Man hört immer wieder, der Mensch soll im Mittelpunkt stehen. Aus der Perspektive des Arbeitsschutzrechts ist das zunächst richtig. Die Menschen heißen dort „Beschäftigte“. Das Arbeitsschutzgesetz „dient dazu, Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten bei der Arbeit durch Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu sichern und zu verbessern“ (§ 1 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG) – und der „Arbeitgeber ist verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen“ (§ 3 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG).
Der Beschäftigte steht im Mittelpunkt („bei der Arbeit“)
Wer genau liest, erkennt aber, dass der Mensch nicht bedingungslos im Mittelpunkt steht. Es geht nur um „Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten bei der Arbeit“. Im Jahre 2013 ergänzte der Gesetzgeber ausdrücklich im Arbeitsschutzgesetz, dass sich eine Gefährdung insbesondere auch aus „psychische Belastungen bei der Arbeit“ ergeben könne (§ 5 Abs. 3 Nr. 6 ArbSchG) – und in der Gesetzesbegründung heißt es: „Durch die Formulierung ‚bei der Arbeit‘ wird deutlich gemacht, dass die Klarstellung nicht bezweckt, den Gesundheitszustand der Beschäftigten generell im Hinblick auf alle Lebensumstände zu verbessern. Schutzmaßnahmen werden dem Arbeitgeber weiterhin nur insoweit abverlangt, als Gefährdungen für die physische oder die psychische Gesundheit der Beschäftigten durch die Arbeit auftreten“1.
Organisation und Geld stehen im Mittelpunkt (des Personalwesens)
Oswald Neuberger hat provoziert: „Der Mensch ist Mittel. Punkt“2. Diese Aussage ist bezogen auf das Personalwesen: „Nicht der Mensch steht im Mittelpunkt (des Unternehmens wie des Personalwesens), sondern das Geld“ – und „auf den Menschen einzugehen, das ist entweder Luxus, den man sich leisten kann, weil die Geschäfte gut gehen, oder eine nur scheinbare Extravaganz, weil gezeigt werden kann, dass es sich auszahlt“.
Als Arbeitsschützer oder Jurist kann man entgegenhalten, dass es nicht extravagant ist, auf die Sicherheitsbedürfnisse des Beschäftigten einzugehen, sondern Rechtspflicht. Aber aus der Perspektive des Human Resources Management wird zugegeben: „Im HRM interessiert nicht primär der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin als Person, sondern ihr zum Erreichen der Unternehmensziele nutzbares Leistungspotenzial – also das Personal“3. „Mitarbeiter sind nicht Mittelpunkt der Unternehmensführung, sondern Mittel zur Unternehmensführung“4. Ohne es in diesem Zusammenhang wahrzunehmen, verdeutlicht das auch die EU-Kommission bei ihren Aussagen zu Art. 5 EG-Maschinenrichtlinie, nach dem der Hersteller für das Konformitätsbewertungsverfahren „über die notwendigen Mittel verfügen oder Zugang zu ihnen haben muss, um sicherzustellen, dass die Maschine die grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen erfüllt“5. Zu den erforderlichen Mitteln gehören auch „die benötigten qualifizierten Mitarbeiter“6 – auch Mitarbeiter sind also Mittel. Auch die verantwortlichen Personen (gemäß § 13 ArbSchG) sind so gesehen Mittel, um den Arbeitsschutz umzusetzen. Sie sind Teil der „geeigneten Organisation“ und „Führungsstruktur“ gemäß § 3 ArbSchG.
