Durch den neuen SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard des BMAS entstehen für Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Sicherheitsfachkräfte neue Grundlagen, an denen sich orientiert werden kann. Der VDSI, dessen Mitglieder bereits seit einigen Wochen in Krisenstäbe eingebunden sind, hat diesen Standard durch praktische Hinweise konkretisiert (siehe www.vdsi.de/corona). Da aktuell einige Aufsichtsbehörden damit beginnen, eine genaueste Umsetzung zu prüfen, hat VDSI-Mitglied und Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Wilrich weitere Hinweise zur rechtlichen Wirkung des SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandardes des BMAS ergänzt, die Sie im Folgenden lesen können.
Es heißt, der Standard sei „konkret und verbindlich formuliert“[2] und „für alle Betriebe verbindlich“[3] – und: „Diese Anforderungen an den Arbeitsschutz sind für alle Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowie für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbindlich“[4]. Es wird berichtet, dass Aufsichtsbehörden eine eins-zu-eins-Umsetzung fordern. Dazu ist klarzustellen:
Der Standard ist kein verbindliches Gesetz, sondern eben „nur“ ein Standard. Das stellt er in II. auch selbst so klar: „Die Verantwortung für die Umsetzung notwendiger Infektionsschutzmaßnahmen trägt der Arbeitgeber entsprechend dem Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung“.
Es ist von der Umsetzung „notwendiger Infektionsschutzmaßnahmen“ die Rede, nicht von „Umsetzung des Arbeitsschutzstandards“. Selbst Technische Regeln (etwa TRBS oder TRGS) müssen nicht eins-zu-eins umgesetzt werden. So sagt § 4 Abs. 3 Satz 3 Betriebssicherheitsverordnung, von den TRBS „kann abgewichen werden, wenn Sicherheit und Gesundheit durch andere Maßnahmen zumindest in vergleichbarer Weise gewährleistet werden“[5]. Auch DIN-Normen haben „keine unmittelbare rechtliche Bindungswirkung“[6], sondern sind „auf freiwillige Anwendung ausgerichtete (technische) Empfehlungen“[7]; sie „stehen jedermann zur Anwendung frei“[8]; das heißt „man kann sie anwenden, muss es aber nicht“[9].
Aber: Der Arbeitgeber hat bei Maßnahmen des Arbeitsschutzes den „Stand von Technik, Arbeitsmedizin und Hygiene sowie sonstige gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen“ (§ 4 Nr. 3 ArbSchG). Was Stand der Technik ist, ist nicht ganz einfach zu bestimmen. Jedenfalls wird der BMAS-Arbeitsschutzstandard ein Regelwerk sein, dass in der Auslegung des ArbSchG und bei der Bestimmung der erforderlichen Arbeitsschutzmaßnahmen eine Rolle spielen kann[10] – auch strafrechtlich[11]. Es muss aber betont, werden, dass „berücksichtigen“ i.S.d. § 4 Nr. 3 ArbSchG „die Möglichkeit offen lässt, davon abzuweichen“[12], also „keine strikte Bindung“ bedeutet[13], sondern heißt: unter „Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit“ durchführen[14].
Fazit
Entscheidend ist – wie immer – das Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung. Auf dieser Basis sind die nötigen Arbeits- und Infektionsschutzmaßnahmen umzusetzen – selbstverständlich unter Beachtung zwingender Vorgaben im Infektionsschutzrecht inklusive landesrechtlicher Verordnungen. In diesem gesetzlichen Rahmen ist der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandardes des BMAS – in der Terminologie der Gerichtsurteile zu technischen Normen – „Auslegungshilfe“[15], „Entscheidungshilfe“[16] bzw. „Orientierungshilfe“[17].
Aber solche „Normen sind nicht sklavisch nach ihrem Wortlaut anzuwenden. Entscheidend ist der sicherheitstechnische Zweck dieser Vorschriften“[18].
