Die bis zum Projektstart (siehe Teil 1 in Sicherheitsingenieur 5/2020) gelebte Kooperationskultur bei den zuständigen Behörden wurde im Rahmen etlicher Meetings kompromisslos neu strukturiert. Die HSE-Philosophie wurde neu definiert und offen kommuniziert, so dass das Verhältnis zum Umweltamt, Amt für Arbeitsschutz, der Baubehörde sowie der Feuerwehr mittlerweile als sehr gut bezeichnet werden kann. Unstimmigkeiten und Missverständnisse konnten durch Offenheit und Einhaltung verbindlicher Zusagen oder Einbindung (z.B. der Feuerwehr) bereinigt werden.
Die gesamte Umstrukturierung des HSE am Standort Peine brachte etliche neu zu klärende Situationen mit sich – zum Beispiel im Fremdfirmenmanagement. Fremdfirmen unterliegen hinsichtlich HSE dem Schwerpunkt der Bringschuld – der Standort dem der Holschuld. Entsprechend mussten sich Fremdfirmen durch Bestätigung eines Vorgabeschreibens unmittelbar allen Vorgaben der Neuregelung „unterwerfen“, für Neukunden ist die Ablehnung der Vorgabe als Blocking Point konsequent umgesetzt worden; keine Akzeptanz – kein Auftrag.
Ebenfalls stellte die unzureichende HSE-Kenntnis der mit der Standorterweiterung extern beauftragten Dienstleister ein Damoklesschwert dar, da Leistungen vielfach nicht HSE-konform erbracht und somit fortwährend nachgearbeitet und zusätzlich koordiniert werden mussten. Hierzu zählten einige Gewerke bezüglich der Planungs- und Baumaßnahmen sowie der Ausführung und Beurteilungen im Brandschutz. Die Brandlast wurde aufgrund des umfangreichen Umgangs mit unterschiedlichen Kunststoffgranulaten als erheblich bewertet. Die Folge war die entsprechende Einstufung zahlreicher Lager- und Verarbeitungsbereiche mit signifikanten Erweiterungen im baulichen und abwehrenden Brandschutz sowie der Hinweis durch den Sachversicherer auf eine empfindliche Anpassung der Versicherungsprämie. Erst aus diesen Rahmenbedingungen resultierende Brandversuche aller verwendeten Kunststoffgranulate unter erheblich übertriebenen Realbedingungen. Sie zeigten auf, dass keiner der am Standort verwendeten Kunststoffe in seiner Beschaffenheit brandfördernde Eigenschaften besaß oder brennbar war. Auch Staubentwicklung im nur annähernd kritischen Bereich konnte nicht nachgewiesen werden, so dass alle entsprechend weitergreifenden und avisierten Restriktionen ausblieben.
Beauftragten-Wesen
Bis zur HSE-Projektierung wurden die Funktionen Brandschutzbeauftragter, Abfallbeauftragter und Sicherheitsbeauftragter funktionell auf eine Person gebündelt. Unternehmerisch sind bei solchem Vorgehen Konflikte und Probleme vorprogrammiert – in Bezug auf Haftung, Arbeitssorgfalt und Interessenkonflikte.
Spätestens bei Urlaub oder Krankheit des „Multi-Beauftragten“ befindet sich der Unternehmer durch eine ausgeprägte Bringschuld zwischen schwer abzugrenzenden, widerstreitenden Haftungsobliegenheiten.
Aufgrund einer Neubewertung der Behörde und Auflagen hinsichtlich geänderter Emissionen wurden nach dem Brandschutzgutachten die Besetzung des Brandschutzbeauftragten an einen externen Dienstleister übertragen und ein Abfallbeauftragter in Zusammenarbeit mit externen Sachverständigen neu qualifiziert.
Die zuständige Aufsichtsperson (auch als TAB, Technischer Aufsichtsbeamter, geläufig) der Berufsgenossenschaft Holz und Metall (BGHM) wurde über die Entwicklungen regelmäßig informiert. Mehrere Konsultationen der Aufsichtsperson erfolgten auch zur Abstimmung einer durch die Mitarbeiter geäußerten Besorgnis über vermeintliche Gefahrstoffexpositionen im Rahmen einer Bestands-Lackanlage. Mehrere Messungen (statisch und dynamisch am Mitarbeiter) führten jedoch zur Entlastung, so dass die in Lackierereien obligatorischen Schutzmaßnahmen unter Einbindung der Mitarbeiter umgesetzt werden konnten und es keiner besonderen Zusatzauflagen bedurfte.
