Der Arbeitgeber ist im Sinne von §3 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) grundsätzlich dazu verpflichtet, alle erforderlichen Maßnahmen für ein sicheres und gesundes Arbeiten seiner Mitarbeiter umzusetzen. Bezogen auf die Beschäftigung von Jugendlichen besitzt das Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG) eine erweiterte Relevanz.
Anforderungen an Unternehmen
Unabhängig von der rechtlichen Situation sind Unternehmen mit einer modernen Sicherheitskultur bemüht, jegliche Arten von Arbeitsunfällen zu vermeiden. Damit dieses Ziel realisiert werden kann, bedarf es nach Reason (1996) dreier wesentlicher Faktoren. Die Grundlage stellt ein klares Bekenntnis des Unternehmens zum Thema Sicherheit dar. Dieses Bekenntnis wird durch die Faktoren Sicherheitskompetenz und Sicherheitsbewusstsein ergänzt. Insbesondere die Sicherheitskompetenz sowie das Sicherheitsbewusstsein können nur durch den Erwerb von Wissen erreicht werden. Dieser Erwerb steht in Korrelation zu einem qualitativ hochwertigen und geeigneten Wissenstransfer (Burkhard und Colin, 1997).
§29 JArbSchG regelt einerseits, dass die Unterweisung von Jugendlichen mindestens halbjährlich erfolgen muss. Andererseits findet jedoch im Vergleich zu anderen Regelwerken keine Definition von methodischen Vorgehensweisen statt. Somit hat der Arbeitgeber in seiner Umsetzung einen erheblichen Spielraum und Platz für Interpretation.
Grundlagen der Informationsaufnahme
Die methodische Vorgehensweise bei der Vermittlung von Informationen besitzt eine große Bedeutung. Nach Ebbinghaus (1885) besteht eine Korrelation zwischen der methodischen Informationsaufnahme und der Wahrscheinlichkeit des Behaltens von Informationen (siehe Abbildung 1).
Anhand experimenteller Untersuchungen von Brodt et. al. (2016) ergibt sich weiterhin eine Korrelation zu Anzahl und Zeitpunkt von Wiederholungen. Eine regelmäßige Wiederholung führt zur Speicherung von Informationen im Langzeitgedächtnis. Einmalige Informationen ohne Wiederholung werden bereits nach wenigen Minuten wieder vergessen (Ebbinghaus, 1885).
Einen weiteren Einfluss auf das Behalten von Informationen besitzen die Emotionssituation und somit auch die Motivation von Menschen. Die Intensivität und Nachhaltigkeit des Lernens wird von der intrinsischen und extrinsischen Motivation beeinflusst (Götz, 2017). Unter den Begriff der intrinsischen Motivation wird eine Handlung aus innerlicher Überzeugung verstanden. Die extrinsische Motivation entsteht durch den Wunsch nach Anerkennung beziehungsweise Belohnung (Rheinberg, 2006). Beide Motivationen können seitens des Unternehmens für die Entwicklung der Kompetenz und des Bewusstseins für Sicherheit genutzt werden. Beim Einsatz unzureichender Methoden bei der Informationsweitergabe kann beispielsweise Langeweile bei den Auszubildenden auftreten. Diese beeinflusst die beiden Motivationsarten negativ. Hieraus folgt eine negative Beeinflussung auf die nachhaltige Speicherung der Informationen. Demnach ist es zielführend, die Auszubildenden bei der Informationsvermittlung aktiv einzubinden und Neugier für das Thema Sicherheit zu wecken.
Beispiel eines Sicherheitsprogramms
Eine nachhaltige Vermittlung von Informationen steht somit in Korrelation zu der methodischen Vorgehensweise der Wissensvermittlung. Diese Erkenntnis ist in ein Sicherheitsprogramm für Auszubildende zu integrieren. Hieraus folgend sollte der Lehrinhalt einen möglichst hohen aktiven Anteil enthalten und von Wiederholungen in zeitlichen Abständen geprägt sein (Spitzer, 2007). Anhand des folgenden betrieblichen Beispiels wird eine Möglichkeit der Umsetzung dargestellt. Hierbei wird der Wissenstransfer an den kontinuierlichen Entwicklungsprozess der Auszubildenden angepasst. Das Sicherheitsprogramm wird parallel zur gesamten Ausbildungszeit durchgeführt.
