Jede Handlung, Begebenheit oder jedes Verhalten, wodurch eine Person bei der Arbeit bedroht, schwer beleidigt, verletzt oder verwundet wird, gilt als Gewalt am Arbeitsplatz, so die Definition der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und der Europäischen Union (EU). Die ILO stellte zu ihrem 100-jährigen Bestehen im Jahr 2019 den Handlungsbedarf auf diesem Gebiet heraus und verabschiedete dazu ein neues Übereinkommen. Demzufolge stellen Gewalt und Belästigungen in der Arbeitswelt eine Menschenrechtsverletzung dar, die mit menschenwürdiger Arbeit nicht vereinbar ist.
In der Wissenschaft unterscheidet man zwischen personaler und struktureller Gewalt. Strukturelle Gewalt geht von gesellschaftlichen Bedingungen aus, unter denen Menschen leben. Dazu zählen in der Arbeitswelt zum Beispiel permanenter Zeitdruck oder schlechte Arbeitsbedingungen.
In diesem Spezial geht es jedoch ausschließlich um Gewalt, die von Personen ausgeht und die sich auf physischer (körperlicher) und/oder psychischer (seelischer) Ebene äußert beziehungsweise auswirkt.
Sichtbare und unsichtbare Folgen
Die Folgen von körperlicher Gewalt sind offensichtlich: Einen Schlag und einen Schmerzensschrei kann man hören. Die Verfärbung der Haut nach einer Gewaltverletzung ist tagelang sichtbar. Anders ist das bei verbaler Gewalt: Beleidigungen oder Drohungen werden im Gespräch oder Telefonat oft ohne Zeugen geäußert. Ihre Auswirkungen sind zudem nicht unmittelbar erkennbar. Auch die neuen Formen von Gewalt, die durch die digitalen Medien hinzugekommen sind, verursachen primär keine körperlichen Schäden. Seelische Verletzungen und Wunden, die Worte und Bilder verursachen können, sind nicht sichtbar.
Konflikt – Aggression – Gewalt
Im Zusammenhang mit Gewalt werden häufig die Begriffe Aggression oder Konflikt benutzt. Wie hängen sie zusammen? Konflikte entstehen, wenn unterschiedliche Interessen, Bedürfnisse, Ziele oder Wertvorstellungen aufeinandertreffen. Konflikte sind Teil des menschlichen Zusammenlebens. Konflikte können zu Gewalthandlungen führen. Doch nicht der Konflikt an sich löst Gewalt aus, sondern der falsche Umgang damit. Wird ein Konflikt „unter den Teppich gekehrt“, also verdrängt, oder wird dazu geschwiegen, schwelt er weiter. Im „Untergrund“ machen sich dann Widerstände und Aggressionen breit. So kann es aus scheinbar „heiterem Himmel“ zu einem Gewaltausbruch kommen. Bereits eine Nichtigkeit kann zum Auslöser werden. Deshalb ist es wichtig, Konflikte anzusprechen, konstruktiv zu bearbeiten und zu lösen.
Aggression ist eine Vorstufe der Gewalt. Der Begriff kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „an eine Sache herangehen“ oder „etwas in Angriff nehmen“. Beim Sport kann man aggressives Verhalten zum Beispiel beim Handball erleben. Hier muss der Drang, ein Tor zu erzielen, erkennbar sein, da im anderen Falle die gegnerische Mannschaft wegen Zeitspiel den Ball erhält. Schlägt die Aggression jedoch in Gewalt um, nimmt sie eine Form an, die sozial nicht akzeptabel ist. Beim Handball wird solch ein Verhalten mit einem Freiwurf, einer gelben oder roten Karte oder einer Zeitstrafe geahndet.
Gewalt in der Arbeitswelt
Die Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft hat in jüngerer Zeit zugenommen. Das hat auch Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Laut Statistiken der Unfallversicherungsträger treten vermehrt aggressive Handlungen als Unfallursache auf. So ist die Zahl der Gewaltunfälle bei der Arbeit von 2011 bis 2016 um 22 Prozent gestiegen. 2016 wurden 10.432 Arbeitsunfälle durch Einwirkung von psychischer oder physischer Gewalt gemeldet. Das waren 1,4 Prozent aller meldepflichtigen Unfälle. Und das sind nur die Fälle, die mehr als drei Tage Arbeitsunfähigkeit nach sich ziehen. Die Zahl der nicht meldepflichtigen Gewaltereignisse ist wesentlich höher.
Gewalt am Arbeitsplatz: Gefährdete Berufssparten
Laut der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA) müssen über 57 Prozent der Beschäftigten in der Europäischen Union (EU) mit schwierigen Personen umgehen. Jeder zehnte ist bei der Arbeit physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt.
Betroffen von Gewaltattacken, oft verbunden mit körperlicher Gewalt, sind besonders Pflegekräfte – vor allem in psychiatrischen Kliniken –, Mitarbeiter im öffentlichen Transportwesen, Kassierer, Polizisten und Sicherheitspersonal, zunehmend aber auch Rettungssanitäter. Zugenommen haben die Überfälle in Spielhallen ebenso wie die Angriffe auf Mitarbeiter in Sozial‑, Ausländer- oder Justizbehörden. Selbst in Call-Centern trifft unhöfliches und beleidigendes Verhalten die Mitarbeiter oft heftig.
Nicht nur der Kontakt mit schwierigen Klienten, Kriminellen oder Drogenabhängigen erhöht das Sicherheitsrisiko. Auch wer alleine oder nachts arbeitet, ist verstärkt gefährdet. Und Mobbing-Attacken, sexuelle Belästigungen sowie aggressives Verhalten von Kollegen oder Vorgesetzten gibt es in allen Branchen und auf allen Ebenen.
Neue Formen von Gewalt
Mit Nutzung des Computers und Handys haben sich neue Formen von Gewalt entwickelt. Von „Cyberbullying“ spricht man, wenn in SMS, E‑Mails oder in Chatrooms Personen verleumdet, bedroht oder belästigt werden. Cyberbullying ist also eine digitale Form von Mobbing. Mit „Snuffing“ bezeichnet man Situationen, in denen vor laufender Kamera Menschen grausam verletzt oder getötet werden. Die Videos werden anschließend im Internet verbreitet und Unbeteiligte dadurch „gezwungen“, sie anzuschauen. Beim „Shitstorm“ handelt es sich laut Duden um einen „Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht“. Die verbalen Angriffe werden häufig anonym oder unter einem Pseudonym durchgeführt. Geht ein Shitstorm viral, wie es in der digitalen Welt heißt, kann eine Person bis zu Tausenden Hassbotschaften erhalten.
Definition der WHO
Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert Gewalt in dem Bericht „Gewalt und Gesundheit“ (2002) folgendermaßen: „Gewalt ist der tatsächliche oder angedrohte absichtliche Gebrauch von physischer oder psychologischer Kraft oder Macht, die gegen die eigene oder eine andere Person, gegen
eine Gruppe oder Gemeinschaft gerichtet ist und die tatsächlich oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt.“