„Sicherheitsbeauftragte müssen Raum bekommen, um gehört zu werden“, erklärt Petra Herder, Head of Safety & Environment bei Airbus in Bremen. Seit 2017 arbeitet sie intensiv an einem Rollenwechsel für die ehrenamtlichen Kräfte. Eng damit verbunden ist eine neue Wahrnehmung der Funktion von Sicherheitsbeauftragten – sowohl bei den Vorgesetzten als auch bei den Amtsinhabern selbst. Zu diesem Zweck werden die ehrenamtlichen Kräfte stärker in das Arbeitsschutzsystem des Unternehmens eingebunden – und zwar ohne Wenn und Aber, per Festschreibungen im Prozess. So ist die Beteiligung der Sicherheitsbeauftragten an Gefährdungsbeurteilungen und Begehungen bei Airbus nicht mehr eine Option, sondern verpflichtender Standard.
Team Gefährdungsbeurteilung
Unterstützung kam auch vom Betriebsrat: „Wir haben im Rahmen einer Betriebsvereinbarung das Team Gefährdungsbeurteilung gegründet“, erklärt Petra Herder. Das heißt, die Führungskraft darf die Gefährdungsbeurteilung nicht mehr allein machen, sondern muss einen Sicherheitsbeauftragten und einen Beschäftigten aus dem Team hinzuziehen. An der Gefährdungsbeurteilung sind somit mindestens drei Personen beteiligt. „Allein das zeigt schon eine andere Wertschätzung der Sicherheitsbeauftragten“, meint Petra Herder. Hinzu komme natürlich immer die Beratung durch die Fachkraft für Arbeitssicherheit.
Nummer eins bei Begehungen
Auch bei den Begehungen, die Vorgesetzte regelmäßig in ihren Bereichen durchzuführen haben, ist die unmittelbare Beteiligung der Sicherheitsbeauftragten bei Airbus zur festen Größe geworden. Punkt eins auf der Liste, die während des Rundgangs abgearbeitet wird: Ist ein Sicherheitsbeauftragter dabei? Auf diese Weise sind alle Vorgesetzten an die Änderung gebunden. Der Sinn dahinter: Sicherheitsbeauftragte haben einen anderen Blickwinkel und machen so potenzielle Risiken besser sichtbar. „Vier Augen sehen mehr als zwei – dieses Potenzial sollte man unbedingt nutzen“, findet Petra Herder.
Speed Dating – erst für Sicherheitsbeauftragte …
Es ist schon länger Tradition bei Airbus, dass die Arbeitssicherheitsabteilung die Sicherheitsbeauftragten mindestens einmal im Jahr einlädt. Nach einem Frühstück werden wechselnde Themen besprochen oder Schulungen für alle angeboten. Zuletzt fiel das Programm jedoch anders aus: Acht Stände wurden im „Speed Dating“ durchlaufen. „Nichts mit Hinsetzen und Abwarten, sondern mit Aktion und Bewegung.“ An den Ständen erwarteten die Teilnehmer Ansprechpartner aus dem Betrieb zu Themen wie Ergonomie, Betriebliches Eingliederungsmanagement oder Arbeitsmedizin. An einer weiteren Station waren sie dann selbst gefragt: Was läuft für dich gut als Sicherheitsbeauftragter, was weniger gut? Wo brauchst du mehr Unterstützung? Die Statements dazu wurden notiert, ohne Benennung des Urhebers.
… dann für Führungskräfte
Die größte Veränderung bestand darin, dass in einer zweiten Runde am Nachmittag die Führungskräfte das gleiche Programm durchliefen. Petra Herder wollte so verhindern, dass die Sicherheitsbeauftragten von diesem Tag vieles mitnehmen, was im Alltag keinen Anklang findet. Die Führungskräfte sollten direkt nachvollziehen können, womit sich die Sicherheitsbeauftragten beschäftigt hatten. An den verschiedenen Stationen gewannen sie eine konkrete Vorstellung vom Wissensstand und Aktionsradius der Sicherheitsbeauftragten. „Das hat ihnen verdeutlicht, wie weit die Kenntnisse der Sicherheitsbeauftragten reichen und wie gut sie folglich mit ihnen an einem Strang ziehen können.“
Mit Kritik und Wünschen konfrontiert
Noch mehr Aha-Effekte gab es für die Führungskräfte an der Station mit den Anregungen und Kritikpunkten der Sicherheitsbeauftragten. Dabei galt es, die Statements zunächst einmal kommentarlos aufzunehmen. „Bei manchen Punkten ist es ihnen sichtlich schwergefallen, die anonymen Äußerungen einfach so stehen zu lassen“, erzählt Petra Herder. „Das war spannend zu beobachten, ich bin schließlich selbst Vorgesetzte. Die Aktion wurde insgesamt jedoch sehr gut angenommen – vor allem wegen des zweiten Durchlaufs mit den Führungskräften.“
Jährliches Gespräch mit Hallenleitungen