Erstes Lehrjahr
In einer modernen Sicherheitskultur besitzt das Thema Sicherheit und Gesundheit die höchste Priorität. Diese Priorisierung besitzt auch das Sicherheitsprogramm für Auszubildende im Unternehmen. Direkt im ersten Ausbildungsmonat wird ein sogenannter Sicherheitsmonat durchgeführt. Dieser Sicherheitsmonat umfasst die folgenden Inhalte:
- Vorstellung der betrieblichen Sicherheitskultur durch den CEO
- Allgemeine Sicherheitsunterweisung
- Vorstellung der Berufsgenossenschaft
- Unfälle und Berufskrankheiten
- Verhalten im Notfall
- Erkennen von Gefahren am Arbeitsplatz
- Ergonomie am Arbeitsplatz
- Suchtprävention
Die betriebliche Sicherheitskultur wird durch den Chief Executive Officer (CEO) vorgestellt. Aus dieser Vorstellung müssen klare Kernbotschaften an die Auszubildenden hervorgehen. Die meisten Themenschwerpunkte sind zum aktiven Mitwirken zum Beispiel durch Übungen oder Workshops konzipiert worden. Den Abschluss der Sicherheitswoche stellt der Workshop „Erkennen von Gefahren am Arbeitsplatz“ dar.
In der Umsetzung werden den Gruppen, bestehend aus maximal vier Teilnehmern, aufeinander folgend zwei Arbeitsplätze gezeigt. Eigenständig arbeiten die Teilnehmer an der Erkennung von Gefährdungen sowie der Einschätzung des jeweiligen Risikos. Weiterhin entwickeln die Auszubildenden Ansätze für Schutzmaßnahmen. Begleitet wird der Workshop durch Fachkräfte für Arbeitssicherheit sowie Ausbildungsverantwortliche. Abschließend werden die Arbeitsergebnisse den anderen Gruppen vorgestellt. Bei dieser Vorstellung ist die Erwartungshaltung nicht eine hohe inhaltliche Qualität. Das Lernziel dieses Workshops ist es, die Auszubildenden für das Erkennen und Einschätzen von Gefährdungen zu sensibilisieren.
Aufbauend auf den Inhalten des Sicherheitsmonats finden im ersten Lehrjahr zwei Sicherheitsbegehungen mit den Fachkräften für Arbeitssicherheit statt. Hierbei begleiten jeweils maximal zwei Auszubildende eine Fachkraft für Arbeitssicherheit bei einer Sicherheitsbegehung und unterstützen selbige bei der Nachbereitung. Lernziel ist hier die Wiederholung des erlernten Grundlagenwissen und der Transfer in die betriebliche Praxis.
Zusätzlich stellt jeder Ausbildende innerhalb der Auszubildendengruppe ein Sicherheitsthema vor. Hierbei kann es sich beispielsweise um ein Ereignistelegramm in Folge eines Arbeitsunfalls handeln. Unterstützung erhält der Auszubildende hier von einer Fachkraft für Arbeitssicherheit sowie durch die Ausbildungsverantwortlichen.
Zweites Lehrjahr
Neben der Wiederholung von Grundlagenwissen wird im zweiten Lehrjahr ein Schwerpunkt auf das richtige Verhalten im Notfall gesetzt. Die Wiederholung erfolgt durch jeweils eine weitere Sicherheitsbegehung mit einer Fachkraft für Arbeitssicherheit sowie einen Sicherheitsvortrag aufbauend auf dem ersten Lehrjahr. Ebenfalls basierend auf dem ersten Lehrjahr wird ein zweiter Workshop zum Thema „Gefahren am Arbeitsplatz“ durchgeführt. Der Detaillierungsgrad und die Qualität der Arbeitsergebnisse sollen hierbei höher sein als im ersten Lehrjahr.
Die Bewusstseinsentwicklung zum richtigen Verhalten im Notfall wird durch zwei Basisschulungen erreicht. Einerseits wird ein Erst-Hilfe-Kurs mit den Auszubildenden durchgeführt. Andererseits findet eine Schulung zum richtigen Verhalten im Brandfall statt. Hierbei organisiert der Brandschutzbeauftragte ein Feuerlöscher-Training und eine Räumungsübung. Die örtliche Feuerwehr unterstützt bei diesem Vorhaben.
Zum Ende des zweiten Lehrjahrs bewerten die Ausbildungsverantwortlichen sowie die Fachkräfte für Arbeitssicherheit anhand objektiver Kriterien die Entwicklung der Auszubildenden. Die Auszubildenden mit einer guten individuellen Sicherheitskompetenz beziehungsweise einem entsprechenden Sicherheitsbewusstsein können zu Sicherheitsmentoren ernannt werden. Die Sicherheitsmentoren unterstützen im Folgelehrjahr die Auszubildenden des ersten und zweiten Lehrjahrs bei deren Sicherheitsentwicklung. Außerdem können die Sicherheitsmentoren in den betrieblichen Sicherheitsgremien mitwirken.
