Bayer wurde im Jahre 1863 in Wuppertal-Elberfeld gegründet und startete mit einem übersichtlichen Portfolio: der Entwicklung und Produktion von Fuchsin- und Anilin-Farbstoffen. In den ersten 20 Jahren entwickelte sich die Mitarbeiterzahl von einer knappen Handvoll auf über 300. Heute hat der Konzern rund 100.000 Beschäftigte in 300 Gesellschaften in 100 Ländern über den Globus verteilt.
Schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt in der Unternehmensgeschichte spielten Gesundheit und Sicherheit eine maßgebliche Rolle mit dem Anspruch, aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen und „best in class“ zu sein. Meilensteine waren unter anderem
- die erste Unfallstatistik (1930),
- die erste computergestützte Datensammlung über Unfallereignisse auf Lochkarten (1964) oder
- der erste Sicherheitswettbewerb für Mitarbeiter (1975).
Die Entwicklung der Arbeitssicherheit bei Bayer erfolgte grob klassifiziert in drei Evolutionsschritten:
- In den ersten Dekaden der Unternehmensgeschichte waren die Maßnahmen ausschließlich reaktiv und kalkulativ und konzentrierten sich auf die Verbesserung des technischen Systems. In den Gründerjahren ging es um die richtigen Werkzeuge und Maschinen, mit denen im tayloristischen Sinne nicht nur effizient, sondern auch sicher gearbeitet werden konnte.
- In den 1970er und 80er Jahren wurden neben der Optimierung des technischen Systems immer mehr auch organisationale Schwerpunkte gesetzt: Sicherheitsmanagementsysteme (wenngleich noch sehr rudimentär), Humanisierung der Schichtarbeit, Arbeitszeitgestaltung und auch schon erste Schritte in Richtung sicherheitsorientierte Führung. Punktuell gab es auch schon Seminare und Trainings zu „Sicherem Verhalten“, jedoch nur vereinzelt und nicht als zentrales und systematisches Programm.
- Dies änderte sich im Jahr 2014: Die Ereigniszahlen (unter anderem Recordable Incident Rate, RIR) hatten sich seit einigen Jahren auf einem guten Niveau stabilisiert und man gelangte zu dem Schluss, dass die Verbesserungspotenziale im technischen und organisationalen System ausgeschöpft waren. Die unternehmenseigenen Experten wurden beauftragt, das Arbeitssicherheitskonzept zu überarbeiten. Dem wissenschaftlichen Diskurs folgend, sollte der im Mittelpunkt stehende Mensch stärker fokussiert und vor allem hinsichtlich des Gesundheits- und Sicherheitsverhaltens unterstützt werden – durch ein abgestimmtes Zusammenspiel von verhältnis- und verhaltenspräventiven Maßnahmen sollte das erstarrte gute Sicherheitsniveau noch weiter optimiert werden. Das Bayer Safety Council folgte dem Vorschlag der Expertengruppe und fasste den Beschluss, das Behavioral Based Safety (BBS) als dritte Säule neben Technik und Organisation aufzubauen, das Konzept zu pilotieren und anschließend global auszurollen. Der Roll-out wurde 2019 abgeschlossen, so dass aktuell der Übergang von der Implementierung zur Konsolidierung erfolgt.
Worum es geht
„Consuetudo est quasi altera natura!” – was Cicero vor 2.000 Jahren postulierte, dass die Gewohnheit wie eine zweite Natur des Menschen sei, fasst unser alltägliches Beobachtungserleben zusammen und wird von den modernen Verhaltenswissenschaften untermauert:
- Gewohnheiten und Routinen laufen fast automatisch ab und werden häufig nicht reflektiert – hierdurch erst ist die Komplexität unserer Lebensumwelt zu bewältigen.
Ein Verhalten, das positive Folgen für uns hat und das wir häufig wiederholen, hat die beste Chance, schnell zur Gewohnheit zu werden (vgl. Tversky & Kahnemann, 1974) – hierbei handelt es sich um das operative Konditionieren, einem Grundprinzip des Lernens, das im BBS auf der Individual- und Teamebene umgesetzt wird.
Neben der Individual- und Teamebene muss allerdings auch die Gesamtorganisation Berücksichtigung finden: Wie lässt sich sicherheits- und gesundheitsgerechtes Verhalten fördern, unternehmenskulturell verankern und so nachhaltig eine gute Sicherheits- und Gesundheitsperformance erzielen? Elke (2000) empfiehlt dazu zwei Umsetzungsstrategien: Zum einen das „Lenken durch explizite Regeln“ – zum Beispiel durch Sicherheitsmanagementsysteme, Entwicklung von Standards und Regularien sowie gesundheits- und sicherheitsorientierte Personalführung – und zum anderen das „Gestalten und Entwickeln durch implizite Regeln“, die der Kulturentwicklung dienen.