Intern wurde die Zusammenarbeit auch mit dem Betriebsrat (BR) dahingehend intensiviert, dass Begehungen grundsätzlich angekündigt wurden und der BR auch bei kleineren Entscheidungen grundsätzlich eingebunden wurde – zum Beispiel im Rahmen eines täglichen Austauschs.
Die betriebsärztliche Betreuung hingegen wurde aufgrund umfangreich unzureichender Leistungen und Unregelmäßigkeiten nach 15 Jahren durch einen eigenständigen Betriebsarzt ersetzt, so dass auch der medizinische Arbeitsschutz wieder suffizient und zukunftsorientiert arbeitet.
Weitere Prozesse, Abläufe etc., die neu ausgearbeitet wurden, waren zum Beispiel Prüfungen zahlloser Anschlagpunkte nach DGUV, DIN, TRBS und ASR in Zusammenwirkung neuer Lösungen für absturzgefährdete Bereiche oberhalb von Maschinen. Auch die Ausarbeitung neuer Explosionsschutzdokumente (mit Einbindung der Feuerwehr) und die Vergabe der regelmäßigen Regalprüfungen nach DIN sowie die an externe Dienstleister nach der DGUV vorgegebenen Schulungen von Flurförderzeugen fällt in die laufenden Dauerbeschäftigungen.
Die Zunahme von AGV´s (Automatic guided Vehicles (auch „Führerlose Transportsysteme“)) und Robotern am Standort erforderte kontinuierliche Überwachung und Anpassung der Transportsysteme an die unveränderlichen Vorgaben des Werks. Physische Begrenzungen von Robotersystemen war einer der wichtigsten Aspekte, der hier immer wieder als Redundanz installiert wurde, für den Fall, dass die Software versagt – was bereits bei Demonstrationen häufiger vorkam.
Die AGV´s haben unverändert viele Schnittstellen zum Menschen, an denen sensibel gearbeitet werden muss. Während dem Hersteller der Systeme die installierten Tools ausreichend erschienen, wurde unsererseits immer wieder darauf aufmerksam gemacht, wo in der Erkennung und den Verhaltensabläufen des Systems Lücken auffielen – durch einfache physische Tests und Provokationen. Recht banal war zum Beispiel, dass so ein AGV (beladen mit einem Transportregal rund 550 kg schwer) nach einem Not-Aus im Ernstfall zwar anhält, aufgrund seiner programmierten Streckeneinbindung jedoch nicht manuell zu verschieben war. Verbesserungspflichtig, denn wenn das System einen Mitarbeiter aufgrund fehlender Erkennung in einer Ladebucht an die Wand gedrückt hätte, wären die Rettungsmaßnahmen erschwert gewesen.
Im Zusammenhang mit der deutlichen Zunahme der Automatisierung am Standort – insbesondere an Industrierobotern – wurde das 3rd-Party-Prinzip für Maschinen gem. EN 60204–1 für zukünftige Maschinenbestellungen bereits per Auftragserteilung als Bringschuld des Herstellers in dessen Lastenheft übertragen, und Altbestände wurden neu überprüft. Die regelmäßige technische Überwachung des Maschinenparks gemäß Maschinenrichtlinie und DGUV-Vorgaben wurde an einen externen Dienstleister übergeben.
Die Standorte Bremen und Hannover wurden besucht, und deren Arbeitsplätze sind entsprechend der vorgenannten Aspekte in ihren Schwerpunkten beurteilt worden. Weitere Maßnahmen (z.B. in der Maschinenprüfung) wurden auch dort beauftragt, Sicherheitsbeauftragte wurden ausgebildet, und über die Liegenschaftsträger wurde das jeweilige Standortmanagement in reduzierter Form an das neu implementierte Standortmanagement Peine angepasst. Die Außenstellen wurden sukzessive besucht, um die jeweiligen Fortschritte mit den Abteilungsleitern vor Ort abzustimmen.
