Kaum ein anderes Schlagwort hat in den vergangenen Jahren im Rahmen der fortschreitenden gesellschaftlichen Technisierung und Digitalisierung eine derart (populär)wissenschaftliche Bedeutung erfahren wie „Industrie 4.0“. Dahinter verbirgt sich der Gedanke einer Effizienzsteigerung im Produktionsablauf durch neuste Netzwerk- und Softwaretechnik bei gleichzeitigem Verzicht auf bislang als strukturell bedeutsam geltende Arbeitstätigkeiten, ‑aufgaben und ‑abläufe. Auf dem Weg dorthin ergeben sich bedeutsame Folgen für den betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz. Aber – welche sind das eigentlich?
Um aktuelle und kommende Herausforderungen näher zu beleuchten, stellt dieser Artikel die Ergebnisse zweier Studien des arbeitsmedizinischen Institutes des Universitätsklinikums Düsseldorf vor (Angerer et al. 2018; Diebig et al. 2018). Diese Ergebnisse werden mit Erfahrungen aus der betrieblichen Praxis der thyssenkrupp Steel Europe AG veranschaulicht. Spezifisch wird auf neuartige Belastungssituationen durch
- Bildschirmkontrolltätigkeiten,
- Mensch-Roboter-Interaktionen und
- Überwachung der Arbeitsleistung
eingegangen und es wird beschrieben, welche Folgen dies für den Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung hat.
Arbeitswandel als stetiger Begleiter
Im Handelsblatt podcast „disrupt“ vom 05.07.2019 hat Roland Busch, Vorstandsmitglied und Chief Technology Officer der Siemens AG, seine Vision einer digitalen, autonomen und weitestgehend menschenleeren Industrie geschildert. Demnach sollen voll automatisierte, digital vernetzte Roboter und andere Maschinen eine hocheffiziente Produktion von Gütern gewährleisten, die nur noch teilweise von Menschen überwacht wird. Auch wenn es bis dahin sicher noch ein weiter Weg ist, wird der Weg an sich längst gegangen.
Solche grundlegenden Veränderungen haben weitreichende Auswirkungen auf die in Zukunft nötigen Qualifikationen, Arbeits- und Prozessabläufe sowie die Arbeitsbedingungen im Allgemeinen. Der Begriff aus der wissenschaftlichen Literatur, der diese Arbeitsweltveränderung aus einer Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven beschreibt, wird als Wandel der Arbeit bezeichnet.
Dabei ist der Wandel der Arbeit an sich kein neues Phänomen, sondern ein zwangsweise stetiger Veränderungsprozess, der an die jeweils aktuellen gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen geknüpft war und ist. Mit diesem Wandel der Arbeit gingen und gehen Auswirkungen von Arbeitstätigkeiten und ‑abläufen auf den Menschen einher, die Gegenstand arbeitsmedizinischer und arbeitspsychologischer Analysen und Untersuchungen sind.
Der Wandel zur Industrie 4.0 stellt neue Anforderungen an die Beschäftigten, die Fertigkeiten im Umgang mit neuen Systemen und Technologien erwerben und gleichzeitig flexibler auf Produktionswechsel und Organisationsanpassungen reagieren müssen. Durch die stark softwarebezogene Vernetzung entlang der gesamten Wertschöpfungskette entsteht ein enormer, sich selbst steuernder Datenaustausch zwischen allen Elementen, der die Anpassungsfähigkeit des Produktionssystems stark verbessert.
Im Zentrum dieser Entwicklung stehen sogenannte cyberphysische Systeme (CPS), die ihre Umwelt sensorisch erfassen und mit ihr kommunizieren können. Beschäftigte, die im Rahmen dieser industriellen Fertigung tätig sind, arbeiten vornehmlich an der Mensch-Maschine Schnittstelle und überwachen und steuern das CPS am Bildschirm. Roboter oder Software können hierbei als intelligente Assistenzsysteme nicht nur die Produktion, sondern auch Beschäftigte bei ihrer Tätigkeit unterstützen. In diesem Falle spricht man von einer besonderen Form der Mensch-Maschine-Schnittstelle, der Roboter-Mensch-Interaktion.