Während die Installation expliziter Regeln in hierarchischen Organisationsformen noch relativ einfach möglich ist, da hier von oben nach unten gesteuert wird, bedarf es bei der Anwendung impliziter Regeln des Aufbaus eines kontinuierlichen Gesundheits- und Sicherheitsdialogs und einer partizipativen Einbindung aller Beteiligten (Steuerung von oben nach unten und umgekehrt).
In der Arbeitswelt werden Gesundheit und Sicherheit häufig immer noch separiert voneinander abgebildet, obwohl die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Themenfeldern um ein Vielfaches größer sind als die Unterschiede. Bei Bayer tragen wir diesen „arbeitsweltlichen Gesetzmäßigkeiten“ dadurch Rechnung, dass wir Gesundheit und Sicherheit in unseren Regularien verknüpfen, immer mehr gesundheits- und sicherheitsförderliche Maßnahmen im Verbund anbieten und auch den Kulturbegriff so definieren, dass wir von einer „Präventionskultur“ sprechen und diese wie folgt übersetzen:
- „Alles, was wir sagen und tun, erhöht oder verringert die Gesundheits- und Sicherheitsrisiken.“
Den Transfer der stuktur- und kulturgestaltenden expliziten und impliziten Regeln haben wir in unserem BBS-Programm „Sicher im Team“ (SiT) konkret operationalisiert:
- Explizite Regeln: Setzen klarer Ziele, Definieren von Verantwortlichkeiten und Befähigung der Verantwortungsträger, Monitoring von Maßnahmen sowie Feedbackgeben – mit vorrangig positiven, gegebenenfalls aber auch mit negativen Konsequenzen.
- Implizite Regeln: Trainings für Führungskräfte und Mitarbeiter zum Aufbau eines kontinuierlichen Präventionsdialogs: regelmäßiger Austausch, Feedbackgeben im Team zur positiven Verstärkung. Alle Mitarbeiter werden eingebunden, und die Führungskräfte werden hinsichtlich ihrer Führungsrolle sensibilisiert.
Vorgehen und Erfahrungen
Von 2014 bis 2016 wurde das Programm „Sicher im Team“ (SiT) geplant und vorbereitet (Konzeptplanung, Pilotierung in repräsentativen Subgruppen mit circa 100 ausgebildeten internen Trainer*innen und 1.700 involvierten Mitarbeiter*innen, Konzeptanpassung und Vorbereitung des Roll-outs), von 2017 bis 2019 fand der globale Roll-out statt. Mit dem Ende der Implementierung wurde 2020 aus dem „Projekt SiT“ ein fester Bestandteil der Präventionsarbeit bei Bayer. Die hierfür notwendigen Konsolidierungsstrategien werden aktuell umgesetzt.
Im Rahmen einer wissenschaftlich begleiteten Evaluation werden Treiber- und Barrierefaktoren an den Standorten identifiziert, um daraus lernen und das SiT optimieren zu können. Die Frage nach den Zusammenhängen zwischen SiT und objektiven Kennzahlen wie RIR und subjektiven Kennzahlen wie Einstellungs- und Verhaltensparameter werden in der Evaluation mitbetrachtet (vgl. Uhle & Treier, 2019).
Die Projektsteuerung erfolgt zentral, die Operationalisierung vor Ort dezentral: In einem quartärlich tagenden globalen Steering Committee werden die strategische und inhaltliche Richtung nachverfolgt und gegebenenfalls korrigiert. Ein Projektleiter koordiniert und überwacht im monatlichen Turnus mit Unterstützung der regionalen HSE-Leiter den globalen Fortschritt des SiT-Programms. Über ein internes Trainernetzwerk (Train-the-Trainer-Konzept) wird die Implementierung und Konsolidierung gewährleistet.
Der gewählte SiT-Ansatz entspricht einem systematischen Vorgehen, dass in Abbildung 1 dargestellt ist. In fünf Schritten wird SiT an jedem Standort eingeführt:
- Safety Culture Assessment: Zu Beginn wird die vorhandene Präventionskultur am Standort über Assessments erfasst und bewertet. Methodisch kommen hier Interviews, Begehungen und Audits zum Einsatz. Die Bewertung findet über elf Dimensionen statt – unter anderem Führungskultur, Vertrauenskultur oder die Erhebung proaktiver Indikatoren. Das Bewertungsergebnis der Präventionskultur kann „in den Anfängen“, „in der Entwicklung“ oder „voll ausgereift“ lauten, was einen sofortigen Programmstart bedeutet oder zuvor die Erledigung einiger „Hausaufgaben“ verlangt. Die theoretische Herleitung des Assessment erfolgte über das Safety Culture Maturity Model (vgl. Westrum, 1991; Hudson et al., 2000).
