Arbeit 4.0, künstliche Intelligenz, Big Data, Mobilität und Agilität – dies alles sind Begriffe, welche die fortschreitende Digitalisierung in der Arbeitswelt illustrieren. Insbesondere die örtliche und zeitliche Entgrenzung der Arbeit durch mobiles Arbeiten sowie der Einsatz von computergesteuerten Hilfsmitteln (sog. Wearables wie z. B. Bodycams, Datenbrillen, oder Exoskelette) nehmen bei der Digitalisierung eine entscheidende Rolle ein. Mobiles Arbeiten erschwert jedoch die Einhaltung von Arbeitsschutzpflichten, weil die Beschäftigten nicht mehr vor Ort im Betrieb tätig sind.
Wearables können zwar die Arbeit erheblich erleichtern und damit Gesundheitsgefahren der Beschäftigten minimieren. Sie generieren aber eine Menge personenbezogener Daten, so dass ein rechtliches Spannungsverhältnis zwischen dem Persönlichkeitsrecht der Beschäftigten und der technischen Notwendigkeit des betrieblichen Einsatzes besteht. Mit diesen Problemstellungen beschäftigt sich die Beitragsreihe zum Thema Arbeitsschutz und Digitalisierung. Der zweite von drei Beiträgen setzt sich mit den arbeitsschutzrechtlichen Problemstellungen auseinander, welche die zeitliche Entgrenzung der Arbeit mit sich bringt.
Der Begriff der Entgrenzung der Arbeit beschreibt das Phänomen, dass immer mehr Arbeitsprozesse aufgrund der Digitalisierung und fortschreitenden Mobilität zu jeder Zeit und von jedem Ort erbracht werden können. Klassische betriebliche Strukturen, die durch eine feste Arbeitsstätte und geregelte Arbeitszeiten geprägt sind, verlieren demgegenüber an Bedeutung. Auch durch die Auswirkungen der Covid-19 Pandemie hat die mobile Arbeit noch einmal einen erheblichen Schub erhalten.
Begriff der mobilen Arbeit
Der Entwurf des sogenannten „Mobile-Arbeit-Gesetzes“ (MAG) aus Januar 2021 – das Gesetz ist noch nicht verabschiedet bzw. in Kraft getreten – definiert mobile Arbeit als eine Arbeitsleistung, die unter Verwendung von Informationstechnologie außerhalb des Betriebs erbracht wird. Einen bestimmten Tätigkeitsort oder eine feste Ausstattung durch den Arbeitgeber verlangt die gesetzliche Definition der mobilen Arbeit nicht. Sie kann daher entweder als „Homeoffice“ im häuslichen Bereich oder von unterwegs erbracht werden. Im Rahmen der mobilen Arbeit erbringen viele Beschäftigte ihre tägliche Arbeitszeit nicht mehr am Stück (mit Pausen), sondern über den gesamten Tag oder das Wochenende verteilt, mit teilweise längeren Unterbrechungen und unterschiedlichen Arbeitsphasen von Tag zu Tag. So werden bereits morgens vor dem Frühstück E‑Mails bearbeitet oder abends vor dem Schlafengehen dringende Arbeitsaufträge für den nächsten Tag vorbereitet. Der typische „Nine-to-five-Job“ hat sich mithin im Zuge der Digitalisierung vielfach überholt.
Die zeitliche Flexibilität der Beschäftigten stößt sich jedoch oftmals am geltenden Arbeitszeitrecht. Das Arbeitszeitgesetz gibt einen festen Rahmen vor und schränkt die Beschäftigten in ihrem Wunsch nach flexibler und mobiler Arbeit ein. Dabei ist das Arbeitszeitgesetz eigentlich als Schutzgesetz zugunsten der Arbeitnehmer konzipiert. Es definiert die Arbeitszeit als „die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen” und bestimmt ihren maximal zulässigen Zeitraum für die tägliche oder wöchentliche Arbeitszeit. Der Gesetzgeber verweist auf arbeitswissenschaftliche und arbeitsmedizinische Erkenntnisse und Erfahrungen, nach denen eine gesetzliche Regelung zur Höchstarbeitszeit zum Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer erforderlich sei.
