiter ist es unabdingbar, aus der Summe der Einzelbewertungen zu Tätigkeit/Arbeitsbereich die Belastung im Arbeitsalltag zu ermitteln. Also die Kombination im Verlauf z.B. einer Arbeitsschicht mittels tatsächlicher oder fingierter Arbeitsplanung zu prognostizieren.
In der Arbeitsplanung eines Unternehmens ist die Ebene „Tätigkeit“ im Sinne der Gefährdungsbeurteilung meist zu kleinteilig, sie arbeiten mit dem Begriff „Arbeitsvorgang“. Ein Arbeitsvorgang ist als die kleinste Aufgabe anzusehen, welche gemäß einem Arbeitsplan festgelegt wird. Unterschieden wird vereinfacht in:
- Auftragsneutrale Arbeitsvorgänge
- Auftragsorientierte Arbeitsvorgänge
Beide Arten der Arbeitsvorgänge sind im Unternehmen bekannt. Auftragsorientierte Arbeitsvorgänge sind i.d.R. unmittelbare Kalkulationsgrundlage im Vertrieb und Planungsgrundlage im Werk. Auftragsneutrale Arbeitsvorgänge repräsentieren i.d.R. die nicht-produktiven Maschinenzeiten bzw. Leistungen 1. und 2. Ebene im Unternehmen. Leistungen 1. Ebene werden noch in den Auslastungsplänen der Engpass-Ressourcen mitgeplant (z.B. Zeittafel der Maschinenbelegung), Leistungen 2. Ebene (z.B. Stapler versorgt Maschinenarbeitsplatz mit Material vom Lager) lassen sich meist auf Basis von Kennzahlen aus Ebene 1 ableiten, die genaue Ausführungsreihenfolge ist aber in keinem Planungssystem hinterlegt.
Für eine IT-Lösung ergeben sich daraus erweiterte Anforderungen:
- Aufbau von realistischen Szenarien für eine Fertigungs- bzw. Ausführungsreihenfolge von Arbeitsvorgängen für eine Arbeitsschicht
- Wenn vorhanden, Übernahme dieser Reihenfolgeplanungen inkl. Terminvorgaben aus den Planungssystemen
- Ermittlung der Reihenfolge auf Ebene Tätigkeiten/Teil-Tätigkeiten
- Möglichkeit der Festlegung von Schwellwerten und Höchstbelastungswerten
- Möglichkeit der Festlegung von Mindestabständen zwischen Teil-Tätigkeiten und Hochbelastungssituationen
- Bildung von alternativen Reihenfolgeszenarien mit Optimierungsunterstützung
- Ableitung von „Standard“-Maßnahmenvorschlägen
- Ggfs. Übergabe von Maßnahmen an das Produktions-Planungssystem (z.B. Änderungsvorschläge Reihenfolgeplanung)
„Standard“-Maßnahmenvorschläge können zum Beispiel dauerhafte oder temporäre personelle Unterstützung, Rotation im Personaleinsatz, Beistellung von technischen Hilfsmitteln etc. sein.
Fazit: Bei Unternehmen mit vorhandener Reihenfolgeplanung von Arbeitsvorgängen und deren Tätigkeiten lassen sich Prognosen und davon abgeleitet Verbesserungen im Mitarbeiterschutz gestalten. Mittels integrierter IT-Lösungen ist der damit verbundene Aufwand überschaubar zu gestalten. Mittels einfacher Simulation sollten sich auch Unternehmen ohne Planungssystem ein realistisches Bild einer täglichen Arbeitseinheit vergegenwärtigen können.
Inwieweit tiefere Integration in PLM/ERP-Systeme in der Industrie noch einen sinnvollen Beitrag leisten kann (z.B. Übernahme Gewichtsdaten zu relevantem Material/Gebinde) sollten weiterführende Untersuchungen ergeben (siehe auch „Roadmap 4ty“ weiter unten im Text).
Die Gender-Frage oder die Varianz eines Bewertungssystems
Die LMM sieht eine Unterscheidung der Belastungsbewertung nach dem Geschlecht der Mitarbeitetenden vor. Die Unterscheidung erfolgt durch Verwendung unterschiedlicher Faktoren bei der Bewertung der Wichtungen. Das kann als pragmatische Vereinfachung akzeptiert sein, inwieweit sie tatsächlich der Realität einer diversen Gesellschaft entspricht, mag jeder selbst beurteilen.
Für eine IT-Lösung ergäben sich aber durchaus erweiterte Anforderungen
- Die Möglichkeit mittels zentralen Steuerungsparametern die Faktoren zur Berechnung den eigenen Bedürfnissen gemäß anzupassen
- Die Möglichkeit an verschiedenen Standorten des Unternehmens unterschiedliche Faktoren einzusetzen (z.B. Index abhängig von der durchschnittlichen Körpergröße in einem Land)
- Die Möglichkeit weitere Personengruppen definieren zu können (z.B. „vermindert belastbare Personen“, „Jugendliche nach JArbSchG“, „Beschäftigte nach MuSchG“)
Fazit: Eine Einflussnahme auf ein Standard-Bewertungssystem wie LMM ist natürlich sehr sensibel und im Unternehmen nur mit breitem Konsens zu empfehlen. Es ist hohes Fachwissen und ggfs. das Heranziehung evidenter Information notwendig, um sinnvolle Steuerungsparameter zu ermitteln. Wenn ein Unternehmen aber den Weg der detaillierten LMM-Bewertung schon gegangen ist, bietet eine entsprechende IT-Lösung die Chance variantenreicher und damit passgenauer berechnen und steuern zu können.