Neben der (durchaus reduzierten) Gefährdungskomplexität der Außenstandorte war auch das Gefahrstoffkataster (GK) am Standort Peine überarbeitungspflichtig. Der Inhalt war sehr umfangreich, aufgrund seltener Veränderung in der Prozesskette der Kunststoffherstellung sowie klaren Vorgaben in der Rohstoffverarbeitung jedoch wenig dynamisch. Entsprechend wurde das GK in seiner Bestandskartei bzgl. der Gefährdungen angepasst und mit den Sicherheitsdatenblättern sowie Mengenangaben lediglich aktualisiert und wird erst mittelfristig auf das „Einfaches Maßnahmenkonzept Gefahrstoffe“ (EMKG) der BAuA umgestellt.
Eine Medienkennzeichnung war am Standort Peine nahezu unberücksichtigt. Aufgrund der bestehenden Gefahr, die sich durch eine Jahrzehnte alte Strukturanpassung eines Medienflusses ohne Kennzeichnung und Planübersichten ergibt (die BASF-Explosion in 2016 machte die Komplexität deutlich, siehe Sicherheitsingenieur 12/2019, S. 34/35), wurde diese jedoch neu konzeptioniert und noch innerhalb des Projekts in ihrer Umsetzung als laufender Prozess gestartet.
Auffälligkeiten
Neben den bereits erwähnten, immer wieder kritisch zu beurteilenden Schnittstellen in der Mensch-AGV-Interaktion sowie der erheblich abweichenden Fehlbeurteilung vorhandener Brandlasten, hat das Projekt an mehreren Punkten durch einfache, testbezogene Auslöse-Provokation gezeigt, wie wichtig die Überprüfung zahlreicher Abläufe in der Praxis ist. Dies ist insbesondere dann essentiell, wenn es sich um die Angaben externer Dienstleister / Hersteller im Rahmen von Sicherheitsabläufen komplexer Anlagen handelt.
So stand die Übergabe einer Flachbettlackieranlage mit 30 Meter Längenmaß zur Interieurveredelung des Audi Q8 an. Die Resultate im Kontext mit konstruierten „Was passiert, wenn …?“-Fragen bezüglich der Sicherheitsabschaltung von CO2 im Alarmfall waren vernichtend. Der erste Übergabetermin schlug fehl, weil der Mitarbeiter des Herstellers auf fachliche Fragen bestimmter Arbeitsabschnitte keine Auskunft geben konnte. Beim zweiten Termin konnten zwar durch einen neuen Mitarbeiter die einzelnen Abschnitte erklärt werden – jedoch nicht deren Abfolgen im Kontext eines Alarms. Erst beim dritten Übergabetermin war ein weiterer Mitarbeiter in der Lage, die Abschnitte einzeln, im Zusammenspiel und beim Ablauf eines Alarms ausreichend zu erklären. Hier scheiterte es erst, als verlangt wurde, dass ein zuvor theoretisch angenommener Alarmierungsgrund tatsächlich physisch provoziert wurde – die Sicherheitssysteme versagten in der praktischen Vorführung.
Die Analyse des Vorfalls hatte ergeben, dass die für das vorgegebene Notfallkonzept vorgesehenen Schließmechanismen der Lackieranlage untereinander nicht kompatibel waren, weil sich zwei durch den Hersteller verwendete Software-Komponenten nach ihrer Auslösung gegenseitig blockierten. Im Ernstfall wäre der Mitarbeiter in einem CO2-gefluteten Raum erstickt – weil sich zwei Softwarekomponenten nicht vertragen. Die Anlage konnte erst im 4. (!) Anlauf der Übergabe und nach Bereinigung der Softwareproblematik erfolgreich abgenommen werden.
Resümee
Als Fachleute wissen wir um unsere Ausrichtungen gemäß ASiG und weiterer Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften. Auch ist uns bekannt, dass die Vorgaben an den Unternehmer keine freundlich gedachten Einladungen sind, sondern genau das: Vorgaben, die einzuhalten sind.