- Design Workshop: Der Standortleitung, lokalen HSE-Akteuren und Arbeitnehmervertretern werden die Assessmentergebnisse präsentiert und das weitere Vorgehen wird gemeinsam diskutiert sowie inhaltlich und zeitlich festgelegt.
- Qualifizierungsprogramm: Für unterschiedliche Zielgruppen werden passende Informations- und Trainingsprogramme angeboten – unter anderem „Executive & Senior Leadership“ für das obere Management und „Behavioral Safety Lone Workers“ für Beschäftigte, die ihre Arbeitsaufgabe größtenteils in Einzelarbeit erledigen. Zwischen 15 und 25 Prozent der Beschäftigten eines Standorts werden für die konkrete Umsetzung des SiT qualifiziert: Führungskräfte werden befähigt, das sichere Verhalten der Mitarbeiter zu unterstützen. In sogenannten „Touchpoints“ findet täglich in nur zwei bis drei Minuten eine kurze Betrachtung zuvor definierter Verhaltensweisen statt und in wöchentlichen „Debrief Sessions“ werden gute Beispiele aus den Touchpoints vorgestellt und im Feedback positiv verstärkt. Die involvierten Mitarbeiter werden in Core Teams zusammengefasst, in denen gesundheits- und sicherheitsrelevante Verhaltensweisen definiert werden und das positive und konstruktive Feedbackgeben trainiert wird.
- Umsetzung: Die Core Teams wählen zu Beginn maximal drei sicherheitsrelevante Verhaltensweisen aus – zum Beispiel „Trage beim Staplerfahren Sicherheitsgurte!“ oder „Bleibe stehen, wenn Du auf Dein Smartphone schaust!“ –, deren Umsetzungen dann täglich in Fremd- oder Selbstbeobachtung per Strichliste oder der SiT-App dokumentiert werden. Ziel ist es, sicherheitsgerechtes Verhalten durch positives Feedback zu verstärken und zu sicheren Gewohnheiten zu machen.
- Evaluation: Während in der Implementierung (bis 2019) monatlich zentral der Trainingsfortschritt sowie die Effekte des SiT in Form der Safe-Habit-Rate erfasst wurden, werden in der Konsolidierung (ab 2020) die Auswirkungen des SiT-Programms auf der individuellen Einstellungs- und der organisationalen Kulturebene mithilfe einer standardisierten Mitarbeiterbefragung erfasst (Uhle & Köppel, 2020).

Foto: Bayer AG
Fazit und Erkenntnisse
Das SiT wurde in den Gesundheits- und Sicherheitsprogrammen fest verankert. In den Unternehmensregularien wurden verbindliche Umsetzungserwartungen definiert, ebenso finden sich Verhaltensaspekte in den Methoden zur Gefährdungsbeurteilung. So wichtig die Verstärkung eines sicherheitsgerechten Verhaltens ist, was auch den Schwerpunkt des SiT ausmacht, – es ist genauso wichtig, sicherheitswidriges Verhalten konsequent zu sanktionieren.
In einer globalen Evaluation des Gesamtprogramms 2019 / 2020 wurden unter anderem folgende Verbesserungspotenziale betont:
- Noch stärkere Einbindung des Managements und der direkten Führungskräfte durch beispielsweise methodisches Coaching und Guidelines.
- Einbindung des Programms in vorhandene Strukturen und Prozesse wie beispielsweise die Nutzung bereits vorhandener Dashboards in der Produktion und thematische Erweiterung regelmäßiger Sitzungen zum Gesundheitsmanagement um das Thema SiT.
- Promotion und internes Marketing über bereits vorhandenen Informationskanäle.
Literaturhinweise
- Elke, G. (2000). Management des Arbeitsschutzes. Wiesbaden: DUV.
- Hudson, P.T.W. & Willekes, F.C. (2000) The Hearts and Minds project in an operating company: Developing tools to measure cultural factors. In Proceedings SPE International Conference on Health Safety and Environment in Oil and Gas Exploration and Production. Richardson TX: Society of Petroleum Engineers.
- Tversky, A. & Kahnemann, D. (1974). Judgement under Uncertainty: Heuristics and Bias. In: Science, 185, p. 1124–1131.
- Uhle, T. & Köppel, G. (2020). Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung: effizient, partizipativ & motivierend. In: R. Trimpop, A. Fischbach, I. Seliger, A. Lynnyk, N. Kleineidam & A. Große-Jäger (Hrsg.). Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit – Gewalt in der Arbeit verhüten und die Zukunft gesundheitsförderlich gestalten. (S. 281–284). Kröning: Asanger Verlag.
- Uhle, T. & Treier, M. (4. Aufl.), (2019). Betriebliches Gesundheitsmanagement. Heidelberg: Springer.
- Westrum, R. (1991). Cultures with requisite imagination. In: J. Wise, D. Hopkin & P. Stager (Eds.) Verification and Validation of Complex Systems: Human Factors Issues. Berlin: Springer-Verlag.