Darüber hinaus werden im Rahmen dieser Tätigkeit Daten erzeugt und ausgewertet, die wiederum als Information in das Kommunikationssystem eingespeist werden. Diese Daten enthalten folglich auch Informationen über die Arbeitsleistung der Beschäftigten, die wiederum von anderen Stellen aus kontrolliert oder interpretiert werden können. Die genannten Schwerpunkte Bildschirmkontrolltätigkeiten, Mensch-Roboter-Interaktionen und Überwachung der Arbeitsleistung sollten im Arbeits- und Gesundheitsschutz der Zukunft stärker berücksichtigt werden (Diebig et al. 2017). Warum? Das werden wir im Folgenden näher betrachten.
Beispiel: Bildschirmkontrolltätigkeiten
Die Kontrolle von automatisierten, intelligenten Systemen, die eigenständig die Funktionsweise unterschiedlichster Maschinen steuern und koordinieren, stellt eine herausfordernde Tätigkeit für den Anwender dar. Diese Arbeit ist zumeist dadurch gekennzeichnet, dass ein aktives Eingreifen meistens nur im Ausnahmefall gefordert ist. Die besondere Herausforderung bei der Durchführung von Kontrolltätigkeiten besteht daher darin, über einen langen Zeitraum die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten. Das Überwachen eines Monitors, um Verfahrensabläufe zu kontrollieren und zu steuern, kann ein Gefühl der Monotonie erzeugen, was mit geringer Zufriedenheit mit der eigenen Arbeitstätigkeit und erhöhtem Stress bei der Arbeit in Verbindung steht. Ebenso geht die andauernde Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit mit geistiger Ermüdung einher, was sich bis hin zu einem Gefühl der Langeweile entwickeln kann. Dies führt wiederum zu geringer Arbeitszufriedenheit sowie erhöhtem Stressempfinden.
Labore in der Forschung und Entwicklung gehören zu den Arbeitsbereichen, die im Allgemeinen nicht unmittelbar mit der Stahlindustrie verbunden werden, jedoch zentrale Bestandteile der Wertschöpfungskette sind und permanent vernetzte Informationssysteme erfordern. Die Steuerung umfangreicher Labordaten, wie zum Beispiel Auftragsinformationen, Messdaten oder Abrechnungen, erfordern im Smart Lab der Industrie 4.0 umfangreiche Informations- und Managementsysteme (Flock et al. 2019).
Zur Steigerung der Wertschöpfung muss die gesamte Prozesskette vom Kundenkontakt über die Analytik bis zur Datenauswertung transparent gestaltet und digitalisiert werden. Dabei umfasst die kundenorientierte Digitalisierung – dazu zählen auch interne Kunden – die Auftragserteilung hin zur Probenlogistik und Analytik, und schlussendlich die Auswertung und Berichterstattung. Dabei müssen sich moderne Labore auch immer stärker auf Einspeisungen von ad hoc Informationen einstellen, die die größere Nähe zum Kunden mittels mobiler Datentools, wie zum Beispiel Webportalen oder Apps zur Kommunikation mit Mitarbeitern im Feldeinsatz ermöglichen. Dazu kommt die Einbindung von Unternehmensstrukturen durch beispielsweise Enterprise Resource Planing, Manufacturing Execution System und Prozessleitsystemen (Flock et al. 2019). Die Pflege, Überwachung und Nutzung dieser Datenströme wird in einem vermutlich noch höheren Maße Bildschirmkontrolltätigkeiten erfordern als bislang angenommen.
Beispiel: Mensch-Roboter-Interaktionen
Die Arbeitsteilung zwischen Menschen und Robotern kann von einer weitgehend räumlichen und zeitlich getrennten Zusammenarbeit bis hin zu einer simultanen, flexiblen Koordination, um gemeinsame Arbeitsziele zu erreichen, ausgestaltet sein. Besonders ergonomische Gestaltungsaspekte wie Bedienbarkeit und Nutzerzufriedenheit bestimmen dabei, ob der Mensch die Zusammenarbeit positiv bewertet. Hierzu gehören auch die Geschwindigkeit der Bewegungen des Roboters sowie deren Vorhersagbarkeit. Auch das Aussehen der Roboter bestimmt, ob Menschen die Interaktion mit Robotern positiv bewerten. So zeigt sich, dass menschenähnliche Roboter bei Beschäftigten eine stärkere Stressreaktion auslösen als abstrakte kastenförmige Maschinen.
