Viele Faktoren sprechen für den Einsatz von E‑Learning im Arbeitsschutz. Es existiert bereits eine sehr große Auswahl an praxisbewährten Lehr- und Lernformaten, mit denen das Wissen und die richtige Arbeitsweise vermittelt werden. Beispiele sind Blended Learning, Micro Learning, Webinare und vieles mehr – dabei schließt das eine das andere nicht aus.
Für das eigene Unternehmen das passende Format zu finden, scheint nicht allzu leicht zu sein. Für die Entscheidung sollten das Interesse und die Neugierde der Beschäftigten Berücksichtigung finden. Diese bestimmen die Akzeptanz und den nachhaltigen Erfolg. Neuartigkeit und Entdeckergeist begünstigen Lerneffekt sowie Umsetzungsqualität. Immer mehr Menschen sind gewohnt digital zu lernen. In den Schulen, Universitäten sowie im privaten Bereich wird zunehmend E‑Learning eingesetzt. Das Wissen wird somit effizienter und effektiver vermittelt und angewendet.
Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler hat in seiner „Die Ordnung der Freiheit“ Rede beim Arbeitgeberforum „Wirtschaft und Gesellschaft“ 2005 in Berlin die Notwendigkeit darüber ausgedrückt, dass wir in der Welt der Globalisierung unser ständig erneuertes Wissen schnell in Entwicklung und Produkte umsetzen:
- „Wir müssen um so viel besser sein, wie wir teurer sind. Wir brauchen Lehrer, die darauf brennen, ihren Schülern etwas beizubringen – und Schüler, die sich begeistern lassen. Wir brauchen Eltern, die ihre Kinder zur Wissbegierde erziehen und auch einmal verstehen, wenn nach dem Experimentieren der Teppich ein Loch hat. Wir brauchen Ausbilder, die Freude daran wecken, ein Handwerk wirklich zu beherrschen. So kommen solides Wissen und kritisches Denken, Neugier und Experimentierfreude in die Welt.“
Werden in diesen Sätzen die Schüler durch Beschäftigte, die Eltern durch Führungskräfte und Ausbilder durch Sicherheitsfachkräfte ersetzt, so erhät man gute Faktoren für die Gestaltung des Arbeitsschutzes 4.0.
360°-Panoramen – eine runde Sache
Beim Stöbern im Internet finden sich zahlreiche Beispiele für virtuelle 360°-Panoramen und Panoramarundgänge. Immobilienfirmen, Hotels, Ausstellungsveranstalter und viele mehr verschaffen ihren Interessenten von überall aus einen sofortigen Einblick. Mittlerweile gehören diese virtuellen 360°-Panoramen zu den genannten Lehr- und Lernformaten. Diverse Dienstleister sowie auch Softwarelösungen haben sich auf das Format Lernpanoramen spezialisiert. Diese Beliebtheit, Verbreitung und ihr Erfolg erklären den zunehmenden Einsatz der Panoramen auch im Arbeitsschutz.
Der Rundumblick ist der entscheidende Vorteil bei dieser Darstellungsart: Der Betrachter bewegt sich im Panorama in alle Richtungen eines Raumes und gewinnt einen realitätsnahen, räumlichen und vollständigen Eindruck. Es existieren Standbild- oder Videopanoramen, die in der Regel nicht vom Endgerät abhängig sind. Die Navigation im Raum kann in alle Richtungen erfolgen mittels Navigationsleisten, Maus, Tastatur, Bewegen des Endgerätes (sog. Gyrosteuerung) usw.
Die steigende Nutzung von VR-Brillen in den verschiedensten Bereichen lässt auch einen Einsatz im Arbeitsschutz vermuten. Rundgänge durch die Räume eines Arbeitsbereiches sind im Panoramaformat möglich.
Rundum-Bilder sagen so viel mehr
Die Nutzerinnen und Nutzer finden, laut der Zahlen des Industry Benchmark Report von Towards Maturity die bestehenden und dominierenden Learningmodelle zu generisch und zu wenig ansprechend.1 Das sorgt bei den Arbeitnehmern für wenig Akzeptanz. Es besteht also eine steigende Anforderung an E‑Learning, auch aufgrund von mehr Bewusstsein und weiterentwickelten Techniken in anderen Bereichen des World Wide Webs. Die Nutzer wünschen sich individuelle und bedürfnisorientierte Module.
Diesen Erwartungen entsprechen die Unterweisungen in Form von 360°-Panoramen. Die Beschäftigten erfahren dadurch eine hohe Identifikation mit der Tätigkeit sowie des Arbeitsplatzes. Die meist als Last empfundenen Präsenzveranstaltungen der Unterweisungen werden durch E‑Learning ersetzt und erhalten einen positiv wirkenden Erlebnischarakter. Die auf medialer Ebene alteingesessene Lehr- und Lernmethoden werden verändert und weiterentwickelt. Neue Erlebnisse werden geschaffen und somit der Lerneffekt gestärkt. Denn neue und interessante Erfahrungen erleichtern das Lernen.