Eine pauschale Anordnung der Umsetzung des Arbeitsschutzstandards würde im Übrigen gegen den verfassungsrechtlich gebotenen und auch bei der Nutzung behördlicher Befugnisse gemäß § 22 ArbSchG zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen:
- Wegen der „weitreichenden Konsequenzen sind an das Verbot des Übermaßes besonders hohe Anforderungen zu stellen“[19] und „die Unverhältnismäßigkeit einer Anordnung kann sich auch daraus ergeben, dass sie den gesetzlich vorgesehenen Entscheidungsspielraum des Arbeitgebers mehr als erforderlich beschränkt. Das ArbSchG überlässt ihm nicht nur die Feststellung der Gefährdungslage, sondern auch die Wahl der Mittel, mit denen er die vorgegebenen Schutzziele zu erreichen gedenkt“[20].
Autor:
Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Wilrich
Hochschule München, Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen,
Professor für Wirtschafts‑, Arbeits‑, Technik‑, Unternehmensorganisationsrecht und Recht für Ingenieure
www.rechtsanwalt-wilrich.de
E‑Mail: info@rechtsanwalt-wilrich.de
[1] https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Schwerpunkte/sars-cov-2-arbeitsschutzstandard.pdf?__blob=publicationFile&v=1.
[2] So Bundesarbeitsminister Hubertus Heil: https://www.arbeitssicherheit.de/themen/arbeitssicherheit/detail/corona-und-arbeitsschutz-zehn-neue-arbeitsschutzregeln-fuer-alle.html.
[3] So Hauptgeschäftsführer der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) Dr. Stefan Hussy: https://www.dguv.de/de/mediencenter/pm/pressemitteilung_388865.jsp.
[4] So z.B. https://www.bghm.de/bghm/presseservice/pressemeldungen/detailseite/bmas-veroeffentlicht-sars-cov-2-arbeitsschutzstandard/.
[5] Siehe Wilrich, Praxisleitfaden Betriebssicherheitsverordnung, 2. Aufl. 2020, Kapitel 12.4, S. 254.
[6] LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 15.12.2009 (Az. L 11 KR 4915/07).
[7] So hundertfach die Rechtsprechung, siehe nur BGH, Urteil v. 14.4.1994 (Az. I ZR 123/92) und Urteil v. 6.6.1991 (Az. I ZR 234/89).
[8] DIN 820–1 Normungsarbeit – Teil 1: Grundsätze betont in Nr. 8.1.
[9] Peter Kiehl, Normung, in: DIN (Hrsg.), Klein – Einführung in die DIN-Normen, 14. Aufl. 2008, 1.4, S. 17.
[10] Siehe zu dieser Wirkung Wilrich, Die rechtliche Bedeutung technischer Normen als Sicherheitsmaßstab – mit 33 Gerichtsurteilen zu anerkannten Regeln und Stand der Technik, Produktsicherheitsrecht und Verkehrssicherungspflichten, 1. Aufl. 2017.
[11] Siehe hierzu Wilrich, Arbeitsschutz-Strafrecht: Haftung für fahrlässige Arbeitsunfälle: Sicherheitsverantwortung, Sorgfaltspflichten und Schuld – mit 33 Gerichtsurteilen, 1. Aufl. 2020, Kapitel 5.4.2.2.
[12] BR-Drs. 400/14 (Beschluss) v. 28.11.2014, S. 3 – für TRBS.
[13] Reimer, Juristische Methodenlehre, 2016, Rn. 3; so sagt es auch BT-Drs. 12/6000 v. 5.11.1993, S. 23.
[14] BR-Drs. 400/14 (Gesetzentwurf) v. 28.8.2014, S. 84 – für TRBS.
[15] VG Trier, Urteil v. 21.2.2013 (Az. 5 K 1021/12) – Fallbesprechung 30 „Trockenkupplungen“ in Wilrich (Fn. 10), S. 315 ff.
[16] BGH, Urteil v. 23.3.1990 (Az. V ZR 58/89).
[17] BGH, Urteil v. 10.12.1987 (Az. III ZR 204/86); BVerwG, Beschluss v. 17.7.2003 (Az. 4 B 55/03).
[18] OLG Celle, Urteil v. 10.10.2005 (Az. 7 U 155/05) – zu DIN.
[19] Kunz, in: Kollmer/Klindt, ArbSchG, 3. Aufl. 2016, § 22 Rn. 104.
[20] Wiebauer, in: Landmann/Rohmer GewO, ArbSchG, 79. Lieferung Juni 2018, § 22 Rn. 135.