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Sicherheitsverantwortung, Arbeitsschutzorganisation und Haftung: Mythen und Wahrheiten

Sicherheitsverantwortung, Arbeitsschutzorganisation und Haftung: Mythen und Wahrheiten
„Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung“

„Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung“
Foto: © magele-picture – stock.adobe.com
In der let­zten Folge ging es um die Frage, wer Arbeitss­chutz umset­zen muss. Der Grund­satz war: Keine Pflicht und Befug­nis ohne Ver­ant­wor­tung – also auch: Keine Auf­gaben und Posten ohne Arbeitss­chutzpflicht­en. Doch was müssen Arbeitss­chutzver­ant­wortliche nach dem Arbeitss­chutzge­setz dann tun?

Begin­nen wir mit ein­er Aus­sage, für die Juris­ten ver­lacht wer­den, die aber unver­mei­d­bar ist: Es ist das „Erforder­liche“ zu tun – und was erforder­lich ist, hängt von den konkreten Ver­hält­nis­sen im Betrieb ab. Es geht immer um die „Erfül­lung von Sit­u­a­tion­san­forderun­gen“1. Das spiegelt sich in der Pflicht zur Gefährdungs­beurteilung wider, denn bei ihr geht es um die Ermit­tlung des Erforder­lichen. „Der Arbeit­ge­ber hat die Beurteilung je nach Art der Tätigkeit­en vorzunehmen“ (§ 5 Abs. 2 Satz 2 Arbeitss­chutzge­setz), um „die erforder­lichen Maß­nah­men des Arbeitss­chutzes unter Berück­sich­ti­gung der Umstände zu tre­f­fen, die Sicher­heit und Gesund­heit der Beschäftigten bei der Arbeit bee­in­flussen“ (§ 3 Abs. 1 Satz 1 Arbeitss­chutzge­setz. Das ist nichts anderes als der Grund­satz „Es kommt darauf an“.

Es kommt auf das Erforderliche an

Lei­der ist fol­gende präg­nante Aus­sage in alten Durch­führung­sh­in­weisen zu § 12 VBG A1 gestrichen wor­den und nicht mehr in der DGUV Vorschrift 1 enthal­ten: „Vorge­set­zte und Auf­sicht­führende sind auf­grund ihres Arbeitsver­trages verpflichtet, im Rah­men ihrer Befug­nis die zur Ver­hü­tung von Arbeit­sun­fällen, Beruf­skrankheit­en und arbeits­be­d­ingten Gesund­heits­ge­fahren erforder­lichen Anord­nun­gen und Maß­nah­men zu tre­f­fen und dafür zu sor­gen, dass sie befol­gt wer­den. Insoweit trifft sie eine zivil­rechtliche und strafrechtliche Verantwortlichkeit“.

In Folge 4 ist das große Prob­lem geschildert wor­den, dass Unter­lassen als bloßes Nicht­stun unendlich ist – und das bedeutet, dass auch die Auswahl der möglichen Tätigkeit­en (im Arbeitss­chutz) unendlich groß ist – und es ja auch keine geregelte Ober­gren­ze für die Arbeitssicher­heit gibt.

Arbeitsschutzrecht und Unfallverhütungsvorschriften

Natür­lich sind die Pflicht­en zunächst dem staatlichen Arbeitss­chutzrecht zu ent­nehmen. Nicht mehr als eine Andeu­tung ist allerd­ings § 2 Abs. 1 DGUV Vorschrift 1: „Die zu tre­f­fend­en Maß­nah­men sind ins­beson­dere in staatlichen Arbeitss­chutzvorschriften (Anlage 1), dieser UVV und in weit­eren UVV näher bes­timmt.“ Die Anlage lis­tet dann neben dem Arbeitss­chutzge­setz elf staatliche Rechtsverord­nun­gen. Die erwäh­n­ten UVV sind zwin­gen­des Recht für Unternehmer und Ver­sicherte (§ 1 DGUV Vorschrift 1).

