Die Gefährdungsbeurteilung gilt als zentrales Element im Arbeitsschutz. Sie ist keinesfalls nur eine formelle gesetzliche Verpflichtung, sondern wichtiges Werkzeug zur Beurteilung der beruflichen Einwirkungen auf den Menschen. Ziel aller Präventionsmaßnahmen ist die Vermeidung von Betriebsunfällen, arbeitsbedingten Erkrankungen und persönlichen Fehlbelastungen. Mehr noch: Immer häufiger steht die Gesundheit der Mitarbeiter im Fokus der Arbeitsschutzanalysen. Es ist deshalb sinnvoll, sich den Gesundheitsbegriff der Weltgesundheitsorganisation (WHO) noch einmal ins Gedächtnis zu rufen: „Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“
Die Gesunderhaltung und Gesundheitsförderung der Beschäftigten geht damit deutlich über das bisherige Arbeitsschutzverständnis hinaus. Beleg dafür ist das neue Ausbildungskonzept für Fachkräfte für Arbeitssicherheit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) – offiziell als „Sifa-Ausbildung“ bezeichnet (die Kurzform Sifa steht für Sicherheitsfachkraft).
- Neben dem klassischen Gesundheitsschaden-Modell und dem
- Belastungs-Beanspruchungsmodell wird nun ein weiteres Modell genutzt:
- das systematische Anforderungs-Ressourcen Modell.
Ziel des neuen Modells ist die menschengerechte Arbeitsgestaltung. Die sich wechselseitig beeinflussenden Einwirkungen und Ressourcen sollten möglichst in einem ausgewogenen Verhältnis zueinanderstehen. Einwirkungen und Ressourcen können dabei externe oder interne Quellen haben (siehe Tabelle auf Seite 26).
Ganzheitlicher Ansatz mit drei Stoßrichtungen
Die DGUV verfolgt bei der Gefährdungsbeurteilung zunehmend einen ganzheitlichen Ansatz. Nicht die Anwendung einer einzelnen Methodik wird empfohlen, sondern das Benutzen aller drei Betrachtungsweisen. Hierfür ist im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung zuerst das Arbeitssystem zu begutachten. Ist dieses klar definiert und hinreichend beschrieben, werden die auf den Menschen gerichteten Einwirkungen, nämlich
- Gefährdungen
- Belastungen und
- Ressourcen
näher betrachtet. Mit spezifischen Methoden – auf die hier wegen des erheblichen Umfangs nicht näher eingegangen wird – erfolgen die jeweiligen Teilbeurteilungen. Durch das Zusammenführen der Teilergebnisse ergibt sich letztendlich das Gesamtergebnis, die Gefährdungsbeurteilung des Arbeitssystems. Bestandteile der gesamten Gefährdungsbeurteilung sind
- das Unfallrisiko (Risiko = Eintrittswahrscheinlichkeit x Schadensausmaß),
- die Beanspruchung (das heißt die Reaktion des menschlichen Körpers auf eine äußere Belastung) und
- das Ressourcen-Potenzial (das heißt das Vorhandensein und die Nutzung gesundheitlicher Ressourcen).
Neues Vorgehen bei der Gefährdungsbeurteilung
Neu ist zudem die Vorgehensweise. Der bisherige „Handlungskreis der Gefährdungsbeurteilung“ könnte schon bald durch die neun Prozess-Schritte – wie in der neuen Sifa-Ausbildung gelehrt – abgelöst werden:
1. Arbeitssystem erfassen
2. Einwirkungen ermitteln
3. Einwirkungen beurteilen
4. Arbeitsschutzziele setzen
5. Gestaltungsziele setzen
6. Gestaltungsalternativen entwickeln
7. Gestaltungslösungen auswählen
8. Gestaltungslösungen umsetzen
9. Wirksamkeitskontrolle
Es bleibt abzuwarten, wie sich das neue Konzept in die Praxis umsetzen lässt. Beim Anwenden der Methoden müssen sicherlich Größe, Struktur und Kultur der Unternehmen berücksichtigt werden. Überarbeitete Handlungshilfen der Berufsgenossenschaften, Unfallkassen oder Fachverbände (zum Beispiel VDSI – Verband für Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz bei der Arbeit) könnten entscheidende Impulse für die offensichtlich notwendige Neuausrichtung der Gefährdungsbeurteilung liefern.
Gesundheitsschutz im Fokus
Unternehmen analysieren schon seit einiger Zeit nicht nur Unfallgefahren, sondern immer häufiger auch Aspekte der Gesunderhaltung und der Gesundheitsförderung. Das Beurteilen psychischer Belastungen bei der Arbeit ist mittlerweile integrativer Bestandteil der Gefährdungsbeurteilung. Die aktuelle Sifa-Ausbildung der DGUV wird diesem modernen Arbeitsschutzansatz gerecht und rückt den Gesundheitsschutz in den Fokus ihrer Modelle und Methoden. Möglicherweise schädliche Einwirkungen auf den Menschen werden zukünftig als die Summe aus Gefahr, Belastung und Ressource verstanden.
Schlussfolgerung: Es wird spannend!
Alle drei Einwirkungsarten (Gefährdungen, Belastungen und Ressourcen) sollen getrennt voneinander betrachtet und einzeln beurteilt werden. Der bekannte Prozess der Gefährdungsbeurteilung wird vermutlich nicht mehr haltbar sein. Viele aktuelle Arbeitsplatzanalysen müssen voraussichtlich dem aktuellen Stand der arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse angepasst beziehungsweise entsprechend überarbeitet werden. Welche Position die einschlägigen Institutionen und Fachverbände in Zukunft einnehmen werden, bleibt abzuwarten. Als Sicherheitsbeauftragter dürfen Sie sich auf interessante Diskussionen im eigenen Betrieb freuen.
Die drei Modelle
- Gesundheitsschaden-Modell: Das Augenmerk liegt auf den gesundheitsschädigenden Einwirkungen, die beim Menschen zu einer Verletzung oder arbeitsbedingten Erkrankung führen können.
- Belastungs-Beanspruchungs-Modell: Eine objektive Belastung kann zu einer individuellen Beanspruchung beim Menschen führen. Beanspruchungen können positive oder negative Folgen von äußeren Belastungen sein.
- Anforderungs-Ressourcen-Modell: An den Menschen werden berufliche Anforderungen gestellt, denen interne und externe Ressourcen gegenüberstehen. Ein ausgewogenes Verhältnis von Anforderungen und Ressourcen führt langfristig zur Gesunderhaltung beziehungsweise Gesundheitsförderung (siehe die schematische Darstellung unten auf dieser Seite).