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Arbeitsunfall des Leiharbeitnehmers

Gerichte im Paragrafendschungel des Technischen Rechts
Der Arbeitsunfall des Leiharbeitnehmers an der selbst gebauten Profilwalze

Der Arbeitsunfall des Leiharbeitnehmers an der selbst gebauten Profilwalze
© Александр Ивасенко - stock.adobe.com
Prof. Dr. Thomas Wilrich
Lesen Sie in diesem Beitrag, wie das Landgericht Old­en­burg mit grob falschen Rechtsvorschriften die grobe Fahrläs­sigkeit des Betreiberun­ternehmens, des Geschäfts­führers und des Betrieb­sleit­ers begrün­dete. Lei­har­beit­nehmer L schob am 30. Okto­ber 2012 in einem Maschi­nen­bau­un­ternehmen dün­nwandi­ge Bleche in eine Pro­fil­walze. Er trug Arbeit­shand­schuhe und geri­et mit seinem linken Arm in die Walze. Nach dem Arbeit­sun­fall ist der Lei­har­beit­nehmer zu 40 Prozent erwerbsgemindert.

Arbeitsunfall an einer im Eigenbetrieb hergestellten Walze

Die Walze hat­te das Unternehmen „im Eigen­be­trieb hergestellt. Sie hat­te keine Abdeck­ung an den Einzugsstellen. Ein EG-Kon­for­mitätsver­fahren nach der Maschi­nen­richtlin­ie 2006/42/EG mit Gefährdungs­analyse und Risikobe­w­er­tung sowie Erstel­lung ein­er Betrieb­san­leitung waren nicht durchge­führt wor­den. Die Walze hat­te auch keine sog. CE-Kennze­ich­nung, mit der erk­lärt wird, dass die Mas­chine allen gel­tenden europäis­chen Vorschriften entspricht und dem vorgeschriebe­nen Kon­for­mitäts­be­w­er­tungsver­fahren unter­zo­gen wor­den ist“.

Das Unternehmen sagte, die Walze sei 1993 gebaut wor­den und behauptet allen Ern­stes, „sie habe sich noch in der Entwick­lungsphase befun­den, da die Arbeit­sergeb­nisse noch nicht gut genug gewe­sen seien. Kurz vor dem Unfall seien weit­ere Umbau­maß­nah­men geplant gewe­sen“. Darin steckt die Behaup­tung ein­er 20-jähri­gen Entwicklungsdauer!

Die bei Lei­har­beit­nehmern zuständi­ge Ver­wal­tungs-Beruf­sgenossen­schaft ver­langte die Heilungskosten und die an L zu zahlende Rente

  • vom Unternehmen
  • vom Geschäfts­führer und
  • vom Betrieb­sleit­er.

Rechts­grund­lage des Anspruchs der BG ist gegen den Geschäfts­führer und den Betrieb­sleit­er § 110 SGB VII und gegen das Unternehmen § 111 SGB VII. Das Landgericht Old­en­burg gab der Klage statt.

Haftungsprivilegierung bei Arbeitsunfällen von Leiharbeitnehmern

Das LG stellte zunächst fest, „der Ver­sicherte stand zu den Beklagten in ein­er son­sti­gen die Ver­sicherung begrün­den­den Beziehung im Sinne von § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII“. Das bedeutet:

  • Arbeitss­chutzver­ant­wor­tung des Entlei­hers und der Führungskräfte: „Gemäß § 11 Abs. 6 AÜG war der Entlei­her gegenüber einge­set­zten Lei­har­beit­ern zur Beach­tung der Unfal­lver­hü­tungsvorschriften verpflichtet.“
  • Haf­tung­spriv­i­legierung des Entlei­hers und der Führungskräfte: „Die Haf­tung­spriv­i­legierung aus § 104 SGB VII gilt auch dann, wenn ein dem Entlei­her zur Arbeit­sleis­tung über­lassen­er Arbeit­nehmer im Unternehmen des Entlei­hers einge­set­zt wird.“