Aber selb­stver­ständlich gibt es viel mehr: etwa das Arbeit­szeit­ge­setz (ArbZG), das Jugen­dar­beitss­chutzge­setz (JArb­SchG), das Mut­ter­schutzge­setz (MuSchG), das im let­zten Jahre sehr wichtig gewor­dene Infek­tion­ss­chutzrecht auch mit vie­len Regelun­gen auf Län­derebene, das Betrieb­sver­fas­sungs­ge­setz (BetrVG) und die Per­son­alvertre­tungs­ge­set­ze für den Öffentlichen Dienst, viele Son­der­vorschriften im Beamten­recht – oder auch das Bau­recht2.

Allgemeine Rechtsgrundsätze

Ein­er der größten Irrtümer viel­er Arbeit­ge­ber und Unternehmensmi­tar­beit­er ist, dass Sicher­heit­spflicht­en abschließend im Arbeitss­chutzrecht und in UVV geregelt sind. Die – zumin­d­est aus juris­tis­ch­er Sicht bei der Verteilung der Ver­ant­wor­tung nach einem Arbeit­sun­fall und damit bei der Haf­tung – entschei­den­den Rechts­grund­la­gen sind vor allen Dingen:

  • § 618 BGB, eine der ältesten Arbeitss­chutzvorschriften aus dem Jahre 1900, nach der „gegen Gefahr für Leben und Gesund­heit soweit geschützt“ wer­den muss, „als die Natur der Dien­stleis­tung es ges­tat­tet“ (Für­sorgepflicht­en),
  • § 823 BGB für zivil­rechtliche Schadenser­satzansprüche (Verkehrssicherungspflicht­en) und
  • § 13 StGB für Strafen wegen fahrläs­sig her­beige­führten Arbeit­sun­fällen mit Per­so­n­en­schä­den (Garan­tenpflicht­en).

In tausenden Gericht­surteilen sieht die Recht­sprechung Unternehmen und auch Unternehmensmi­tar­beit­er nach diesen all­ge­meinen Rechts­grund­sätzen (arbeitss­chutz- bzw. sicher­heits-) ver­ant­wortlich3. Die TRBS 1001 „Struk­tur und Anwen­dung der Tech­nis­chen Regeln für Betrieb­ssicher­heit“4 gibt zur Anwen­dung von Tech­nis­chen Regeln einen „Rechtlichen Hin­weis“: „Öffentlich-rechtliche Sicher­heitsvorschriften wie die Betr­SichV und das Haf­tungsrecht sind getren­nte Rechts­ge­bi­ete. Die Erfül­lung der Anforderun­gen der Betr­SichV ist eine Grund­vo­raus­set­zung, um im Haf­tungs­fall ein regelkon­formes Han­deln nach­weisen zu kön­nen. Im Haf­tungs­fall ist dies aber ggf. nicht aus­re­ichend. Wenn trotz Ein­hal­tung der sicher­heit­stech­nis­chen Regeln Gefahren erkennbar sind, hat der Arbeit­ge­ber hier­auf zu reagieren und erforder­lichen­falls weit­ere Maß­nah­men zu ergreifen.“

Das Bun­desver­fas­sungs­gericht gab einem wegen fahrläs­siger Tötung verurteil­ten Stadt­di­rek­tor mit auf den Weg, „allein die Ein­hal­tung der UVV lässt eine Sorgfalt­spflichtver­let­zung nicht ent­fall­en“5.

Unterweisung zu Rechtsregeln

Juris­ten sagen etwas neun­malk­lug: „Ein Blick ins Gesetz fördert die Rechtsken­nt­nis.“6 Diese stren­gen Anforderun­gen an die Rechtsken­nt­nis sollen abgefed­ert wer­den durch eine zen­trale Bedeu­tung des Vorschriften- und Regel­w­erks bei der Unter­weisung7. Das bringt § 81 Betrieb­sver­fas­sungs­ge­setz (BetrVG) zum Aus­druck, indem er den Arbeit­ge­ber verpflichtet, „den Arbeit­nehmer über dessen Auf­gabe und Ver­ant­wor­tung zu unterrichten“.

