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Sicherheitsverantwortung, Arbeitsschutzorganisation und Haftung

Sicherheitsverantwortung, Arbeitsschutzorganisation und Haftung: Mythen und Wahrheiten
Die Unkenntnis des Rechts ist vorzugsweise strafverschärfend und nur ausnahmsweise strafvermeidend

Die Unkenntnis des Rechts ist vorzugsweise strafverschärfend und nur ausnahmsweise strafvermeidend
Foto: © magele-picture – stock.adobe.com
Prof. Dr. Thomas Wilrich
Die let­zte Folge schilderte, dass „Unwis­senheit nicht vor Strafe schützt“. Man sollte wis­sen, dass die Beru­fung auf Vorschrifte­nunken­nt­nis nicht nur sel­ten strafver­mei­dend ist, son­dern meis­tens sog­ar straferhöhend.

Richter reagieren aller­gisch, wenn man sagt, man habe anwend­bare Vorschriften nicht gekan­nt. Denn es „sind die Ken­nt­nisse zu fordern, die für die Erfül­lung der obliegen­den Auf­gaben notwendig sind. Die fehlende Ken­nt­nis von den zu beach­t­en­den Sicher­heit­san­forderun­gen ist ein für die Beurteilung des Ver­schuldens­grades wesentlich­er – zu Las­ten gere­ichen­der – Umstand“1. Der BGH warf der beklagten Lei­t­erin eines Stadt­bauhofes vor, „dass sie sich selb­st darauf beruft, keine Ken­nt­nis von den gel­tenden Vorschriften gehabt zu haben“: Die „fehlende Ken­nt­nis von den zu beach­t­en­den Sicher­heit­san­forderun­gen der für die Bauauf­sicht zuständi­gen Beklagten ist ein für die Beurteilung des Ver­schuldens­grades wesentlich­er Umstand. Von der Beklagten sind die Ken­nt­nisse zu fordern, die für die Erfül­lung der ihr obliegen­den Auf­gaben notwendig sind. Hätte sich die Beklagte in der gebote­nen Weise informiert, hätte sie gewusst, dass zur Abstützung des Grabens bei ein­er Tiefe von 1,80 m unter Umstän­den Bau­ma­te­r­i­al erforder­lich sein würde, das dem Bag­ger­führer zur Ver­fü­gung ste­hen musste“2.

Nichtkenntnis von Rechtsvorschriften regelmäßig straferhöhend

Regel­recht entrüstet war ein­mal das Bay­erische Ober­ste Landgericht, zeigte aber auch Hand­lungsmöglichkeit­en auf3: Lässt „die Gewinnsi­t­u­a­tion eines Betriebes die Organ­i­sa­tion ein­er inter­nen Kon­trolle mit extern­er Überwachung nicht zu, sieht sich aber der Inhab­er ander­er­seits auf­grund sein­er Per­sön­lichkeitsstruk­tur nicht in der Lage, den Inhalt der für seinen Betrieb wesentlichen Vorschriften zu erler­nen und/oder deren Beach­tung inner­be­trieblich durchzuset­zen, so ver­stößt er damit gegen seine Auf­sicht­spflicht“. Und: „Ken­nt oder ver­ste­ht ein Betrieb­sin­hab­er wesentliche für seinen Geschäfts­be­trieb gel­tende Bes­tim­mungen nicht, so ent­fällt deswe­gen nicht seine Überwachungspflicht. Vielmehr ste­hen ihm zu deren Erfül­lung zwei Wege offen. Er kann sich entwed­er die für seine Überwachungsauf­gabe erforder­lichen Ken­nt­nisse ver­schaf­fen, um seinen Pflicht­en selb­st nachkom­men zu kön­nen, oder er hat ein inner­be­trieblich­es Kon­troll­sys­tem zu organ­isieren, das er extern überwachen lässt“.