Auch im Rahmen der Digitalisierung von Produktionssystemen mit Unterstützung von Robotern gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Möglichkeiten in der Stahlindustrie. Durch Big Data werden cyber-physische Systeme genutzt, in denen die produzierten Erzeugnisse mit Hilfe von Datencodes entlang der Wertschöpfungskette mit den Produktionsanlagen im Austausch stehen. Der Einsatz von Robotern beschränkt sich hierbei auf Hilfsmaschinen, die in die Anlagen integriert sind und mit denen der Mitarbeiter nicht in direktem Kontakt steht, sondern lediglich Informationen über den Prozess zurückgemeldet bekommt. So übernehmen auch zum Teil Spritzroboter die Pflege der Ofenwände, die teilautonom ohne direkte Steuerung auch komplexere Feuerfestpflegetätigkeiten übernehmen können. Dabei besteht jedoch stets eine räumliche Trennung zwischen Mensch und Roboter, bei der sich die Kollaboration auf einen vorwiegend steuernden Anteil des Menschen beschränkt.
Anders sieht es in Bereichen von Montagetätigkeiten aus, bei denen die Zusammenarbeit sowohl räumlich als auch zeitlich nicht getrennt ist. Dabei wird deutlich, dass sich Vor- und Nachteile von Mensch und Maschine, wie zum Beispiel die größere Flexibilität und Entscheidungsfähigkeit des Menschen und die höhere Genauigkeit und Tragfähigkeit der Maschine, sinnvoll ausgleichen können. Erforderlich dafür ist jedoch ein hohes Maß an Vertrauen des Menschen in den Roboter sowie eine Vielzahl an Absicherungssystemen. Risikobewertungen müssen außerdem für jede einzelne Anwendung bzw. jeden Schritt differenziert und detailliert durchgeführt werden.
Überwachung der Arbeitsleistung
In der Industrieproduktion können Betriebe heute die Arbeitsleistung der Mitarbeiter fortlaufend überwachen, da vielfältige Leistungsindikatoren, wie zum Beispiel die Anzahl gefertigter Produkte oder die Zeit pro gefertigtes Produkt, erfasst werden. Überwachung der eigenen Arbeitsleistung kann mit unterschiedlichen Beanspruchungen, wie zum Beispiel erhöhtem Stresserleben, erhöhtem Blutdruck oder auch vermehrten Anzeichen von Burnout, zusammenhängen. Dies hängt jedoch stark damit zusammen, wie ein Überwachungssystem in den Betrieb eingeführt und eingesetzt wird. Die eigentliche Krux hierbei liegt in der Tatsache, dass durch die permanente Vernetzung fast aller Systeme miteinander die Mehrzahl der Arbeitstätigkeiten von diesem Aspekt betroffen ist oder sein kann.
Beispiel Verkehrsströme
So ist zum Beispiel bei der thyssenkrupp Steel Europe AG ein europaweit einzigartiges Projekt zur Digitalisierung von Verkehrsströmen im Bereich der Werkseinfahrten von LKWs realisiert worden. So konnte durch digitale Prozesse – wie das Auslesen von Positionsdaten und die Verarbeitung von Informationen zu Gütern und Ladungen – das gesamte Aufkommen von jährlich 2,5 Millionen Fahrzeugkontakten auf einem neun Quadratkilometer großen Werksgelände stark verbessert werden. Hierdurch wurde unter anderem der Wiegeprozess von drei auf eine Minute verkürzt und eine Komplexitätsreduktion von ehemals 70 auf nun nur noch zwei vernetzte Prozesse realisiert.
Die Positionsdaten der LKWs können weiterhin dazu genutzt werden, just-in-time gelagerte Produktionsprozesse noch zielgenauer zu unterstützen, indem übermittelt wird, welcher LKW mit welcher Ladung zum genauen Zeitpunkt eintreffen wird. So ist es beispielsweise wichtig, dass transparent erläutert wird, wozu Daten aufgezeichnet und wie diese genutzt werden. Ein zentraler Punkt ist hier, dass Regelungen alle Personen einer Gruppe gleichermaßen betreffen und nicht nur Individuen herausgegriffen werden. Eine Stärkung des Datenschutzes, wie von der EU bereits initiiert, sowie unternehmenseigene Strukturen und Vereinbarungen zum Schutz der Mitarbeiter können hier ebenfalls adäquate Maßnahmen auf systemischer Ebene sein.
