Grundsätzlich gilt für den Versicherungsschutz: Der direkte Weg muss nicht unbedingt der kürzeste sein. Vielmehr darf auch eine längere, verkehrsgünstigere Strecke genutzt werden. Die Wahl des Verkehrsmittels steht dem Versicherten frei. Wird der Weg jedoch aus privaten Gründen, etwa um einzukaufen, unterbrochen, endet der Versicherungsschutz.
Doch nicht immer ist das Geschehen eindeutig, sodass die Frage nach dem Versicherungsschutz nicht selten gerichtlich zu klären ist.
Am 30. Januar 2020 hatte das Bundessozialgericht (BSG) gleich in vier Fällen darüber zu entscheiden, ob ein versicherter Wegeunfall vorliegt. In zwei Fällen war streitig, ob die gesetzliche Unfallversicherung auch dann greift, wenn ein Versicherter den Weg zur Arbeit von einem dritten Ort aus startet, der im Verhältnis zum üblichen Arbeitsweg weit entfernt liegt.
Bisherige Rechtsprechung
Der Arbeitsweg muss nicht zwingend vom häuslichen Bereich aus angetreten werden oder dort enden. Dem Versicherten steht es grundsätzlich frei, einen anderen Ort als Anfangs- oder Endpunkt des versicherten Weges zu wählen. Dieser wird als dritter Ort bezeichnet. Versicherungsschutz ist nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen nur dann gegeben, wenn sich der Versicherte mindestens zwei Stunden an dem dritten Ort aufgehalten hat. Ferner musste bislang der Weg vom beziehungsweise zum dritten Ort in einem angemessenen Verhältnis zum üblichen Arbeitsweg stehen. Von dieser langjährigen Rechtsprechung ist das BSG nun abgerückt.
1. Fall: Bei der Freundin übernachtet
Im ersten Fall (Az. B 2 U 2/18 R) ging es um einen jungen Mann, der auf dem Weg von der Wohnung seiner Freundin zur Arbeit einen Verkehrsunfall erlitten und sich dabei schwer verletzt hatte. Er bewohnte ein Zimmer in der Wohnung seiner Eltern. Werktags fuhr er jedoch abends meist zu seiner Freundin und übernachtete auch dort. Der Weg zwischen der elterlichen Wohnung und der Arbeitsstätte ist nur zwei Kilometer lang, die Entfernung zwischen Arbeitsstätte und Wohnung der Freundin beträgt hingegen 44 Kilometer.
2. Fall: Zu Mittag bei einem Freund
Im zweiten Fall (Az. B 2 U 20/18 R) hatte der Kläger morgens Personen mit einer Behinderung zu einer Werkstatt für behinderte Menschen gebracht und nachmittags wieder abgeholt. Am Unfalltag fuhr er nach seiner ersten Tour zu einem Freund, wo er sich länger als zwei Stunden aufhielt. Als er dann zur Werkstatt fahren wollte, um den Nachmittagsdienst zu beginnen, verunglückte er mit seinem Motorrad. Die Entfernung von der Wohnung des Freundes zur Arbeitsstätte war dreimal so lang wie der übliche Arbeitsweg.
Entfernung nicht ausschlaggebend
In beiden Fällen hatte die Berufsgenossenschaft (BG) die Anerkennung als Arbeitsunfall abgelehnt, weil der Weg zwischen dem dritten Ort und der Arbeitsstätte im Verhältnis zu dem üblichen Arbeitsweg unverhältnismäßig lang sei. Das BSG entschied in beiden Fällen zugunsten der Versicherten. Es stellte klar, dass es nicht mehr darauf ankomme, aus welchen Gründen sich der Versicherte an jenem Ort aufhält und in welchem Verhältnis die Entfernung von dem dritten Ort zum Ort der Tätigkeit zur Wegstrecke des üblichen Arbeitsweges steht. Entscheidend sei vielmehr, ob der Weg vom dritten Ort zur Arbeitsstätte wesentlich von der subjektiven Handlungstendenz geprägt sei, den Ort der Tätigkeit aufzusuchen und dies objektivierbar sei.