Der Arbeitgeber steht im Mittelpunkt (der sicherheitstechnischen Unterstützung)
Und es gibt weitere Widersprüche: das Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) definiert die Aufgabe der Fachkräfte für Arbeitssicherheit, „den Arbeitgeber beim Arbeitsschutz und bei der Unfallverhütung in allen Fragen der Arbeitssicherheit einschließlich der menschengerechten Gestaltung der Arbeit zu unterstützen“ – und sie haben insbesondere „den Arbeitgeber und die sonst für den Arbeitsschutz und die Unfallverhütung verantwortlichen Personen zu beraten“7. Aber aus Kostengründen stehen nicht alle Menschen, die es nötig hätten, im Mittelpunkt der Unterstützung gemäß ASiG – etwa im Schulbereich nicht immer Lehrpersonal und nicht die Schülerinnen und Schüler:
Erstens: Beraten wird nicht jeder mit hoher Arbeitsschutzverantwortung: so heißt es in einem Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst vom 30.10.2013 an die nachgeordneten Dienststellen8: „Eine individuelle Beratung von Lehrkräften durch die genannten Fachkräfte für Arbeitssicherheit ist nicht durch das Dienststellenmodell vorgesehen“. Dass es dabei um Kostenfragen im Personalwesen im Sinne Neubergers geht, beweist ein Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg9: Die Regierung von Unterfranken versagte einer Trägerin verschiedener privater Ersatzschulen für eine Schule zur Sprachförderung „unter Hinweis auf“ diese „ministerielle Weisung die Erstattung geltend gemachter Kosten für die Bestellung eines externen Betriebsarztes und einer externen Fachkraft für Arbeitssicherheit“ – das Gericht meint, zu Recht: „Bei den streitigen Kosten der Arbeitssicherheit und Arbeitsmedizin handle sich um so genannte Trägerverwaltungskosten, d.h. typische Kosten des Trägers im Bereich der Personalverwaltung und Organisation der Schule“. Sie „stellen eine nicht geförderte, besondere Leistung des privaten Schulträgers dar, die der Schulträger im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit erbringe. In Bezug auf die Finanzierbarkeit und Wirtschaftlichkeit dieser Aufwendungen trage der private Schulträger das Unternehmerrisiko“.
Zweitens: Obwohl zahlreiche Arbeitsschutzverordnungen auch Schüler und Studierende schützen (§ 2 Abs. 4 Nr. 1
BetrSichV, GefStoffV, BioStoffV) und Unfallverhütungsvorschriften schon zuvor für alle Versicherten galten, also auch Schüler und Studierende10, und § 2 Abs. 1 DGUV Vorschrift 1 die Arbeitsschutzverordnungen in Bezug nimmt, heißt es, „Schüler, Studenten und Kita-Kinder werden beim Besuch der Bildungseinrichtungen durch das ASiG nicht erfasst. Daher ist für diesen Personenkreis keine betriebsärztliche und sicherheitstechnische Betreuung vorzusehen“11 – und: „Die „DGUV Vorschrift 2 beschränkt den Anwendungsbereich des ASiG ausdrücklich auf ‚Beschäftigte‘, nicht auf ‚Versicherte‘“12. Ich kann diese Beschränkung in § 1 zum „Geltungsbereich“ nicht erkennen – jedenfalls ist sie da nicht „ausdrücklich“ enthalten. Die Beschäftigten tauchen in § 6 ASiG erst ganz am Ende als Adressat einer Hinwirkungs- und Belehrungspflicht auf: die Sicherheitsfachkraft hat „darauf hinzuwirken, dass sich alle im Betrieb Beschäftigten den Anforderungen des Arbeitsschutzes und der Unfallverhütung entsprechend verhalten, insbesondere sie über die Unfall- und Gesundheitsgefahren … zu belehren“. Daraus ableiten zu wollen, der Unterstützungsauftrag gemäß § 6 ASiG beschränke sich auf Beschäftigte, halte ich für unzutreffend.