Die werktägliche Arbeitszeit begrenzt der Gesetzgeber – derzeit – auf acht Stunden. Sie kann jedoch auf bis zu zehn Stunden verlängert werden, wenn dafür innerhalb von sechs Monaten oder innerhalb von 24 Wochen im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden. Arbeitszeit, die darüber hinausgeht, muss dokumentiert werden. Von entscheidender Bedeutung aus Sicht der Arbeitsschutzes ist weiterhin die im Arbeitszeitgesetz angeordnete Ruhezeit von mindestens elf Stunden. Die Ruhezeit soll eine ausreichende Erholung sowie die Trennung von Arbeits- und Freizeit sicherstellen. Jede Arbeitsleistung während der Ruhezeit unterbricht diese und hat zur Folge, dass danach die vollen elf Stunden erneut zu laufen beginnen.
Mit der Realität in der digitalen Arbeitswelt hat dies nur wenig zu tun. Die abendliche E‑Mail-Korrespondenz beispielsweise führt damit oftmals zu einem Verstoß gegen das bestehende Arbeitszeitrecht.
Arbeitszeit als Bestandteil des Arbeitsschutzes
Das Arbeitszeitgesetz ist Teil des öffentlich-rechtlichen Arbeitsschutzrechts. Beim Arbeitgeber verbleibt damit die Pflicht, für rechtskonforme Arbeitszeiten zu sorgen – sei für die im Betrieb geleistete Arbeit oder für die Tätigkeit im Homeoffice. Bei mobiler Arbeit steht der Arbeitgeber vor dem Problem, dass er keine unmittelbare Kontrolle über die Arbeitsleistung hat. Es liegt überwiegend an der eigenen Zeiteinteilung der Beschäftigten, ob sie die gesetzlichen Höchstarbeitszeiten beachten, Ruhezeiten einhalten und ausreichende Ruhepausen einlegen oder eben nicht. Weil die Beschäftigten auf das Arbeitszeitrecht als Teil des öffentlichen Arbeitsschutzrechts nicht rechtswirksam verzichten können, entbindet die fehlende Kontrollmöglichkeit den Arbeitgeber nicht von der Pflicht, für die Einhaltung der gesetzlichen Arbeits- und Ruhezeiten zu sorgen. Deren Einhaltung ist also nicht etwa ein Privatproblem der Beschäftigten, sondern eine wesentliche Arbeitsschutzfrage. Das gilt insbesondere auch für die Vertrauensarbeitszeit. Der Arbeitgeber kann sich nicht darauf verlassen, dass die Beschäftigten von sich aus Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten beachten. Er muss sie vielmehr unterweisen und kontrollieren, soweit es ihm möglich und zumutbar ist. Auch hier gilt der Grundsatz: Der Arbeitgeber kann sich seiner Verantwortung nicht dadurch entledigen, dass er Entscheidungen im Arbeitsschutz den Beschäftigten überlässt.
Nur wenn der Arbeitgeber Arbeit außerhalb der vorgegebenen Grenzen verbietet und auch nicht duldet, ist ihm eine Überschreitung der Arbeitszeitgrenzen nicht zurechenbar. Dazu gehören eindeutige Anweisungen ebenso wie regelmäßige Unterweisungen und zumindest stichprobenartige Kontrollen der Arbeitszeit. Klare Anweisungen etwa zur Frage, ob Arbeitnehmer abends erreichbar sein müssen oder dazu, ob Arbeitnehmer im Urlaub ihre E‑Mails abrufen dürfen, tragen dazu bei, die psychische Belastung zu begrenzen sowie Arbeitszeit und Freizeit klar zu trennen. Auch eine Beschränkung der ständigen Erreichbarkeit auf eine bestimmte Anzahl von Tagen pro Monat kommt in Betracht. Die entsprechenden Anweisungen müssen betriebsintern deutlich kommuniziert werden – an die unmittelbar betroffenen Beschäftigten, aber genauso an die Führungskräfte, denen diese Beschäftigten unmittelbar unterstellt sind. Deshalb kann auch unter bestimmten Voraussetzungen die Abschaltung des betrieblichen Server-Zugangs außerhalb eines bestimmten Arbeitszeitrahmens als Schutzmaßnahme erforderlich sein; als milderes Mittel zumindest die Erfassung und Kontrolle der Log-In-Zeiträume. Auch betriebliche Vorschriften zur Nicht-Erreichbarkeit, zum Beispiel zwischen 20 Uhr und 7 Uhr, sind denkbar. Wie auch immer im Betrieb die Arbeitszeiten geregelt sind, den Arbeitgeber trifft nach aktueller Rechtslage die Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Höchstarbeitszeiten eingehalten und Überstunden aufgezeichnet werden.