Drittes Lehrjahr
Der Schwerpunkt im dritten Lehrjahr ist eine Kleingruppenarbeit zu einem selbst ausgewählten Thema zu Sicherheit und Gesundheitsschutz. Die Auszubildenden erarbeiten die jeweiligen Themen weitestgehend eigenständig. Das Ergebnis wird dann Führungskräften des Unternehmens vorgestellt. Während der Ausarbeitung erhalten die Auszubildenden Unterstützung von den Ausbildungsverantwortlichen und Fachkräften für Arbeitssicherheit. Das beste Arbeitsergebnis reicht das Unternehmen für den Auszubildenden-Sicherheitspreis der Berufsgenossenschaft ein.
Im Sinne der regelmäßigen Wiederholung findet auch im dritten Lehrjahr eine Sicherheitsbegehung mit einer Fachkraft für Arbeitssicherheit sowie die Vorstellung eines allgemeinen Sicherheitsthemas statt.
Zum Ende des Sicherheitsprogramms erhalten die Auszubildenden mit einem ausgeprägtem Sicherheitsbewusstsein einen betrieblichen „Sicherheitspreis“.
Zusammenfassung
Die Reduzierung der von Auszubildenden ausgehenden Arbeitsunfälle lässt sich im Wesentlichen durch eine frühzeitige und nachhaltige Prägung erreichen. Die kontinuierliche Weiterentwicklung von Kompetenz und Bewusstsein für Sicherheit stellt die elementare Grundlage dar. Menschen mit diesen ausgeprägten Fähigkeiten können Gefährdungen besser erkennen und davon ausgehende Risiken bestmöglich einschätzen. Die Führungskräfte eines Unternehmens besitzen einen großen Anteil an der Entwicklung dieser Fähigkeiten (Döring, 2018). Ein Sicherheitsprogramm für Auszubildende unterstützt die Führungskräfte bei der Entwicklung der Auszubildenden.
Das Besondere an dem vorgestellten betrieblichen Programm ist, dass die Auszubildenden während ihrer gesamten Lehrzeit genügend Zeit bekommen, um sich in Teams dem Thema Sicherheit und Gesundheitsschutz zu widmen – ein klares Bekenntnis für die Sicherheit seitens des Unternehmens. Weiterhin setzt dieses Sicherheitsprogramm aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse um. Sicherlich ist es auch ein zeitlich aufwändigeres Modell. In Unternehmen mit einer modernen Sicherheitskultur ist jedoch bekannt, dass Investitionen in die Sicherheit nachfolgend auch zu höherer Wirtschaftlichkeit führen (Bräuning und Kohstall, 2013) – insgesamt eine ausreichende Anzahl an positiven Argumenten für die Förderung von Kompetenz und Bewusstsein für Sicherheit bei Auszubildenden.
Quellen
- Bräuning, Dietmar Prof. Dr., Kohstall, Thomas Dr. (2013): Berechnung des internationalen „Return on Prevention“ für Unternehmen. Kosten und Nutzen von betrieblichen Investitionen in den betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz. DGUV Report. Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V. Ausgabe Januar 2013
- Brodt, Svenja, Pöhlchen, Dorothee, Flanagin, Virgina L., Glasauer, Stefan, Gais, Steffen, Schönauer, Monika (2016): Rapid and independent memory formation in the parietal cortex. https://doi.org/10.1073/pnas.1605719113 (15.11.2016)
- Bundesregierung Deutschland (2015): Arbeitsschutzgesetz vom 07.08.1996 mit letzter Änderung am 31.08.2015
- Burhard, F., Colin I. (1997): Zur Sicherheit führen. Motivation im Arbeitsschutz. Universum Verlag. Wiesbaden 1997
- Deutsche Gesetzliche Versicherung (2019): Zahl des Monats. Nachrichten der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung e.V. Ausgabe Februar/ März 2019
- Döring, Anton (2018): Chefsache präsenzielle Führung. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH.
- Ebbinghaus, Hermann (1885): Über das Gedächtnis. Untersuchungen zur experimentellen Psychologie. Verlag von Duncker & Humblot.
- Götz, Thomas Prof. Dr. (2017): Emotion,
Motivation und selbstregulierendes Lernen. Ferdinand Schöningh Verlag. 2. Auflage - Reason, Peter (1993): Reflections on Sacred Experience and Sacred Science
- Rheinberg, Falko (2006): Intrinsische Motivation und Flow-Erleben. Motivation und Handeln. Springer Medizin Verlag. 3. Auflage
- Spitzer, Manfred (2007): Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Spektrum Akademischer Verlag.

Grafik: Ganzke

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Autor: Stefan Ganzke
Leiter Abteilung Health, Safety &
Environment,
Dörken Service GmbH
E‑Mail: sganzke@doerken.de