Konsequenzen von Industrie 4.0 für die Gefährdungsbeurteilung
Rückgreifend auf den anfänglichen Kommentar einer vermeintlich menschenleeren Industrie 4.0 stellt sich zurecht die Frage nach dem zukünftigen Stellenwert einer Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung (Angerer et al. 2018; Diebig et al. 2018).
Um den Arbeits- und Gesundheitsschutz auch in der modernen Industriearbeit zu fördern, ist es wichtig, dass neuartige Belastungsbereiche, die durch veränderte Arbeitsprozesse entstehen, frühzeitig erkannt und optimiert werden. Hierbei basiert das Ableiten von Arbeitsschutzmaßnahmen, um gefährdende Belastungen zu reduzieren, auf einer strukturierten Analyse der Arbeitsbedingungen. Selbst wenn es zukünftig zu einer Reduzierung menschlicher Anteilstätigkeiten kommt, ist der Weg dahin ein Weg voller Herausforderungen. Und auch dann wird voraussichtlich der Mensch die wichtigen Aspekte der Kontrolle und der Instandhaltung ausüben, womit ihm als Wissensträger eine (wenn nicht die) zentrale Funktion zukommt. Daher ist es entscheidend, neue Belastungsformen, die direkt mit der Digitalisierung in Verbindung stehen, in Verfahren zur Gefährdungsbeurteilung einzuschließen.
Die Verfahren sollten zudem den Beschäftigten die Möglichkeit bieten, sich in allen Phasen aktiv zu beteiligen. Dies fördert zum einen die Bereitschaft, Änderungen in den Arbeitsbedingungen stärker zu akzeptieren, zum anderen verfügen die Beschäftigten über wichtige Expertise, die für eine gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung genutzt werden kann. Um eine größtmögliche Partizipation zu fördern, sollten eingesetzte Verfahren orts- und zeitunabhängig sein, damit auch Beschäftigte, die in dezentralen Teams arbeiten, berücksichtigt werden.
Es besteht folglich ein Bedarf an dynamischen und flexiblen Gefährdungsbeurteilungsverfahren, die der Komplexität vieler moderner Arbeitsplätze gerecht werden. Hier ist vor allem ein gewisser Grad an Flexibilität wichtig, da sich das Vorgehen bei der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung in Großunternehmen von dem Vorgehen in Kleinstbetrieben stark unterscheidet. So erfordern einige Methoden zur Messung der Belastung beispielsweise eine Mindestanzahl an Teilnehmern, die bei Kleinstbetrieben nicht immer gegeben ist. Die Entwicklung evidenzbasierter Verfahren ist hierfür ein unabdingbarer Erfolgsfaktor (Metzler et al. 2019).
Literaturverzeichnis
- Angerer, P.; Müller, A.; Süß, S.; Lehr, D.; Buchner, A.; Dragano, N. (2018): Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung für die
digitalisierte Arbeit: das System DYNAMIK 4.0. In: ASU Arbeitsmedizin Sozialmedizin Umweltmedizin 53, S. 718–722. - Diebig, M.; Müller, A.; Angerer, P. (2017): Psychische Belastungen in der Industrie 4.0: Eine selektive Literaturübersicht zu (neuartigen) Belastungsbereichen. In: ASU Arbeitsmedizin Sozialmedizin Umweltmedizin 52, S. 832–839.
- Diebig, Mathias; Jungmann, Franziska; Müller, Andreas; Wulf, Ines Catharina (2018): Inhalts- und prozessbezogene Anforderungen an die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung im Kontext Industrie 4.0. In: Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie A&O 62 (2), S. 53–67.
- Flock, J.; Lostak, T.; Pappert, E. (2019): Auf dem Weg zum Labor 4.0. Digitalisierung und Automatisierung im Labor. In: GIT Labor-Fachzeitschrift (9), S. 2–4.
- Metzler, Yannick A.; Groeling-Müller, Georg von; Bellingrath, Silja (2019): Better safe than sorry. Methods for risk assessment of psychosocial hazards. In: Safety Science 114, S. 122–139.
Dr. Yannick Metzler
Koordinator für den Gesundheitsschutz im Geschäftsfeld Stahl der thyssenkrupp Steel Europe AG.
Dr. Mathias Diebig
Dipl.-Psych., Institut für Arbeits‑, Sozial- und Umweltmedizin an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.