3. Fall: Tankstopp nicht versichert
Im dritten Fall (Az. B 2 U 9/18 R) entschied das BSG, dass ein Tankstopp auf dem Arbeitsweg nicht versichert ist und wich damit ebenfalls von seiner bisherigen Rechtsprechung ab.
Die Klägerin hatte nach Arbeitsende ihr Fahrzeug bestiegen, um nach Hause zu fahren. Der Weg zu ihrer Wohnung betrug 75 Kilometer. Beim Start des Motors leuchtete die Tankanzeige auf, die ihr signalisierte, dass der Kraftstoff noch für eine Strecke von 70 Kilometern reichen würde. Ohne Nachtanken hätte sie ihr Zuhause somit nicht mehr erreicht. Die Frau fuhr daher zur nächstgelegenen Tankstelle. Nach dem Tanken rutschte sie auf dem Weg zur Kasse aus und brach sich dabei das rechte Sprunggelenk. Die BG lehnte die Anerkennung als Arbeitsunfall ab.
Zusammenhang zur Tätigkeit fehlt
Das BSG bestätigte die Entscheidung der BG. Tanken sei eine grundsätzlich unversicherte Tätigkeit. Es sei auch nicht ausnahmsweise als Vorbereitungshandlung versichert. Vorbereitungshandlungen würden in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nur einbezogen, soweit sie einen besonders engen zeitlichen, sachlichen und örtlichen Bezug zur versicherten Tätigkeit aufweisen. Das verbrauchsbedingte Auftanken des Privatwagens erfülle diese Voraussetzungen nicht. Es diene lediglich allgemein der Erhaltung der Betriebsfähigkeit des Kraftfahrzeuges.
Keine geringfügige Unterbrechung
Nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats war das Tanken in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung einbezogen, wenn es auf dem Weg notwendig wurde, um den versicherten Endpunkt zu erreichen. Daran hält das BSG nicht weiter fest. Tanken sei örtlich und zeitlich nicht festgelegt. Es sei dem Versicherten überlassen, wann er tanke. Angesichts dessen gehöre das verbrauchsbedingte Auftanken zu der rein eigenwirtschaftlichen Risikosphäre des Versicherten.
Die Klägerin habe ihren Heimweg auch nicht nur geringfügig unterbrochen. Das Tanken eines Kfz könne nicht im „Vorübergehen“ erledigt werden. Vielmehr stelle das Anhalten, Aussteigen, Betanken und Bezahlen eine äußerlich beobachtbare und von der Zurücklegung des Weges deutlich unterscheidbare neue Handlungssequenz dar.
4. Fall: Vom Homeoffice zum Kindergarten
Im vierten Fall (Az. B 2 U 19/18 R) bestätigte das BSG die Entscheidung des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen vom 26.09.2018 (vergleiche Ausgabe 6/2019), wonach Eltern, die ihr Kind vom Homeoffice in den Kindergarten bringen, nicht gesetzlich unfallversichert sind.
Zugrunde lag der Fall einer Mutter, die für ihren Arbeitgeber im Rahmen des Teleworkings von zu Hause aus arbeitete. Am Unfalltag brachte sie ihre Tochter mit dem Fahrrad zum Kindergarten. Auf dem Rückweg stürzte sie bei Glatteis und brach sich den rechten Ellenbogen.
Urteil bestätigt – Gesetzgeber gefragt
Nach Auffassung des BSG hat das LSG zu Recht entschieden, dass kein versicherter Wegeunfall vorliege. Ein solcher setze begriffsnotwendigerweise voraus, dass der Ort des privaten Aufenthalts und der versicherten Tätigkeit, zwischen denen der Weg zurückgelegt wird, räumlich auseinanderfallen. Dies sei bei der Tätigkeit in einem Homeoffice naturgemäß nicht der Fall. Um nach § 8 Abs. 2 Nr. 2a Sozialgesetzbuch VII versichert zu sein, müsse von einem versicherten Weg, der hier aber gerade nicht vorliege, abgewichen werden, um Kinder in fremde Obhut zu geben. Für den Fall der Arbeit in einem Homeoffice müsste eine Wegunfallversicherung zu einer Kinderbetreuung erst begründet werden. Eine solche Erweiterung des Versicherungsschutzes obliege aber dem Gesetzgeber.
Autorin: Tanja Sautter