Irrtümliche Nichtkenntnis eines Verbots ausnahmsweise strafbefreiend

Ein anderes Urteil des Bay­OblG zeigt, dass man sich auch mal erfol­gre­ich auf einen Ver­bot­sir­rtum gemäß § 17 StGB berufen kann, nach­dem das Haupt­zol­lamt gegen den Bauher­rn wegen fahrläs­si­gen Nicht­gewährens des Min­dest­lohns und fahrläs­si­gen Nich­t­en­tricht­ens des Sozialka­ssen­beitrags Geld­bußen von DM 4.500, – und 5.500, – ver­hängt hat­te4: Dem Bauher­rn sei „die Unken­nt­nis dieser Nor­men nicht vorzuw­er­fen. Auch wenn sich der Bauherr vor der Errich­tung seines Bau­vorhabens über die dafür gel­tenden Bes­tim­mungen ein­schließlich der­er zu unter­richt­en hat­te, die damals für die Ent­loh­nung sein­er Arbeit­nehmer gal­ten, so war er nicht verpflichtet, sich durch Erhol­ung von Auskün­ften von Fach­be­hör­den sachkundig zu machen. Eben­so genügte es, dass er sich in den Verkün­dungs­blät­tern über die ein­schlägi­gen Vorschriften informierte. Dabei aber brauchte sich der Betrof­fene nur mit den Geset­zen zu befassen, deren Titel erwarten ließ, dass sie auch die Aus­führung von Bau­vorhaben der vom Betrof­fe­nen geplanten Art regeln. Denn die Annahme, dass sich auch die Inhab­er kleiner­er Baube­triebe laufend über alle jew­eils gel­tenden Vorschriften zu unter­richt­en haben, um so auch Bes­tim­mungen zur Ken­nt­nis zu nehmen, die nur durch Lesen sämtlich­er Geset­ze und Verord­nun­gen in Erfahrung zu brin­gen sind, würde das Maß des Zumut­baren eben­so über­schre­it­en wie die Forderung, dass sich jed­er gewerblich tätige Bau­un­ternehmer ungeachtet sein­er Betrieb­s­größe in regelmäßi­gen Abstän­den auch bei den mit Arbeits‑, Sozial- und Bau­recht befassten Fach­be­hör­den nach den für ihn gel­tenden Recht­spflicht­en zu erkundi­gen hat“. Zu den Geset­zen, über deren Inhalt man „sich danach zu informieren hat, zählt das AEntG nicht. Dessen voll­ständi­ger Titel lautet: ‚Gesetz über zwin­gende Arbeits­be­din­gun­gen bei gren­züber­schre­i­t­en­den Dien­stleis­tun­gen (Arbeit­nehmer-Entsendege­setz – AEntG)‘. Angesichts ein­er solchen Über­schrift ist es für einen Durch­schnitts­bürg­er nicht erkennbar, dass dieses Gesetz über den in sein­er Über­schrift zum Aus­druck gekomme­nen Regelungs­ge­halt hin­aus auch den inländis­chen Arbeit­ge­ber, der im Inland Arbeit­nehmer beschäftigt, mit Geld­buße bedro­ht, wenn er einen für all­ge­mein­verbindlich erk­lärten Tar­ifver­trag nicht beachtet. Deswe­gen war die irrtüm­liche Annahme, ein der­ar­tiges Ver­bot existiere nicht, für ihn unvermeidbar“.

Keine Abstriche bei kleineren Unternehmen

Trotz dieses gnädi­gen Urteils aus Bay­ern gilt, dass auch von kleineren Unternehmen (ein­er­seits selb­stver­ständlich, ander­er­seits aber auch nicht ganz unprob­lema­tisch) die Ken­nt­nis aller rel­e­van­ten Rechts­grund­sätze erwartet wird. Als ein nach behördlichen Mark­tüberwachungs­maß­nah­men mit einem Kostenbescheid in Anspruch genommen­er Unternehmer sich vertei­digte, er „betreibe eher einen Kiosk“, hielt man ihm vor5: Es „kommt nicht darauf an, ob ihm die Bes­tim­mungen des Pro­duk­t­sicher­heit­srechts bekan­nt sind. Als Unternehmer, der im Gel­tungs­bere­ich des Pro­duk­t­sicher­heit­srechts Ver­braucher­pro­duk­te in den Verkehr bringt, muss er die Sicher­heitsvorschriften dieses Geset­zes ein­hal­ten. Es liegt in sein­er Sphäre, sich insoweit sachkundig zu machen. Auf Unken­nt­nis kann er sich dementsprechend nicht berufen“6.

