Beginnen wir mit einer Aussage, für die Juristen verlacht werden, die aber unvermeidbar ist: Es ist das „Erforderliche“ zu tun – und was erforderlich ist, hängt von den konkreten Verhältnissen im Betrieb ab. Es geht immer um die „Erfüllung von Situationsanforderungen“1. Das spiegelt sich in der Pflicht zur Gefährdungsbeurteilung wider, denn bei ihr geht es um die Ermittlung des Erforderlichen. „Der Arbeitgeber hat die Beurteilung je nach Art der Tätigkeiten vorzunehmen“ (§ 5 Abs. 2 Satz 2 Arbeitsschutzgesetz), um „die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen“ (§ 3 Abs. 1 Satz 1 Arbeitsschutzgesetz. Das ist nichts anderes als der Grundsatz „Es kommt darauf an“.
Es kommt auf das Erforderliche an
Leider ist folgende prägnante Aussage in alten Durchführungshinweisen zu § 12 VBG A1 gestrichen worden und nicht mehr in der DGUV Vorschrift 1 enthalten: „Vorgesetzte und Aufsichtführende sind aufgrund ihres Arbeitsvertrages verpflichtet, im Rahmen ihrer Befugnis die zur Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren erforderlichen Anordnungen und Maßnahmen zu treffen und dafür zu sorgen, dass sie befolgt werden. Insoweit trifft sie eine zivilrechtliche und strafrechtliche Verantwortlichkeit“.
In Folge 4 ist das große Problem geschildert worden, dass Unterlassen als bloßes Nichtstun unendlich ist – und das bedeutet, dass auch die Auswahl der möglichen Tätigkeiten (im Arbeitsschutz) unendlich groß ist – und es ja auch keine geregelte Obergrenze für die Arbeitssicherheit gibt.
Arbeitsschutzrecht und Unfallverhütungsvorschriften
Natürlich sind die Pflichten zunächst dem staatlichen Arbeitsschutzrecht zu entnehmen. Nicht mehr als eine Andeutung ist allerdings § 2 Abs. 1 DGUV Vorschrift 1: „Die zu treffenden Maßnahmen sind insbesondere in staatlichen Arbeitsschutzvorschriften (Anlage 1), dieser UVV und in weiteren UVV näher bestimmt.“ Die Anlage listet dann neben dem Arbeitsschutzgesetz elf staatliche Rechtsverordnungen. Die erwähnten UVV sind zwingendes Recht für Unternehmer und Versicherte (§ 1 DGUV Vorschrift 1).
Aber selbstverständlich gibt es viel mehr: etwa das Arbeitszeitgesetz (ArbZG), das Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG), das Mutterschutzgesetz (MuSchG), das im letzten Jahre sehr wichtig gewordene Infektionsschutzrecht auch mit vielen Regelungen auf Länderebene, das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) und die Personalvertretungsgesetze für den Öffentlichen Dienst, viele Sondervorschriften im Beamtenrecht – oder auch das Baurecht2.
Allgemeine Rechtsgrundsätze
Einer der größten Irrtümer vieler Arbeitgeber und Unternehmensmitarbeiter ist, dass Sicherheitspflichten abschließend im Arbeitsschutzrecht und in UVV geregelt sind. Die – zumindest aus juristischer Sicht bei der Verteilung der Verantwortung nach einem Arbeitsunfall und damit bei der Haftung – entscheidenden Rechtsgrundlagen sind vor allen Dingen:
- § 618 BGB, eine der ältesten Arbeitsschutzvorschriften aus dem Jahre 1900, nach der „gegen Gefahr für Leben und Gesundheit soweit geschützt“ werden muss, „als die Natur der Dienstleistung es gestattet“ (Fürsorgepflichten),
- § 823 BGB für zivilrechtliche Schadensersatzansprüche (Verkehrssicherungspflichten) und
- § 13 StGB für Strafen wegen fahrlässig herbeigeführten Arbeitsunfällen mit Personenschäden (Garantenpflichten).