Besonders stark ausgeprägt ist die Interaktivität. Der Lernende kann ohne die Vorgabe einer strikten Reihenfolge selbst die hinterlegten Informationen entdecken und durcharbeiten. Zwischenfragen fördern das aktive Mitdenken. Starke visuelle Stimuli werden angewendet, um ein Bewusstsein für ein situationsgerechtes Handeln zu erzeugen.
Bei dem Lernenden sollte das Verleiten zum Lean Back Learning bestmöglich vermieden werden, sonst wird das Wissen nur passiv konsumiert. Lean Forward Learning ist dagegen die aktive Teilnahme des Lernenden, das Gelernte wird tiefer verankert. Die Panoramen erreichen somit, dass der Lernende durch Interaktivität aus seinem gewohnten Lean Back Learning zum Lean Forward Learning animiert wird.
Vielfältige Einsatzgebiete von 360°
360°-Panoramen lediglich als Bilder darzustellen ist zu wenig, um den Entdeckergeist zu wecken und somit das Wissen zu festigen, aber ein hervorragender Einstieg in die gewohnte Arbeitsumgebung der Beschäftigten. Im Panorama können Bildbereiche (z.B. einzelne Maschinen, ein Dokument, o.ä.) anklickbar sein, sogenannte Hotspots. Mit ihnen werden Infotexte, Bilder, Videos, Audiodateien, Links, Verzeichnisse oder Dokumente mit wichtigen Informationen und Wissen hinterlegt. Diese bilden die Wissensgrundlage für Sicherheitsunterweisungen, da sich Beschäftigte virtuell in ihren jetzigen oder zukünftigen Arbeitsumgebungen sicher und unfallfrei bewegen können und sollen.
Stellen Sie sich als Beispiel folgende Situation vor:
- Ein virtuelles 360°-Panorama stellt Ihren Arbeitsbereich, ein chemisches Labor, dar. Nun navigieren Sie durch dieses Labor und verschaffen sich einen Überblick. Dort befinden sich wie auch im realen Labor Chemikalien, Labortische, Laborabzüge, Notduschen, Aushänge, usw.. Mit einem Klick auf den Labortisch, gelangen Sie an die zu beachtenden Arbeitsschutzinformationen. An den Maschinen finden Sie die Betriebs- und Prozessanweisungen. Gefährdungsbeurteilungen sind hinterlegt und Verhaltensregeln im Notfall und bei Unfällen angegeben.
Gefährdungsbeurteilungen und Wirksamkeitskontrollen
Von Sicherheitsfachkräften wird eine Beratung und Unterstützung des Unternehmers in allen Fragen der Sicherheit und Gesundheit erwartet. Es gehört zu den meist schwierigen Aufgaben der Sicherheitsfachkräfte bei Gefährdungsbeurteilungen für Tätigkeiten an Orten zu beraten, an denen Zutrittsverbot herrscht, an denen der Betrieb nicht unterbrochen werden darf und besondere gefährliche Bedingungen existieren. In diesen Fällen erleichtern 360°-Panorama-Aufnahmen das Beurteilen. Expertengruppen können die Aufnahme jeder Zeit an jedem Ort einzeln oder gemeinsam ohne Eigengefährdung, Produktionsausfall und Regelverstoß erörtern. Daraufhin kann die Gefährdungsbeurteilung erstellt und die einzelnen Aspekte zielgenau durch Hotspots im Panorama platziert werden. Somit werden die Dokumente unter anderem im Panorama abrufbar.
Bereitstellung von Betriebsanweisungen
Sicherheitsfachkräfte, Führungskräfte oder Beschäftigte denken bei dem Begriff Betriebsanweisung in der Regel an ein ausgehängtes und einseitiges Dokument mit blauem oder orangefarbigem Rahmen.
Lange Bedienungsanleitungen durchzulesen ist im privaten Bereichen obsolet, stattdessen bedient sich besonders die junge Generation an praktischen Erklärvideos. Sie sparen Zeit, alle offenen Fragen werden geklärt und ein zielgenaues Verhalten wird erreicht. Es wäre wünschenswert diese Bequemlichkeit auch in der betrieblichen Praxis zu finden. Fans der Harry Potter-Filme kennen den Tagespropheten, die Zeitung mit bewegten Bilder …
Statt „Abfälle sind dem Abfallbeauftragten zu übergeben.“, veranschaulicht ein kurzes Erklärvideo den Prozess. Damit wird diese Anweisung transparenter und für die Beschäftigten verständlicher. Das gewünschte Verhalten wird erreicht. Dies gilt auch für die weiteren Bestandteile von Betriebsanweisungen. Ein Panoramabild oder ‑film zeigt beispielsweise Standort und Gebrauch der Notduschen oder ähnliches bei einem Unfall im Chemielabor, eine wichtige Hilfestellung für die Helfenden und die verunfallte Person.