Überprüfen der Durchführung und der Wirksamkeit der Maßnahmen
Eine Kernforderung des Arbeitsschutzgesetzes lautet: „Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und erforderlichenfalls sich ändernden Gegebenheiten anzupassen“. Die Schwierigkeit, nicht-Ereignisse – nämlich, dass Mitarbeiter keinen Schaden genommen haben – zu messen, ist bekannt. Als mögliche Methode, um Rückschlüsse auf die Wirksamkeit bzw. vorher: die Stimmigkeit der LMM-Bewertungen zu erhalten, schlage ich eine Umfrage nach der Blitzlicht-Methode vor. Diese sollte zeitnah am Ende eines Arbeitsabschnitts (z.B. Schicht) erfolgen – je nach Situation auf Papier mit nachträglicher Erfassung oder direkt online am Rechner.
Umfragen müssen anonym erfolgen und ohne Rückschluss auf den Antwortgeber bleiben. Die IT-Lösung liefert dabei:
- eine Liste der Arbeitsvorgänge. Entweder eine fiktive Liste der Arbeitsvorgänge zum Arbeitsbereich oder eine konkrete, entlang der Arbeitsplanung, wenn vorhanden
- wenn von der Anzahl der Einzelpunkte sinnvoll (nicht mehr als 15 Zeilen) auch mit Auflistung von Tätigkeiten und Teil-Tätigkeiten
Der Mitarbeiter wird gebeten
- die Arbeitsvorgänge zu bewerten (z.B. die 3 „schwersten“, die 3 „leichtesten“) – oder optimaler: Eine Reihenfolge leicht zu schwer von 1–15 zu bilden und
- bei den schwersten die Teil-Tätigkeiten anzukreuzen oder zu notieren.
Die IT-Lösung kann nun
- die Reihenfolge bzw. Bewertung gegen die LMM-Prognosen spiegeln,
- wenn vorhanden noch die Abhängigkeit der Belastungsempfindung abhängig vom Zeit-/Belastungsverlauf ermitteln und
- gibt damit Hinweis an die Ergonomie-Experten zu möglicher Diskrepanz zwischen „errechneter“ Belastung und gefühlter Belastung.
Fazit: Mit der Blitzlicht-Methode können sich die Ergonomie-Experten von den Mitarbeitern Hinweise einholen, ob die LMM-Bewertungen realistisch sind bzw. dem persönlichen Empfinden entsprechen.
Physische Unterforderung
Ein Feld möchte ich noch streifen: Die physische Unterforderung bzw. „einseitige Belastung“. Wie Dr. Manfred Dangelmaier (Fraunhofer IAO) anmerkt1: Auch Unterforderung führt zu muskuloskelettalen Risiken, u.a. Verspannungen, Verkürzung der Muskulatur, muskuläre Atrophie, verminderte Knochendichte, Osteoporose, Rückenschmerzen, Bandscheibenvorfall … Sein Schlagwort: „use it or lose it“. Dr. Dangelmaier beschreibt ein Bandbreitenmodell, bei dem ein individueller „grüner“ Bereich flankiert ist von gelb-bis-roten Überforderungen und Unterforderungen.
Mit der LMM können physische Belastungen bewertet werden, dies ist aber nur ein Aspekt auf dem Weg zur Erhaltung physischer Gesundheit. Die Gesamtsicht auf die Gesundheit obliegt natürlich weiterhin der betriebsärztlichen Betreuung. Mit ihr zusammen können Maßnahmen wie Job-Rotation, Ausgleichssport /-übungen, Aufgaben-Enrichment besprochen werden, um dauerhafter Unterforderung bzw. einseitiger Belastung entgegen zu wirken. Eine für betriebliche Belange taugliche IT-Lösung zur Ermittlung individueller Fitness- und Ausgleichspläne kenne ich aktuell nicht.
Agile Weiterentwicklung der Gefährdungsbeurteilung
4ty („for safety“) ist eine Software für Gefährdungsbeurteilung und Maßnahmensteuerung. 4ty ist seit Januar 2021 produktiv im Einsatz und kann über www.4ty.io gebucht werden. 4ty unterstützt primär die Risikobewertung nach Nohl, unser Fahrplan für die Weiterentwicklung sieht vor:
- Wir werden im Sommer 2021 die Bewertung physischer Belastungen auf Basis der Leitmerkmalmethode aktivieren und in 4ty integrieren
- Parallel werden wir die Konzeption der weiteren Überlegungen (Belastungs-Prognose Arbeitsschicht, Erhöhung Bewertungsvarianz m/w, Umfrage/Nachhaltigkeitsüberprüfung) durchführen und die nächsten Entwicklungspakete festlegen.
Experten und Interessierte dürfen gerne mitmachen, Feedback geben und testen.
1 Theissen, Pablo; Dangelmaier, Manfred: Entwicklung eines ergonomischen Bewertungstools für gesundheitsförferliche physische Arbeit. In: Gesellschaft für Arbeitswiisenschaft — GfA- : Soziotechnische Gestaltung des digitalen Wandels — kreativ, innovativ, sinnhaft: 63 Frühjahrskongress der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft, FHNW Brugg-Windisch, Schweiz 15. bis 17. Februar 2017.Dortmund GfA Press, 2017 S. 5
Wahid Khachabi
4ty – Preventive Safety
Lösung für Gefährdungsbeurteilung, Maßnahmensteuerung und Betriebsanweisung