In tausenden Gerichtsurteilen sieht die Rechtsprechung Unternehmen und auch Unternehmensmitarbeiter nach diesen allgemeinen Rechtsgrundsätzen (arbeitsschutz- bzw. sicherheits-) verantwortlich3. Die TRBS 1001 „Struktur und Anwendung der Technischen Regeln für Betriebssicherheit“4 gibt zur Anwendung von Technischen Regeln einen „Rechtlichen Hinweis“: „Öffentlich-rechtliche Sicherheitsvorschriften wie die BetrSichV und das Haftungsrecht sind getrennte Rechtsgebiete. Die Erfüllung der Anforderungen der BetrSichV ist eine Grundvoraussetzung, um im Haftungsfall ein regelkonformes Handeln nachweisen zu können. Im Haftungsfall ist dies aber ggf. nicht ausreichend. Wenn trotz Einhaltung der sicherheitstechnischen Regeln Gefahren erkennbar sind, hat der Arbeitgeber hierauf zu reagieren und erforderlichenfalls weitere Maßnahmen zu ergreifen.“
Das Bundesverfassungsgericht gab einem wegen fahrlässiger Tötung verurteilten Stadtdirektor mit auf den Weg, „allein die Einhaltung der UVV lässt eine Sorgfaltspflichtverletzung nicht entfallen“5.
Unterweisung zu Rechtsregeln
Juristen sagen etwas neunmalklug: „Ein Blick ins Gesetz fördert die Rechtskenntnis.“6 Diese strengen Anforderungen an die Rechtskenntnis sollen abgefedert werden durch eine zentrale Bedeutung des Vorschriften- und Regelwerks bei der Unterweisung7. Das bringt § 81 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) zum Ausdruck, indem er den Arbeitgeber verpflichtet, „den Arbeitnehmer über dessen Aufgabe und Verantwortung zu unterrichten“.
Aber die „Pflicht zur Unterrichtung nach § 81 BetrVG schuldet der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer weitgehend an sich schon individualrechtlich aus seiner Fürsorgepflicht“8. Die BetrSichV hat die „Qualifikation“ der Beschäftigten als zentrales Ziel anerkannt (§ 1 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3). Es „wird auf die gesetzlichen Vorschriften hinzuweisen sein, wenn die Delegation sorgfaltsgemäß sein soll“9 – jedenfalls, wenn es um Spezialvorschriften geht: „Überträgt z. B. der Unternehmer einem Kfz-Meister die Überwachung des Fuhrparks, so braucht er diesen nicht auf einzelne Vorschriften der Straßenverkehrszulassungsverordnung (StVZO) hinzuweisen. Handelt es sich jedoch um Spezialgebiete, die ein besonderes Fachwissen voraussetzen, so ist, wenn der Beauftragte nicht schon die notwendigen Vorkenntnisse hat, eine entsprechend detaillierte Unterweisung erforderlich.“10 Die Unfallkasse Hessen sagt: „Wo den einzelnen Verantwortlichen abverlangt wird, dass sie alle Vorschriften und das gesamte relevante Wissen selbst beschaffen und auswerten, entstehen Lücken und Überforderung, schlimmstenfalls Resignation. Insofern gehören Regelwerks- und Wissensmanagement zu den Grundanforderungen einer erfolgreichen Arbeitsschutzorganisation.“11
Dass es (leider) nicht ausreicht, zur Erfüllung der Arbeitsschutzpflichten ins Gesetz zu blicken, ist uns allen bewusst. „Wer nach einer alten Juristenregel glaubt, ein Blick ins Gesetz beseitige manchen Zweifel, der sieht sich schnell getäuscht.“12
Im Übrigen gilt ja auch nur: „Ein Blick ins richtige Gesetz erleichtert die Rechtsfindung.“13 Beginnend bei der Findung der einschlägigen Rechtsvorschriften und der Gefährdungsbeurteilung und bedingt durch zahlreiche schwierige Wertungsfragen und Abwägungspflichten ist seriöser Arbeitsschutz auf hohe Eigenverantwortung bei der Konkretisierung der gesetzlichen Anforderungen in den Betrieben angewiesen.