Urteil des EUGH vom 14.05.2019 (C‑55/18)
Am 14. Mai 2019 fällte der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein medial und politisch kontrovers diskutiertes Urteil zur Dokumentation von Arbeitszeiten. Der Schutz der Sicherheit und Gesundheit sowie der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer gebiete es nach Ansicht des Gerichtshofs, dass die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ einzuführen, mit dem die von jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Nochmal zu Erinnerung: Das deutsche Arbeitszeitgesetz verlangt bisher nur die Aufzeichnung von Überstunden, nicht hingegen der täglichen Arbeitszeit. Die genauen Anforderungen an ein solches „objektives, verlässliches und zugängliches System“ definiert der EuGH nicht, sondern überlässt die Art und Weise der Ausgestaltung den Mitgliedstaaten. Dabei dürfen besondere Tätigkeitsbereiche und Unternehmensgrößen berücksichtigt werden. Bloße Kostenerwägungen auf Arbeitgeberseite spielen dagegen keine Rolle.
Der EuGH verlangt nicht, dass die Zeiterfassung automatisch oder technisch erfolgen muss. Wenn der Arbeitnehmer die Arbeitszeiten mittels digitaler Hilfsmittel eigenständig erfassen kann (z.B. via Zeiterfassungssoftware am Rechner oder einer entsprechenden App), muss auch eine eigenständige händische Erfassung zulässig sein, jedenfalls dann, wenn diese im Anschluss zeitnah in ein technisches System eingepflegt wird und dadurch eine vollständige Dokumentation und Überwachungsmöglichkeit gewährleistet ist. Arbeitgeber, die ihren Arbeitnehmern etwa gestatten, einmal eingetragene Arbeitszeiten im System selbst rückwirkend (manchmal bis zu 30 Tage) zu korrigieren, können nicht darauf hoffen, dass dieses Vorgehen den Vorgaben des EuGH entspricht.
Auch wenn das EUGH Urteil mitunter wegen der umfassenden Dokumentationspflichten als „Stechuhr-Urteil“ bezeichnet wird und Arbeitgeber den Rückfall in alte Zeiten beklagen: Das Urteil des EuGH ändert auch an der grundsätzlichen Zulässigkeit des Vertrauensarbeitszeitmodells erst einmal nichts. Die Delegation der Erfassung der Arbeitszeit an die Beschäftigten ist weiterhin möglich, den Arbeitgeber treffen jedoch Organisations- und Kontrollpflichten. Er muss sicherstellen, dass die Arbeitnehmer der ordnungsgemäßen Dokumentation auch nachkommen und dies in regelmäßigen Abständen zumindest stichprobenartig überwachen. Nur so kann das vom EUGH geforderte objektive und verlässliche System funktionieren. Diese Anordnungsbefugnis zur Dokumentation beruht auf dem Weisungsrecht des Arbeitgebers. Dadurch wird aber keine Freizeichnung gegenüber der Aufsichtsbehörde bewirkt. Adressat des Arbeitsschutzes und der Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben bleibt der Arbeitgeber.