Aber die „Pflicht zur Unter­rich­tung nach § 81 BetrVG schuldet der Arbeit­ge­ber dem Arbeit­nehmer weit­ge­hend an sich schon indi­vid­u­al­rechtlich aus sein­er Für­sorgepflicht“8. Die Betr­SichV hat die „Qual­i­fika­tion“ der Beschäftigten als zen­trales Ziel anerkan­nt (§ 1 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3). Es „wird auf die geset­zlichen Vorschriften hinzuweisen sein, wenn die Del­e­ga­tion sorgfalts­gemäß sein soll“9 – jeden­falls, wenn es um Spezialvorschriften geht: „Überträgt z. B. der Unternehmer einem Kfz-Meis­ter die Überwachung des Fuhrparks, so braucht er diesen nicht auf einzelne Vorschriften der Straßen­verkehrszu­las­sungsverord­nung (StV­ZO) hinzuweisen. Han­delt es sich jedoch um Spezial­ge­bi­ete, die ein beson­deres Fach­wis­sen voraus­set­zen, so ist, wenn der Beauf­tragte nicht schon die notwendi­gen Vorken­nt­nisse hat, eine entsprechend detail­lierte Unter­weisung erforder­lich.“10 Die Unfal­lka­sse Hes­sen sagt: „Wo den einzel­nen Ver­ant­wortlichen abver­langt wird, dass sie alle Vorschriften und das gesamte rel­e­vante Wis­sen selb­st beschaf­fen und auswerten, entste­hen Lück­en und Über­forderung, schlimm­sten­falls Res­ig­na­tion. Insofern gehören Regel­w­erks- und Wis­sens­man­age­ment zu den Grun­dan­forderun­gen ein­er erfol­gre­ichen Arbeitss­chut­zor­gan­i­sa­tion.“11

Dass es (lei­der) nicht aus­re­icht, zur Erfül­lung der Arbeitss­chutzpflicht­en ins Gesetz zu blick­en, ist uns allen bewusst. „Wer nach ein­er alten Juris­ten­regel glaubt, ein Blick ins Gesetz beseit­ige manchen Zweifel, der sieht sich schnell getäuscht.“12

Im Übri­gen gilt ja auch nur: „Ein Blick ins richtige Gesetz erle­ichtert die Rechts­find­ung.“13 Begin­nend bei der Find­ung der ein­schlägi­gen Rechtsvorschriften und der Gefährdungs­beurteilung und bed­ingt durch zahlre­iche schwierige Wer­tungs­fra­gen und Abwä­gungspflicht­en ist ser­iös­er Arbeitss­chutz auf hohe Eigen­ver­ant­wor­tung bei der Konkretisierung der geset­zlichen Anforderun­gen in den Betrieben angewiesen.

Fußnoten

1 Jür­gen Schmidt-Salz­er, Strafrechtliche Pro­duk­thaf­tung, 1982, Rn. 88, S. 59.

2 Siehe hierzu Wilrich, Bau­sicher­heit – Arbeitss­chutz, Baustel­len­verord­nung, Koor­di­na­tion, Bauüberwachung, Verkehrssicherungspflicht­en und Haf­tung der Baubeteiligten, 2021.

3 Für Garan­ten i.S.d. § 13 StGB aus­führlich Wilrich, Arbeitss­chutz-Strafrecht – Haf­tung für fahrläs­sige Arbeit­sun­fälle: Sicher­heitsver­ant­wor­tung, Sorgfalt­spflicht­en und Schuld – mit 33 Gericht­surteilen, 2020.

4 Zu TRBS siehe Wilrich, Prax­isleit­faden Betrieb­ssicher­heitsverord­nung, 2. Aufl. 2020, Kapi­tel 12, S. 244 ff.

5 Fallbe­sprechung 6 in Wilrich, Sicher­heitsver­ant­wor­tung: Arbeitss­chutzpflicht­en, Betrieb­sorgan­i­sa­tion und Führungskräfte­haf­tung, 2016, S. 129 ff.