Fußnoten
1 Jürgen Schmidt-Salzer, Strafrechtliche Produkthaftung, 1982, Rn. 88, S. 59.
2 Siehe hierzu Wilrich, Bausicherheit – Arbeitsschutz, Baustellenverordnung, Koordination, Bauüberwachung, Verkehrssicherungspflichten und Haftung der Baubeteiligten, 2021.
3 Für Garanten i.S.d. § 13 StGB ausführlich Wilrich, Arbeitsschutz-Strafrecht – Haftung für fahrlässige Arbeitsunfälle: Sicherheitsverantwortung, Sorgfaltspflichten und Schuld – mit 33 Gerichtsurteilen, 2020.
4 Zu TRBS siehe Wilrich, Praxisleitfaden Betriebssicherheitsverordnung, 2. Aufl. 2020, Kapitel 12, S. 244 ff.
5 Fallbesprechung 6 in Wilrich, Sicherheitsverantwortung: Arbeitsschutzpflichten, Betriebsorganisation und Führungskräftehaftung, 2016, S. 129 ff.
6 Die Bibel sagte das schon im Brief des Paulus an die Römer (2, 18): „… und weil du aus dem Gesetz unterrichtet bist, kannst du beurteilen, worauf es ankommt“ (nach der Luther-Übersetzung 1975). Melanchthon sagte, das Gesetz helfe, sich über die rechten Taten zu informieren (vgl. Schmoeckel, Von der Ablasskritik zur Gesetzesbegründung, in: Lindenau/Schmid Holz, in: Moral – Gnade – Tugend – Recht: Ethische und rechtliche Blicke zur Reformation, 2018, S. 69, 85). In der Neuzeit wird der Spruch dem ersten Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts Hans Carl Nipperdey zugeschrieben (vgl. Jäger/Heupel, Management Basics Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre – dargestellt im Unternehmenslebenszyklus, 2020, 7.1, S. 151, Dauner-Lieb/Langen, im Vorwort des Nomos-Kommentars Schuldrecht, Band 2/2: §§ 611–853, 3. Aufl. 2016).
7 Vgl. Kothe, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht Band 2, 3. Aufl. 2009, § 292 Rn. 31.
8 BAG, Beschluss v. 23.4.1991 (Az. 1 ABR 49/90).
9 Schünemann, in: StGB, Leipziger Kommentar, 1. Band, 12. Aufl. 2007, § 14 Rn. 61.
10 Schmid, in: Müller-Guggenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. 2006, § 30 Rn. 84 S. 850.
11 Unfallkasse Hessen, Arbeitsschutz und Gesundheitsförderung im Öffentlichen Dienst, Schriftenreihe Band 13, 2007, 2.3, S. 30.
12 Lippert, in: Deutsch/Lippert/Ratzel/Tag, Kommentar zum Medizinproduktegesetz (MPG), 2. Aufl. 2010, Vorbemerkungen vor § 4 ff. Rn. 1, S. 94.
13 So Henning Höne in der 115. Sitzung des nordrhein-westfälischen Landtages in einer Debatte zum „Gesetz zur parlamentarischen Absicherung der Rechtsetzung in der COVID-19-Pandemie“, Plenarprotokoll 17/115, S. 23.
Weitere Teile der Rechtsserie:
Verantwortung für Tun: Handlungsverantwortung ist die Basis des Arbeitsschutzes
Keine Verantwortung ohne Befugnisse – keine Befugnis ohne Verantwortung
„Befehl ist Befehl“: Die Gehorsamspflicht ist stärker als das Haftungsrecht
Der Mensch steht im Mittelpunkt – und der Mensch ist Mittel. Punkt
Es entscheiden und es gehorchen Menschen: Befehl ist Befehl!
Wann ist Vertrauen gut, wann sind Achtsamkeit und Zweifel besser?
Arbeitgeber und Unternehmen sind primär verantwortlich – aber nur „mystische Kunstschöpfungen“
Befehlsverweigerung bei Erkennbarkeit der Sicherheitswidrigkeit
Autor:
Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Wilrich
Hochschule München, Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen, Professor für Wirtschafts‑, Arbeits‑, Technik‑, Unternehmensorganisationsrecht
und Recht für Ingenieure