Grobe Fahrlässigkeit

Die entschei­dende Frage ist, ob die Beklagten den Unfall grob fahrläs­sig her­beige­führt haben. Fahrläs­sigkeit ist die Außer­acht­las­sung der im Verkehr erforder­lichen Sorgfalt (§ 276 Abs. 2 BGB). Grobe Fahrläs­sigkeit prüft die Recht­sprechung zweistufig:

„Grobe Fahrläs­sigkeit set­zt einen objek­tiv schw­eren und sub­jek­tiv nicht entschuld­baren Ver­stoß gegen die Anforderun­gen der im Verkehr erforder­lichen Sorgfalt voraus. Diese Sorgfalt muss in ungewöhn­lich hohem Maß ver­let­zt und es muss das­jenige unbeachtet geblieben sein, was im gegebe­nen Fall jedem hätte ein­leucht­en müssen. Ein objek­tiv grober Pflicht­en­ver­stoß recht­fer­tigt für sich allein noch nicht den Schluss auf ein entsprechend gesteigertes per­son­ales Ver­schulden, nur weil ein solch­es häu­fig damit ein­herzuge­hen pflegt. Vielmehr erscheint eine Inanspruch­nahme des haf­tung­spriv­i­legierten Schädi­gers im Wege des Rück­griffs nur dann gerecht­fer­tigt, wenn eine auch sub­jek­tiv schlechthin unentschuld­bare Pflichtver­let­zung vor­liegt, die das in § 276 Abs. 2 BGB bes­timmte Maß erhe­blich überschreitet.“

Objektiv schwerer Verstoß

Das LG sieht den „objek­tiv schw­er­er Ver­stoß gegen die Verkehrssicherungspflicht darin, dass die Einzugs- und Quetschstelle an der Walze mit kein­er­lei Abdeck­ung verse­hen war. Es ist offen­sichtlich, dass die Bere­iche ein­er Mas­chine, in die Arbeit­er mit ihren Glied­maßen hineinger­at­en kön­nten, abzudeck­en sind. Es beste­ht die erkennbare Gefahr, dass ein Arbeit­er mit den Hän­den, Füßen, Haaren oder Zipfeln sein­er Klei­dung in die Walze gerät und einge­zo­gen wird. Das Risiko für Leib und Leben des Arbeit­ers wird hier dadurch poten­ziert, dass sich die Ver­let­zung, die durch das Hineinger­at­en in die Mas­chine erfol­gt, durch den Einzugsvor­gang ganz erhe­blich ver­schlim­mert. Hinzu kommt, dass bis zur Befreiung eines in ein­er Walze eingek­lemmten Arbeit­ers weit­ere Ver­schlechterun­gen seines Zus­tands, zum Beispiel durch erhe­bliche Blu­tun­gen, dro­hen. Dass es dabei zu ganz erhe­blichen, auch tödlichen Ver­let­zun­gen kom­men kann, liegt auf der Hand“.

Die Beklagten argu­men­tieren, „es seien auch ohne Abdeck­ung hin­re­ichende Sicher­heits­maß­nah­men vorhan­den gewe­sen“, aber das LG weist alles aus­führlich begrün­det zurück:

  • Not-Aus-Schal­ter: Er „kann erkennbar nur dazu dienen, den Schaden zu begren­zen, wenn ein Arbeit­er bere­its in die Walze ger­at­en ist. Er ist deshalb keine Schutzein­rich­tung, son­dern eine zusät­zliche Ein­rich­tung für Hand­lun­gen im Notfall“.
  • Boden­markierun­gen: Sie sind „keine Schutzein­rich­tung, die ein Erre­ichen der Gefahren­stelle ver­hin­dert“, son­dern „dienen lediglich dazu, einen Gefahren­bere­ich zu kennze­ich­nen. Es ist jedoch
    offen­sichtlich, dass eine Boden­markierung keineswegs sich­er­stellt, dass ein Arbeit­er, einge­bun­den im Arbeit­sprozess und entsprechend abge­lenkt, die Markierung nicht überschreitet“.
  • Anweisung des Abstand­hal­tens – näm­lich „die Bleche in ein­er Ent­fer­nung von 2,5 – 3 m in die Walze einzuführen. Dies schließt jedoch keineswegs aus, dass ein Arbeit­er, aus welchen Grün­den auch immer, in den Ein­mün­dungs­bere­ich der Walze gerät. Zu berück­sichti­gen ist, dass die von ein­er gefährlichen Mas­chine aus­ge­hen­den Gefahren von den daran Arbei­t­en­den oft mit der Zeit aus dem Bewusst­sein ver­drängt wer­den. Jedoch soll auch der­jenige, der es gewohnt ist, in Gefahren­si­t­u­a­tio­nen zu arbeit­en, so gut wie möglich davor geschützt wer­den, durch unbe­dacht­es, jedoch nahe­liegen­des Ver­hal­ten zu Schaden zu kom­men. Vor­liegend war keineswegs garantiert, dass die Walze immer nur aus der Ent­fer­nung bedi­ent wer­den würde. Vielmehr war es dur­chaus im Bere­ich des Erwart­baren, dass der Bedi­ener der Walze sich ihrem Einzug näh­ern kön­nte – sei es durch eine unbe­dachte Bewe­gung, ein Stolpern oder aus einem anderen Grund. Dass diese Möglichkeit bestand, ist durch den tragis­chen Unfall von L belegt. Im Rah­men der Unfal­lver­hü­tung geht es jedoch nicht nur darum, die bei der emp­fohle­nen Bedi­enungsweise beste­hen­den, son­dern alle Gefahren zu reduzieren“.
  • Mündlich­er Hin­weis auf die offene Einzugsstelle: Dies „schei­det eben­falls als aus­re­ichende Schutzvor­rich­tung aus“. Das begrün­det das Gericht nicht – es ergibt sich aus dem TOP-Grund­satz, der seit 2015 in § 4 Abs. 2 Satz 2 Betr­SichV ste­ht: „Tech­nis­che Schutz­maß­nah­men haben Vor­rang vor organ­isatorischen, diese haben wiederum Vor­rang vor per­so­n­en­be­zo­ge­nen Schutzmaßnahmen.“

Die einschlägigen Rechtsvorschriften

Das Landgericht hätte es bei den Aus­sagen zur Unsicher­heit der Mas­chine belassen kön­nen, ergänzte dann aber lei­der rechtliche Erwä­gun­gen zu den anwend­baren Vorschriften. Hätte es das doch sein lassen, denn es ist dabei arg verrutscht.