Strenge Anforderungen in Sachen Arbeitsschutz und Sicherheit

In Gel­tungs­bere­ich des Arbeitss­chutzrechts und der Sicher­heitsvorschriften ist die Hürde für eine haf­tungs­be­freiende Wirkung fehlen­der Rechtsken­nt­nis hoch – aus mehreren Gründen:

  • Erstens schauen Gerichte ins­beson­dere nach Unfällen aus der Rückschau eher genauer hin und werten strenger.
  • Zweit­ens gel­ten – neben den konkreten Sicher­heitsvorschriften – auch immer all­ge­meine (Verkehrs-)Sicherheitspflichten, sodass let­ztlich die Grund­satzan­forderung gilt, alle „notwendi­gen und zumut­baren Vorkehrun­gen zu tre­f­fen, um eine Schädi­gung ander­er möglichst zu ver­hin­dern“7. Arbeitss­chutzpflicht­en kön­nen sich nicht nur aus dem Arbeitss­chutzrecht ergeben, son­dern haften „kann jed­er­mann, der gegen ihn tre­f­fende Sorgfalt­spflicht­en (z.B. Verkehrssicherungspflicht­en) ver­stößt“8. So geht es dann gar nicht um die Ken­nt­nis konkreter Rechtsvorschriften, son­dern um eine Tat­sachen­frage: War der Arbeit­sun­fall vorhersehbar?
  • Wenn die Ver­ant­wor­tung zur Ein­hal­tung des Rechts sich nicht nur auf konkrete Sicher­heitsvorschriften bezieht, son­dern auch auf all­ge­meine und nicht klar geset­zlich umris­sene Recht­spflicht­en, ist – drit­tens – ein Vor­wurf leichter, wie ihn das LG Pader­born einem Stadt­di­rek­tor machte, nach­dem ein Kind im Brun­nen der Stadt Stein­heim ertrank: Wenn ihm „die Recht­slage nicht geläu­fig war, musste er sich um die Klärung bemühen“9 – und mit Recht­slage ist hier eben eher die tat­säch­liche Wer­tung gemeint: let­ztlich die Gefährdungsbeurteilung.
  • Viertens stellen Gerichte (wie es ein­fach­er ist!) nicht auf die konkreten Rechtsvorschriften ab, son­dern begrün­den schlicht einen Hand­lungs­fehler – let­ztlich eine Ver­let­zung der all­ge­meinen Verkehrssicherungspflicht. Zur Begrün­dung heißt es dann (bitte hal­ten Sie sich jet­zt fest): Erforder­lich sei nur eine „Par­al­lel­be­w­er­tung in der Laien­sphäre“. Das LG Wup­per­tal beg­nügte sich etwa (nach ein­er Explo­sion im Schu­lun­ter­richt) mit der Fest­stel­lung: „Da die Mis­chung nur wenig hand­habungssich­er war, liegt auch der Schaden im Bere­ich des Vorherse­hbaren.“ Die Argu­men­ta­tion mit der Laien­sphäre ist fast belei­di­gend und eine Ver­drehung der Ver­hält­nisse, denn eigentlich sind die Juris­ten die (chemis­chen oder tech­nis­chen) Laien. Das zeigt sich ja auch daran, dass im Urteil keine Einord­nung in das EU-Sys­tem zur Ein­stu­fung von gefährlichen Chemikalien erfol­gt und die ein­schlägige Unfal­lver­hü­tungsvorschrift nicht benan­nt wird10.

Alle Vorschriften sind frei und voll abrufbar

Ins­beson­dere durch das Inter­net sind alle Rechtsvorschriften unkom­pliziert und kom­plett in Sekun­den­schnelle frei abruf­bar. Das löst zwar noch nicht das Prob­lem zu erken­nen, welche der zahlre­ichen Rechtsvorschriften nun wie weit in welch­er Lage ein­schlägig sind. Aber es erschw­ert die Argu­men­ta­tion mit der Nichtken­nt­nis – und das Argu­ment der „Nichtken­nt­nis­möglichkeit“ ist ersichtlich unzure­ichend. Das bringt § 2 des öster­re­ichis­chen All­ge­meinen Bürg­er­lichen Geset­zbuchs (ABGB) so zum Aus­druck: „Sobald ein Gesetz gehörig kund gemacht wor­den ist, kann sich nie­mand damit entschuldigen, daß ihm das­selbe nicht bekan­nt gewor­den sey.“ Diese jahrhun­dertealte For­mulierung auf heutige Ver­hält­nisse über­tra­gen bedeutet:

gehörig kundgegeben.