Seit 2014/15 hat der Arbeitsschutz einen großen Turn-around erfahren; dem Unternehmer wird ein erheblicher Entscheidungsfreiraum ermöglicht; allerdings mit der nicht minder umfangreichen Dokumentationspflicht und der damit einhergehenden Haftung für ihn – und zwar im Ernstfall privat. Allerdings wissen wir auch, dass wir im Verkauf zu 80% den Verkäufer „kaufen“ und nicht das Produkt. Ergo können wir noch so oft den Finger heben und Gesetze rezitieren, wie es geht – wenn ich mein Gegenüber nicht erreiche, wird es meine (gut begründeten) Vorschläge nicht umsetzen; der Arbeitsschutz wird mir nicht abgekauft. Offenheit und Verbindlichkeit, Zuhören und empathisches Vorgehen helfen, die Rahmenbedingungen einer einheitlichen Sprache zu schaffen, und BBS – also erst die Sensibilisierung und Einbindung der Mitarbeiter aller Ebenen — ermöglicht eine hohe Akzeptanz in der Maßnahmeumsetzung.
Die Mitarbeiter bei faurecia haben verstanden, dass Arbeitsschutz kein gesetzesbasierendes Verbotsmanagement ist, sondern ihnen die einmalige Chance gibt, den eigenen Arbeitsplatz mit zu gestalten. Und die Führungskräfte wissen jetzt, für was sie wann haften und wofür der Arbeitsschutz im Hause „gut“ ist.
Das Projekt sollte nach ca. 2.000 Stunden externer HSE-Leistung binnen eines Jahres umgesetzt sein. Im laufenden Projekt entschied man sich zugunsten der Qualität in der Übergabe von einem harten Cut Abstand zu nehmen. Unter Einhaltung des Stundenvolumens beschloss man zusammen, die Übergabe an den internen Folgemanager HSE bereits nach rund neun Monaten im Background zu beginnen und binnen weiterer neun Monate zunehmend auslaufen zu lassen. Ziel war eine längere Zugriffsmöglichkeit auf den noch präsenten, externen Dienstleister und eine durch Verantwortungszunahme in der Einarbeitung des Nachfolgers zu sehende, schleichende „Entwöhnung“ unter real laufenden Produktionsanforderungen. Der Erfolg ist ein Standort,
- der rund 85 Prozent der vorgeschlagenen Sicherheitsmaßnahmen kurzfristig umsetzt,
- der binnen eines Jahres von erreichten 10 Prozent der Zielvorgaben der europäischen HSE-Audits auf 100 Prozent gestiegen ist und
- der mit seinen Maßnahmen mittlerweile durch die BGHM prämiert wird (HSE-Dojo im Werk zur Nutzung für Ein- und Unterweisungen und Schulungen durch alle Mitarbeiter).
Kurzum: ein Standort, der eine gesunde HSE-Struktur vorweist und zu einem europäischen Referenz-Modell seiner Branche im Arbeitsschutz geworden ist.
Autor: Arne Koss
Sachverständiger, Coach & Trainer
(DGUV-zert.) für Arbeitssicherheit, Gesundheitsschutz,
Notfallmanagement
E‑Mail: post@sikono.de
Kevin Krause, die neue Sifa am Faurecia-Standort Peine: „Mir hat dieser Projektverlauf gezeigt, wie abhängig HSE von einer Teamarbeit aller Beteiligten ist und welche Stellenwerte die Verhaltens-Sensibilisierung (Behavior based safety) und Einbindung der Mitarbeiter für die Nachhaltigkeit besitzen. Es gab viele konzerninterne Restriktionen, die die Anpassung an deutsche Vorgaben erheblich erschwerten. Zusammen mit den Altlasten aus der historisch geprägten Personalfluktuation unserer HSE-Abteilung, eine echte Herausforderung. Auch die unmittelbare Kundenabhängigkeit der Automobil-Zulieferindustrie forderte schon im Tagesgeschäft höchste Flexibilität und permanente Anpassung ein. Das von der Werkleitung proaktiv gelegte Fundament, HSE am Standort „gesund machen zu wollen“, zog eine unmittelbare Neuschulung all unserer Führungskräfte und der Qualifizierung von 18 neuen Sicherheitsbeauftragten durch Arne Koss nach sich. Durch diese Rahmenbedingungen und Sensibilisierung aller Ebenen konnte unser Werk zu dem werden, was es jetzt ist: ein Referenzstandort in HSE für Konzern und BG mit in sich redundanten Sicherheitsabläufen.“