  • Das LG sagt: „Welche Unfal­lver­hü­tungsvorschriften ein­schlägig sind, hängt vom Alter der Mas­chine ab.“
    Das ist falsch: Es gel­ten immer die aktuellen UVV – auch für alle alten Maschi­nen. Denn das beruf­sgenossen­schaftliche Regel­w­erk ist Arbeitss­chutzrecht und enthält Betreiber­vorschriften, nicht aber an das Her­stel­lungs- oder Bere­it­stel­lungs­da­tum knüpfend­es Produktsicherheitsrecht.
  • Das LG über­legt: „Sollte die Walze vor Inkraft­treten der soge­nan­nten Maschi­nen­richtlin­ie 89/392/EWG am 05.01.1993 in Betrieb genom­men wor­den sein, wäre zunächst § 4 der Vorschriften der Beruf­sgenossen­schaften (VBG) 5 maßge­blich.“ Das Gericht meint die VBG 5 „Kraft­be­triebene Arbeitsmittel“.
    Das ist falsch: Auch wenn die Mas­chine vor Jahrzehn­ten in Betrieb genom­men wor­den ist, gilt (wenn man auf UVV abstellen will) jet­zt die DGUV Regel 100–500 „Betreiben von Arbeitsmit­teln“ – und zwar Kapi­tel 2.5 „Betreiben von Walzw­erken“. Richtig ist dann aber die Zusam­men­fas­sung des Gerichts, die sich hier für die Unfall­mas­chine aber eben nicht aus der VGB 5 ergibt: „Von Bedeu­tung ist, dass die Schutzein­rich­tun­gen hin­sichtlich ihrer Wirkung so aus­gewählt und kom­biniert wer­den, dass ein Erre­ichen der Gefahren­stelle während der gefahrbrin­gen­den Bewe­gung ver­hin­dert wird.“
  • Das LG fährt fort: „Sollte die Walze erst nach dem 05.01.1993 in Betrieb genom­men wor­den sein, wäre die oben genan­nte Maschi­nen­richtlin­ie ein­schlägig. Nach Zif­fer 1.3.7 dieser Vorschrift müssen Gefahren­stellen an Maschi­nen mit Schutzein­rich­tun­gen in der Weise verse­hen sein, dass jedes Risiko durch Erre­ichen der Gefahren­stellen, das zum Unfall führen kann, aus­geschlossen wird“.
    Das ist falsch: Zwar galt schon die erste Maschi­nen­richtlin­ie von 1989 bei Her­stel­lung für den Eigenge­brauch. Aber wenn es auf die EG-Maschi­nen­richtlin­ie zum Zeit­punkt der Inbe­trieb­nahme ankäme, müssten der Geschäfts­führer und der Betrieb­sleit­er dann zu diesem Zeit­punkt auch schon auf dieser Posi­tion im Unternehmen gewe­sen sein, denn son­st kön­nte ihnen der Pflichtver­stoß nicht zugerech­net wer­den. Es kommt bei Arbeit­sun­fällen nicht auf her­steller­be­zo­gene und ein­ma­lig gel­tende Inverkehrbrin­gensvorschriften an, son­dern auf betrieb­s­be­zo­gene und dauer­haft und dynamisch gel­tende Arbeitsschutzvorschriften.
  • Nur zusät­zlich sagt das LG, es „gehört auch zu den „All­ge­meinen Min­destvorschriften“ aus Anlage 1 der zum Unfal­lzeit­punkt gel­tenden Betrieb­ssicher­heitsverord­nung, dass Arbeitsmit­tel mit Schutzein­rich­tun­gen aus­ges­tat­tet sind, die den unbe­ab­sichtigten Zugang zum Gefahren­bere­ich von beweglichen Teilen ver­hin­dern oder welche die beweglichen Teile vor dem Erre­ichen des Gefahren­bere­ichs stillset­zen (Nr. 2.8)“.

Das LG erken­nt nicht, dass die Betr­SichV die zen­trale Rechtsvorschrift zur Lösung des Fall­es ist – nicht die EG-Maschi­nen­richtlin­ie oder anderes Inverkehrbrin­gen­srecht – und schon gar nicht UVV aus der Inbe­trieb­nah­mezeit. Aktuelle Arbeitss­chutz- und Betreiber­vorschriften gel­ten auch für alte Anla­gen und Bestandsschutzfragen.

Subjektiv unentschuldbare
Pflichtverletzung

„Es bedarf kein­er kom­plex­en Gefährdungs­beurteilung, um zu erken­nen, dass eine Walze mit ein­er offe­nen Einzugsstelle eine hochgr­a­di­ge Gefahr für die Arbeit­nehmer darstellt, die die Walze bedi­enen müssen. Diese Gefahr war vielmehr für jeden, der die Walze optisch wahrn­immt, offenkundig. Hinzu kommt, dass der Mas­chine nach dem Vor­trag der Beklagten kurz vor dem Unfal­lzeit­punkt beson­dere Aufmerk­samkeit zuteil gewor­den sei. Sie habe sich noch in der Entwick­lung gefun­den, da das Arbeit­sergeb­nis habe opti­miert wer­den sollen. Es ist schlech­ter­d­ings zu entschuldigen, wenn bei der Suche nach einem besseren Arbeit­sergeb­nis die Sicher­heitsin­ter­essen der die Mas­chine bedi­enen­den Arbeit­er in einem solchen Maße ignori­ert werden.“