Die ersten Schritte im Unternehmen und Ergänzungsoptionen
Mittlerweile existieren One-Shot-Kameras für Panoramaaufnahmen und diverse Software wie beispielsweise Adobe Captivate, mit denen 360°-Panoramen für Unterweisungszwecke im Unternehmen (einfach) selbst erstellt werden können. Es besteht die Gefahr, dass die Module durch die fehlende Erfahrung unausgereift und wenig benutzerfreundlich ausfallen und somit bei den Beschäftigten keine Akzeptanz finden. Empfehlenswert ist eine gewisse eigene Medienkompetenz. Fehlt diese, können spezialisierte externe Anbieter helfen. Aller Anfang ist zwar schwer, aber Übung macht ja bekanntlich den Meister.
Gestartet wird mit der Festlegung eines gemeinsamen Rahmenkonzepts mit Sicherheitsexperten, Führungskräften, Beschäftigten und internen/externen Dienstleistern. Es werden die Lehr- und Lerninhalte sowie die organisatorischen, technischen und die Evaluation betreffenden Aspekte des Moduls festgelegt. Für eine vollständige Unterweisung werden die Lernpanoramen mit Tests, Zertifikaten und Umfragen verknüpft. Die Tests weisen nach, dass sicherheitsgerechtes Wissen erworben wurde. Bei Bestehen erhalten Teilnehmende als Nachweis ein Zertifikat. Eine Umfrage ermöglicht den Teilnehmenden Feedback zu geben und somit an der stetigen Verbesserung der Unterweisung mitzuwirken. Durch die Einbindung dieser Elemente in ein Lernmanagementsystem wird von der Organisation bis zur Durchführung die Teilnahme rechtssicher.
In der folgenden Phase, dem Detailkonzept, werden die Lerninhalte konkretisiert und ausgearbeitet. Testpersonen bewerten in ersten Durchläufen die Unterweisung. Erhaltene Verbesserungsvorschläge werden umgesetzt und die Einführung ins Unternehmen veranlasst.
Weitere Potenziale
Mit der bisherigen Nutzung der Lernpanoramen wird eine Minderung der Gefährdung erreicht, da die Beschäftigten sich mit der Arbeitsumgebung interaktiv und intensiv vertraut machen. Sie haben das Potenzial mehr als eine Unterweisung zu sein, die nur einmal im Jahr benötigt wird. Der Ausbau zum intelligenten Navigationscockpit dient als zusätzliches Nachschlagewerk und der Verhaltenssteuerung. Das Lernpanorama wird zur Rundumlösung und kommt immer häufiger zum Einsatz.
Das Navigationscockpit wird um Prozess‑, Qualitäts- und Wissensmanagement ergänzt. Damit können die Lerntiefe für einzelne Prozessschritte optimiert und fehlerbelastete Prozessschritte behoben werden. Links zu vorhandenen Managementsystemen und Dokumenten im Intranet können ein zielgenaues Auffinden der notwendigen und benötigten Informationen steuern.
Wie ist es, wenn eine Kollegin oder ein Kollege überraschend ausfällt? Wurde dieses intrinsische, explizite Wissen gesichert? Auch in diesem Beispiel ist eine Kombination von Lernpanoramen zur Navigation, als ein Blick über die Schulter hilfreich.
Ganz im Sinne von Edutainment werden Lerninhalte mit spielerischen Komponenten verbunden. Motivation und Identifikation werden durch Neugierde sowie Spannung erzeugt. Daraus resultieren eine hohe Akzeptanz und Nachhaltigkeit– als wichtigste Erfolgsfaktoren.
1 Overton, Laura und Dixon Genny (2015): Embracing Change. Improving Performance of Business, Individuals and the L&D Team. 2015–16 Towards Maturity Industry Benchmark Report. Publiziert im November 2015. Online verfügbar unter: https://towardsmaturity.org/2015/11/05/embracing-change-improving-performance-benchmark/
Autor: Dr.-Ing. Herbert Engel
Arbeitsschutzkoordinator, Sicherheitsfachkraft und Personalentwicklungskoordinator
Fraunhofer-Institut für Nachrichtentechnik, Heinrich-Hertz-Institut, Berlin
B. Sc. Cagla Dinler
Geschäftsführerin Lille Media
Das Fraunhofer HHI
Innovationen für die digitale Gesellschaft von morgen stehen im Mittelpunkt der Forschungs- und Entwicklungsarbeit des Fraunhofer-Instituts für Nachrichtentechnik, Heinrich-Hertz-Institut, HHI. Dabei ist das Institut weltweit führend in der Erforschung von mobilen und optischen Kommunikationsnetzen und ‑systemen sowie der Kodierung von Videosignalen und Datenverarbeitung. Auch im Bereich Arbeitsschutz geht das Fraunhofer HHI mit Unterstützung externer Partner im eigenen Haus neue Wege unter Nutzung moderner elektronischer Medien.
E‑Learning Spezialwissen
Lille Media hat sich auf E‑Learning spezialisiert. Das fachliche Wissen der Sicherheitsexperten wird mit innovativen und abwechslungsreichen E‑Learningformaten verbunden. Es entstehen individuell auf das jeweilige Unternehmen zugeschnittene Lösungen. Neben virtuellen 360°-Panoramen bieten diese weitere Formen von WBTs sowie Erklärvideos an – interaktiv, spannungsgeladen und die Emotionen weckend.