Reform des Arbeitszeitgesetzes notwendig
Durch die Rechtsprechung des EUGH ist der deutsche Gesetzgeber verpflichtet, das Arbeitszeitgesetz zu reformieren, denn bislang ist nur die Aufzeichnung von Mehrarbeit gesetzlich vorgeschrieben. Ein bestimmtes Zeitfenster hierfür ist nicht vorgeschrieben. Bislang ist nicht bekannt, wann der Gesetzgeber aktiv wird. Die erforderliche Anpassung des Gesetzes wäre jedoch ein willkommener Anlass, gleichzeitig das oben beschriebene Spannungsverhältnis zwischen der Digitalisierung bzw. fortschreitenden Flexibilisierung der Arbeit und den bestehenden starren Regelungen im Arbeitszeitgesetz aufzulösen. Vorschläge hierzu gibt es einige. Dabei stehen insbesondere die täglichen Ruhezeiten im Mittelpunkt der Diskussion. Gefordert wird zum Beispiel eine Verkürzung auf acht oder neun Stunden, wenn elf Stunden im Durchschnitt nicht unterschritten werden. Zudem sollen geringfügige Unterbrechungen der Ruhezeit, etwa bis zu einer Grenze von 15 Minuten Arbeitsleistung, unschädlich sein. Begründet wird dies damit, dass der Erholungszweck der Ruhezeit durch kurzfristige Arbeitsleistungen nicht ernstlich gefährdet werde. Auch seien die Arbeitnehmer bei selbst gestalteter Arbeitszeit weniger schutzbedürftig. Zudem wird diskutiert, die maximale Arbeitszeit nicht am Arbeitstag, sondern an der Arbeitswoche zu orientieren, um eine höhere Flexibilität durch eine selbstbestimmte Einteilung durch die Beschäftigten an einzelnen Arbeitstagen zu erreichen.
Flexible Lösungen entbinden nicht von der Kontrollpflicht
Wenn sich jedoch Arbeitgeber von einer Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes ein Weniger an Arbeitsschutzaufwand erhoffen, werden sie enttäuscht. Im selben Maß, in dem strenge Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes aufgeweicht werden, steigt die Bedeutung der allgemeinen Arbeitsschutzpflichten des Arbeitgebers. Wenn zum Beispiel das Arbeitszeitgesetz verkürzte Ruhezeiten zuließe, würde sich damit das Risiko erhöhen, dass die Arbeitszeitgestaltung für die Beschäftigten zum Stressfaktor wird und sich damit als psychische Belastung negativ auf die Gesundheit auswirkt. Diese Wirkung müsste der Arbeitgeber dann in seiner Gefährdungsbeurteilung berücksichtigen und ihr durch geeignete Schutzmaßnahmen entgegenwirken.
Fazit
Die digitalisierte Arbeitswelt stellt den Arbeitsschutz vor neue Herausforderungen. Arbeitgeber haben bei mobiler Arbeit nicht mehr alle Arbeitsbedingungen unter Kontrolle, diese unterliegen weitgehend der Selbstbestimmung durch die Beschäftigten. Die Grenze zwischen Freizeit und Arbeit, die das bestehende Arbeitszeitgesetz noch randscharf zieht, wird in der Realität durch die fortschreitende Digitalisierung immer weiter aufgeweicht. Arbeitnehmer sind technisch in der Lage, rund um die Uhr zu arbeiten und möchten diese Freiheit auch oftmals nutzen. Dieser Umstand entbindet die Arbeitgeber indes nicht von ihrer arbeitsschutzrechtlichen Verpflichtung, für die Einhaltung der gesetzlichen Arbeitszeiten zu sorgen. Um sich den Realitäten in der Arbeitswelt 4.0 anzupassen, ist eine behutsame Zurücknahme der starren Grenzen des Arbeitszeitgesetzes sinnvoll. Das gilt insbesondere für die tägliche Ruhezeit, wenn Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit tatsächlich eigenverantwortlich gestalten können. Hier ist der Gesetzgeber am Zug.
Der Beitrag wird fortgesetzt.
Autor: Rechtsanwalt Matthias Klagge, LL.M.
TIGGES Rechtsanwälte