  • Die Beklagten behaupten noch, „bei regelmäßi­gen Betrieb­s­bege­hun­gen der BG Holz und Bau sei der Zus­tand der Walze nicht kri­tisiert wor­den“. Aber – so das LG – erstens „ist unklar, ob die Walze bei den Bege­hun­gen über­haupt in dem Zus­tand gesichtet wurde, in dem sie am Unfall­t­ag – in der Umbauphase – gewe­sen ist“. Zweit­ens „ent­binden die Betrieb­s­bege­hun­gen durch die BG Holz und Bau die Beklagten jeden­falls nicht von ihrer eige­nen Ver­ant­wortlichkeit für den objek­tiv schw­er­wiegen­den Ver­stoß gegen die Verkehrssicherungspflicht“.
  • Die Beklagten recht­fer­ti­gen sich noch, „bei den Betrieb­s­bege­hun­gen seien häu­fig andere, deut­lich unwichtigere Punk­te bean­standet wor­den“. Das Gericht kon­terte, „dies hätte erst Recht Anlass geben müssen, den offen­sichtlich gefährlichen Zus­tand der Walze abzusichern“.
  • Die Beklagten vertei­di­gen sich noch mit der „jahre­lang unfall­freien Benutzung der Mas­chine“. Aber – so das Gericht – „die Gefahr, die von der Mas­chine aus­ging, ist so offenkundig, dass sich dies auch dann auf­drän­gen müsste, wenn die Mas­chine seit 1993 auf dieselbe Art und Weise genutzt wor­den wäre. Der glück­liche Umstand, dass es zuvor zu keinen Unfällen gekom­men ist, würde die Beklagten nicht entlasten“.

Das Landgericht begrün­dete zwar tech­nisch die sub­jek­tive Unentschuld­barkeit, ver­säumt aber per­so­n­en­be­zo­gene Aus­sagen zur indi­vidu­ellen Ver­ant­wor­tung ger­ade des Geschäfts­führers und des Betrieb­sleit­ers. Das ist ein schw­er­wiegen­des Ver­säum­nis. Diese bei­den Unternehmensmi­tar­beit­er sind nicht aus ihrer Posi­tion her­aus ohne weit­eres haft­bar. Haben sie per­sön­lich gewusst oder hät­ten sie wis­sen müssen, dass die Mas­chine so grob unsich­er ist? Wenn es verurteilt, muss ein Gericht diese Frage prüfen und beantworten.

Kein Mitverschulden des Leiharbeitnehmers L

L sagt, er sei gestolpert. Das Landgericht über­legt hierzu, „es ist nicht ungewöhn­lich, dass Arbeit­er, die eine Mas­chine bedi­enen, dabei aus dem Gle­ichgewicht ger­at­en kön­nen und stolpern, ins­beson­dere wenn Stolper­fall­en wie Pal­let­ten in der Nähe sind. Das Stolpern als solch­es ist deshalb ungeeignet, ein Mitver­schulden zu begründen“.

Die Beklagten wer­fen dem L vor, „er habe sich, da er sich nicht wohl gefühlt habe, nicht an die Mas­chine stellen, son­dern hätte sich krankmelden müssen“ und ein Zeuge bestätigt, L habe gesagt, „es gehe ihm schlecht und er habe Prob­leme mit dem Rück­en“. Aber „eine ein­deutig erkennbare Arbeit­sun­fähigkeit, die es aus Sicht des Ver­sicherten unver­ant­wortlich erschienen ließe, die Mas­chine zu bedi­enen, ist auf­grund dieser Umstände nicht ansatzweise ersichtlich. Zudem fehlt es bere­its an einem Nach­weis dafür, dass der Sturz des Ver­sicherten auf etwaigen Rück­en­prob­le­men beruhte“.