Fußnoten

1 LG Aachen, Urteil v. 26.02.2015 (Az. 12 O 178/14) – Fallbe­sprechung 18 in Wilrich, Sicher­heitsver­ant­wor­tung – Arbeitss­chutzpflicht­en, Betrieb­sorgan­i­sa­tion und Führungskräfte­haf­tung, S. 198 ff.

2 BGH, Urteil v. 18.02.2014 (Az. VI ZR 51/13).

3 Bay­ObLG, Beschluss v. 10.08.2001 (Az. 3 ObOWi 51/01).

4 Bay­ObLG, Beschluss v. 13.10.1999 (Az. 3 ObOWi 88/99).

5 VG Gelsenkirchen, Beschluss v. 28.02.2008
(Az. 7 L 123/08).

6 Zum Rechts­ge­bi­et vgl. Wilrich, Pro­duk­t­sicher­heit­srecht und CE-Kon­for­mität, VDE-Ver­lag 2021.

7 Z.B. BGH, Urteil v. 02.03.2010 (Az. VI ZR 223/09) – Fallbe­sprechung 17 „Unfall an der DIN-normwidri­gen Glastür“ in Wilrich, Bestandss­chutz oder Nachrüstpflicht? Betreiberver­ant­wor­tung und Sicher­heit bei Altan­la­gen, 2. Aufl. 2019, S. 206 ff.

8 Wiebauer, in: Land­mann / Rohmer, GewO,
77. Liefer­ung Okto­ber 2017, Arb­SchG, § 26 Rn. 21.

9 Fall 6 „Brun­nen Kump“ in Wilrich, Sicher­heitsver­ant­wor­tung (Fn. 1), S. 129 ff.

10 Fall 24 „Rake­ten­treib­stoff im Schul­la­bor“ in Wilrich, Gefahrstof­frecht vor Gericht, 2021, S. 191 ff.


Weit­ere Teile der Rechtsserie: 

Ver­ant­wor­tung heißt nur „Antwort geben“

Ver­ant­wor­tung für Tun: Hand­lungsver­ant­wor­tung ist  die Basis des Arbeitsschutzes

„Selb­st schuld“ oder Fremdverantwortung?

„Ein Blick ins Gesetz erle­ichtert die Rechtsfindung“

Keine Ver­ant­wor­tung ohne Befug­nisse – keine Befug­nis ohne Verantwortung

„Unwis­senheit schützt vor Strafe nicht“

„Befehl ist Befehl“: Die Gehor­sam­spflicht ist stärk­er als das Haftungsrecht

Es entschei­den Men­schen, nicht Gesetze

Der Men­sch ste­ht im Mit­telpunkt – und der Men­sch ist Mit­tel. Punkt

Es entschei­den und es gehorchen Men­schen: Befehl ist Befehl!

Kein blind­er Gehor­sam, son­dern gewis­senhaftes Mitdenken

Wann ist Ver­trauen gut, wann sind Acht­samkeit und Zweifel besser?

Arbeit­ge­ber und Unternehmen sind primär ver­ant­wortlich – aber nur „mys­tis­che Kunstschöpfungen“

Befehlsver­weigerung bei Erkennbarkeit der Sicherheitswidrigkeit

Echte Men­schen sind auch ohne Schrift­stück verantwortlich


Prof. Dr. Thomas Wilrich
Prof. Dr. Thomas Wilrich; Foto: privat

Autor:
Recht­san­walt Prof. Dr. Thomas Wilrich
Hochschule München, Fakultät Wirtschaftsin­ge­nieur­we­sen, Pro­fes­sor für Wirtschafts‑, Arbeits‑, Technik‑, Unternehmensorganisationsrecht
und Recht für Ingenieure

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