6 Die Bibel sagte das schon im Brief des Paulus an die Römer (2, 18): „… und weil du aus dem Gesetz unter­richtet bist, kannst du beurteilen, worauf es ankommt“ (nach der Luther-Über­set­zung 1975). Melanchthon sagte, das Gesetz helfe, sich über die recht­en Tat­en zu informieren (vgl. Schmoeck­el, Von der Ablasskri­tik zur Geset­zes­be­grün­dung, in: Lindenau/Schmid Holz, in: Moral – Gnade – Tugend – Recht: Ethis­che und rechtliche Blicke zur Ref­or­ma­tion, 2018, S. 69, 85). In der Neuzeit wird der Spruch dem ersten Präsi­den­ten des Bun­de­sar­beits­gerichts Hans Carl Nip­perdey zugeschrieben (vgl. Jäger/Heupel, Man­age­ment Basics Grund­la­gen der Betrieb­swirtschaft­slehre – dargestellt im Unternehmensleben­szyk­lus, 2020, 7.1, S. 151, Dauner-Lieb/Lan­gen, im Vor­wort des Nomos-Kom­men­tars Schul­drecht, Band 2/2: §§ 611–853, 3. Aufl. 2016).

7 Vgl. Kothe, in: Münch­en­er Hand­buch zum Arbeit­srecht Band 2, 3. Aufl. 2009, § 292 Rn. 31.

8 BAG, Beschluss v. 23.4.1991 (Az. 1 ABR 49/90).

9 Schüne­mann, in: StGB, Leipziger Kom­men­tar, 1. Band, 12. Aufl. 2007, § 14 Rn. 61.

10 Schmid, in: Müller-Guggen­berg­er/­Bi­e­neck, Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. 2006, § 30 Rn. 84 S. 850.

11 Unfal­lka­sse Hes­sen, Arbeitss­chutz und Gesund­heits­förderung im Öffentlichen Dienst, Schriften­rei­he Band 13, 2007, 2.3, S. 30.

12 Lip­pert, in: Deutsch/Lippert/Ratzel/Tag, Kom­men­tar zum Medi­z­in­pro­duk­tege­setz (MPG), 2. Aufl. 2010, Vorbe­merkun­gen vor § 4 ff. Rn. 1, S. 94.

13 So Hen­ning Höne in der 115. Sitzung des nor­drhein-west­fälis­chen Land­tages in ein­er Debat­te zum „Gesetz zur par­la­men­tarischen Absicherung der Recht­set­zung in der COVID-19-Pan­demie“, Ple­narpro­tokoll 17/115, S. 23.


Weit­ere Teile der Rechtsserie: 

Ver­ant­wor­tung heißt nur „Antwort geben“

Ver­ant­wor­tung für Tun: Hand­lungsver­ant­wor­tung ist  die Basis des Arbeitsschutzes

„Selb­st schuld“ oder Fremdverantwortung?

Keine Ver­ant­wor­tung ohne Befug­nisse – keine Befug­nis ohne Verantwortung

„Unwis­senheit schützt vor Strafe nicht“

Die Unken­nt­nis des Rechts ist vorzugsweise strafver­schär­fend und nur aus­nahm­sweise strafvermeidend

„Befehl ist Befehl“: Die Gehor­sam­spflicht ist stärk­er als das Haftungsrecht

Es entschei­den Men­schen, nicht Gesetze

Der Men­sch ste­ht im Mit­telpunkt – und der Men­sch ist Mit­tel. Punkt

Es entschei­den und es gehorchen Men­schen: Befehl ist Befehl!

Kein blind­er Gehor­sam, son­dern gewis­senhaftes Mitdenken

Wann ist Ver­trauen gut, wann sind Acht­samkeit und Zweifel besser?

Arbeit­ge­ber und Unternehmen sind primär ver­ant­wortlich – aber nur „mys­tis­che Kunstschöpfungen“

Befehlsver­weigerung bei Erkennbarkeit der Sicherheitswidrigkeit

Echte Men­schen sind auch ohne Schrift­stück verantwortlich


Prof. Dr. Thomas Wilrich
Prof. Dr. Thomas Wilrich; Foto: privat

Autor:
Recht­san­walt Prof. Dr. Thomas Wilrich
Hochschule München, Fakultät Wirtschaftsin­ge­nieur­we­sen, Pro­fes­sor für Wirtschafts‑, Arbeits‑, Technik‑, Unternehmensorganisationsrecht
und Recht für Ingenieure

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