Mitverschulden des geschädigten Beschäftigten?

Mitver­schulden wird nach Arbeit­sun­fällen immer geprüft – und auch recht häu­fig anteilig berück­sichtigt. Wenn aber keine bewusste Hand­lung des Arbeit­nehmers zum Unfall geführt hat, haften die Betrieb­sver­ant­wortlichen eher voll. Siehe hierzu dutzende Fall­beispiele für Baustellen in Wilrich, Bau­sicher­heit: Arbeitss­chutz, Baustel­len­verord­nung, Koor­di­na­tion, Bauüberwachung, Verkehrssicherungspflicht­en und Haf­tung der Baubeteiligten – mit 50 Gericht­surteilen (2021).

Oberlandesgericht Oldenburg

Das OLG Old­en­burg bestätigte das LG-Urteil und wieder­holt im Wesentlichen nur die Ein­schätzun­gen des Landgerichts. Das OLG ergänzte aber noch, es „wäre selb­st dann von einem groben sub­jek­tiv­en Ver­stoß der Beklagten gegen ihre Sorgfalt­spflicht­en auszuge­hen, wenn anlässlich früher­er Besich­ti­gun­gen durch Mitar­beit­er der Beruf­sgenossen­schaft keine Bean­stan­dun­gen gegen die Sicher­heit der Pro­fil­walze erhoben wor­den wären. Denn die von den Beklagten voll­ständig außer Acht gelasse­nen Unfal­lver­hü­tungsvorschriften hat­ten ele­mentare Sicherungspflicht­en zum Gegen­stand und vor­ge­tra­ge­nen Absicherungs­maß­nah­men waren so wirkungs­los, dass fak­tisch über­haupt kein Gefahren­schutz bestand. In einem solchen Falle kön­nen sich die haf­tung­spriv­i­legierten Per­so­n­en indes nicht mit Erfolg zu ihrer Ent­las­tung darauf berufen, sie seien davon aus­ge­gan­gen, dass ein etwaiger Regelver­stoß nicht beson­ders schw­er sei, weil er bei früheren Bege­hun­gen durch die Beruf­sgenossen­schaft nicht gerügt wor­den sei“.

Mitverschulden der Berufsgenossenschaften durch Nichtbeanstandung?

In Aus­nah­me­fällen kann es ent­las­ten, wenn Beruf­sgenossen­schaften eine unsichere Mas­chine vor dem Unfall gese­hen und nicht bean­standet haben. Der BGH sprach im Jahre 2000 alle in einem Sägew­erk für ein (wegen fehlen­der tren­nen­der Schutzein­rich­tung) unsicheres Förder­band und einen 17-jähri­gen Schüler im Betrieb Ver­ant­wortlichen frei, denn „das Fehlen ein­er beson­deren Absicherung wurde nach den Fest­stel­lun­gen von den für Sicher­heits­fra­gen beson­ders zuständi­gen Stellen bis zu dem tödlichen Unfall nicht kri­tisiert. Ins­beson­dere wurde das Fehlen ein­er Abschrankung bei den jährlichen Bege­hun­gen des Betriebes durch die Beruf­sgenossen­schaft, die zulet­zt vor dem Unfall vom 8. Sep­tem­ber 1997 im Mai 1997 durchge­führt wor­den war, nicht bean­standet“. Siehe hierzu auch Wilrich, Arbeitss­chutz-Strafrecht: Haf­tung für fahrläs­sige Arbeit­sun­fälle: Sicher­heitsver­ant­wor­tung, Sorgfalt­spflicht­en und Schuld – mit 33 Gericht­surteilen (2020).

Zum Mitver­schulden ergänzte das OLG, der Vor­wurf eines Sorgfaltsver­stoßes an L „wäre im Hin­blick auf die von den Beklagten zu ver­ant­wor­tende Aus­gestal­tung seines Arbeit­splatzes und namentlich des unmit­tel­bar vor dem Einzugs­bere­ich der Walz­mas­chine liegen­den Arbeits­bere­ichs so ger­ing, dass er gegenüber dem schw­eren Ver­schulden der Beklagten nicht ins Gewicht fiele“.