Der Mensch steht im Mittelpunkt (nach einem Unfall)
Mit ganzer Wucht tauchen Menschen übrigens doch in der Formulierung des § 6 Satz 1 ASiG auf, dass die Unterstützungsaufgabe der Fachkräfte für Arbeitssicherheit sich auch auf die „menschengerechte Arbeitsplatzgestaltung“ bezieht. Dieser Menschenbezug wird übrigens besonders deutlich nach Arbeitsunfällen, die immer mit unfassbaren menschlichen Schicksalen verbunden sind – natürlich für die Geschädigten, aber auch für die bei der Aufarbeitung Beteiligten. Falk Eckert berichtet in seiner Dissertation „Subjekt ohne Ruhe – Vom tätigen Leben in der spätmodernen Arbeitsgesellschaft“13 von einer Sicherheitsfachkraft, die „in seiner Erzählung davon, wie er die Position als Fachkraft für Arbeitssicherheit ausübt, verdeutlicht, dass es sich um weit mehr als einen rationalen oder gar bürokratischen Verwaltungsakt handelt. Es geht um Menschen, Schicksale und Leiden“. Wörtlich sagt er14: „Jeden Unfallbericht, den ick lese oder jeder Unfallbericht, den ich kriege, da weiß ich, wie der Unfall in etwa abgelaufen is und da weiß ich, dass da Schmerz, Blut, Tränen und Aua dahintersteckt. Wir waren da letzte Woche bei ner Unfallanalyse hier in Halle 11, da hat ein Mitarbeiter seine Fingerkuppe verloren. Dem fehlen an der Fingerkuppe zweimal ein Zentimeter. Die gesamte untere Fingerkuppe is weg. Die hab ich dann aus der Maschine rausgeräumt. Während er dann zwischenzeitlich schon im Krankenhaus war“.
Übrigens: Es heißt, Unfallverhütungsvorschriften sind in rot – mit dem Blut der Versicherten – geschrieben.
Fußnoten
1 BR-Drs. 811/12 v. 21.12.2012, S. 66.
2 Neuberger, Der Mensch ist Mittelpunkt, der Mensch ist Mittel – Punkt: 8 Thesen zum Personalwesen, in: Personalführung, 1990 Heft 1, S. 3 ff.
3 Susanne Felger/Angela Paul-Kohlhoff, Human Resource Management – Konzepte, Praxis und Folgen für die Mitbestimmung, S. 45 (Edition der Hans-Böckler-Stiftung 102: https://www.boeckler.de/pdf/p_edition_hbs_102.pdf).
4 Becker, Personalführung – Zwischen Distanz und persönliche Nähe, in: Krüger/Klippstein/Merk/ Wittberg, Praxishandbuch des Mittelstands – Leitfaden für das Management mittelständischer Unternehmen, 2006, S. 275, 279.
5 Ausführlich hierzu Wilrich, Produktsicherheitsrecht und CE-Konformität (2021).
6 EU-Kommission, Leitfaden Maschinenrichtlinie, 2. Aufl. 2010, § 105.
7 Ausführlich Wilrich, Verantwortung und Haftung der Sicherheitsingenieure: Unterstützungs‑, Beratungs‑, Berichts‑, Prüfungs‑, Warn- und Sorgfaltspflichten der Fachkräfte für Arbeitssicherheit als Stabsstelle und Unternehmerpflichten in der Linie – mit 15 Gerichtsurteilen und Strafverfahren zu Fahrlässigkeit und Schuld nach Arbeitsunfällen (2021).
8 Az. II.5 – 5 P 4007.3 – 6b.103947.
9 VG Würzburg, Urteil v. 08.11.2017 (Az. W 2 K 17.811).
10 Zum Unfallversicherungsschutz von Schülern gemäß § 2 Nr. 8 b) SGB VII und einem Rückgriff gegen den Lehrer siehe das Urteil „Raketentreibstoff im Schullabor“, besprochen im Buch Wilrich/Wilrich, Gefahrstoffrecht vor Gericht – 40 Urteilsanalysen zum Arbeitsschutz und zur Haftung nach Chemikalien- und Explosionsunfällen (2021).
11 DGUV e.V., Unfallverhütungsvorschrift „Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit“ – DGUV Vorschrift 2 – Häufig gestellte Fragen (FAQs) = https://www.dguv.de/de/praevention/vorschriften_regeln/dguv-vorschrift_2/faq/index.jsp.
12 KomNet-Wissensdatenbank, Werden bei einer Schule die Schüler in die Berechnung der Einsatzzeiten von Betriebsarzt und Fachkraft für Arbeitssicherheit mit eingerechnet?, KomNet Dialog 17465 Stand: 29.07.2015 = https://www.komnet.nrw.de/_sitetools/dialog/17465.
13 2020, 6.2.1, S. 391.
14 2020, 6.3.3, S. 475f.
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Autor:
Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Wilrich
Hochschule München, Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen, Professor für Wirtschafts‑, Arbeits‑, Technik‑, Unternehmensorganisationsrecht
und Recht für Ingenieure