Auszug aus dem Siebten Sozialgesetzbuch über die Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) Auszug aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB)

  • § 104 Abs. 1 regelt die Haf­tungs­freis­tel­lung nach Ver­sicherungs­fällen und lautet: „Unternehmer sind den Ver­sicherten, die für ihre Unternehmen tätig sind … nach anderen geset­zlichen Vorschriften zum Ersatz des Per­so­n­en­schadens, den ein Ver­sicherungs­fall [Arbeit­sun­fall oder Beruf­skrankheit] verur­sacht hat, nur verpflichtet, wenn sie den Ver­sicherungs­fall vorsät­zlich … her­beige­führt haben.“
  • § 105 Abs. 1 regelt die Haf­tung­spriv­i­legierung der Ver­sicherten und lautet: „Per­so­n­en, die durch eine betriebliche Tätigkeit einen Ver­sicherungs­fall von Ver­sicherten des­sel­ben Betriebs verur­sachen, sind diesen sowie deren Ange­höri­gen und Hin­terbliebe­nen nach anderen geset­zlichen Vorschriften zum Ersatz des Per­so­n­en­schadens nur verpflichtet, wenn sie den Ver­sicherungs­fall vorsät­zlich her­beige­führt haben.“
  • § 110 Abs. 1 regelt den Rück­griff der Beruf­sgenossen­schaften bei den Ver­ant­wortlichen und lautet: „Haben Per­so­n­en, deren Haf­tung nach den §§ 104 bis 107 beschränkt ist, den Ver­sicherungs­fall vorsät­zlich oder grob fahrläs­sig her­beige­führt, haften sie den Sozialver­sicherungsträgern für die infolge des Ver­sicherungs­falls ent­stande­nen Aufwen­dun­gen, jedoch nur bis zur Höhe des zivil­rechtlichen Schadenersatzanspruchs.“
  • § 111 regelt die „Haf­tung des Unternehmens“ und lautet: „Haben ein Mit­glied eines vertre­tungs­berechtigten Organs, Abwick­ler oder Liq­uida­toren juris­tis­ch­er Per­so­n­en, vertre­tungs­berechtigte Gesellschafter oder Liq­uida­toren ein­er Per­so­n­enge­sellschaft des Han­del­srechts oder geset­zliche Vertreter der Unternehmer in Aus­führung ihnen zuste­hen­der Ver­rich­tun­gen den Ver­sicherungs­fall vorsät­zlich oder grob fahrläs­sig verur­sacht, haften nach Maß­gabe des § 110 auch die Vertrete­nen. Eine nach § 110 beste­hende Haf­tung der­jeni­gen, die den Ver­sicherungs­fall verur­sacht haben, bleibt unberührt.“
  • § 11 Son­stige Vorschriften über das Leiharbeitsverhältnis
    (6) Die Tätigkeit des Lei­har­beit­nehmers bei dem Entlei­her unter­liegt den für den Betrieb des Entlei­hers gel­tenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften des Arbeitsschutzrechts; …
  • § 254 Mitverschulden
    (1) Hat bei der Entste­hung des Schadens ein Ver­schulden des Beschädigten mit­gewirkt, so hängt die Verpflich­tung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leis­ten­den Ersatzes von den Umstän­den, ins­beson­dere davon ab, inwieweit der Schaden vor­wiegend von dem einen oder dem anderen Teil verur­sacht wor­den ist.
  • § 276 Ver­ant­wortlichkeit des Schuldners
    (2) Fahrläs­sig han­delt, wer die im Verkehr erforder­liche Sorgfalt außer Acht lässt.

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Foto: © privat

Autor:
Recht­san­walt Prof. Dr. Thomas Wilrich
Hochschule München (Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen)

 

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