Doch damit nicht genug: Sicherheitsbeauftragte haben nun auch direkten Zugang zu den obersten Leitungsebenen. „Auf einer ASA-Sitzung für den Standort habe ich eine entsprechende Regelung vorgeschlagen“, erzählt Petra Herder. Die Hallenleitungen sollen demnach mindestens einmal im Jahr mit all ihren Sicherheitsbeauftragten gesprochen haben. Auf diese Weise sei auch automatisch die Meisterebene mit im Boot: „Sie stehen sozusagen unter Zugzwang, regelmäßigen Kontakt zu ihren Sicherheitsbeauftragten zu pflegen. Denn wenn der Sicherheitsbeauftragte vom Hallenchef eingeladen wird, möchte der Meister gern wissen, welche Themen dort zur Sprache kommen.“
Alle zwei Jahre: Bei der Standortleitung zum Kaffee
Außerdem wurde im ASA eine hierarchisch noch weiter greifende Regelung verabschiedet. „Mit Standortleiterin Imke Langhorst ist vereinbart, dass sie jeden Sicherheitsbeauftragten alle zwei Jahre persönlich empfängt. Dieser Turnus geht ganz gut auf, weil wir dann in kleinen Gruppen à zehn Leuten vorsprechen können“, erklärt Petra Herder das Prozedere. Die Treffen mit den Sicherheitsbeauftragten finden einmal im Monat statt. Das Besondere: Es gibt kein festgelegtes Programm, sondern gezielt Raum für „freies Sprechen“ – „speak up“, wie es im englischsprachigen Unternehmen heißt. Hier soll alles zur Sprache kommen können, was die Ehrenamtsträger umtreibt: Was funktioniert, was weniger, was verstehen sie nicht, wo steht das Unternehmen? Damit sie umfassend Antworten erhalten – auch zu strategischen Zielen – ist neben der Standortleitung je eine Vertretung aus dem Personalwesen, der Arbeitssicherheit und der Arbeitsmedizin anwesend.
Druck von oben zur Kontaktpflege
Mit dieser Neuerung fährt das Unternehmen gut: „Wir sind zügig gestartet und haben schon drei Runden mit den Sicherheitsbeauftragten realisiert.“ Auf diese Weise sei der Druck, die Sicherheitsbeauftragten richtig wahrzunehmen, weiter erhöht worden. Und zwar von oben nach unten, denn nun dürfen sie direkt bei der Standortleitung vorsprechen. Die ersten Erfahrungen damit sind vielversprechend: „Das kommt ziemlich gut an und wir erfahren spannende Sachen“, freut sich Petra Herder.
Neue Messlatte „Vision Zero“
Dass die leitende Sicherheitsingenieurin grünes Licht für ihre neuen Ideen bekommt, hat auch etwas mit der Führungsspitze zu tun. „Unser neuer Firmenchef Guillaume Faury, der im April 2019 die Konzernführung übernommen hat, steht ganz klar hinter der ‚Vision Zero‘“, erklärt Petra Herder. Das sei eine erhebliche Veränderung für das Unternehmen. Zwar stand es bei Airbus nicht gerade schlecht um Arbeitsschutz und Unfallquoten, doch die Orientierung an der „Null“ setze hier neue Maßstäbe. „Guillaume Faury hat ausdrücklich gesagt, dass er dieses Unfallgeschehen nicht mehr akzeptiert. Und auch nicht mehr akzeptiert, dass man unsichere Zustände einfach hinnimmt.“
Mit der Null als Zielwert könne es ein „Weiter so“ nicht geben. Damit es zu keinen oder nahezu keinen Arbeitsunfällen komme, sei eine Veränderung im Denken nötig. „Und für diese Veränderung im Denken brauchen wir die Sicherheitsbeauftragten,“ betont Petra Herder, „denn die sind einfach am nächsten dran am Geschehen!“
Airbus Bremen
Bremen ist der zweitgrößte Airbus-Standort in Deutschland und zuständig für die Konstruktion, Fertigung und Erprobung der Hochauftriebssysteme für die Flügel aller Airbus-Flugzeugprogramme. Hier ist die gesamte Prozesskette für die Hochauftriebselemente angesiedelt, einschließlich Flugphysik, Strukturentwicklung und Montage, Flügelausrüstung und ihre Auslieferung an die Endmontagelinien in Toulouse.
- Der Standort beschäftigt 4500 Mitarbeiter.
- Für das Programm A400M entwickelt und fertigt Bremen die integrierte Rumpfsektion einschließlich des Frachtladesystems.
- Bremen ist Kompetenzzentrum für Weltraumtransport, bemannte Raumfahrt und Raumfahrt-Robotik und ist verantwortlich für den Betrieb der europäischen Komponenten der Internationalen Raumstation ISS.
- www.airbus.com
Die Entwicklung aus Sicht eines Sicherheitsbeauftragten
Ein gewaltiger Hierarchie-Sprung
Ralf Precht engagiert sich „mit kleinen Unterbrechungen“ seit rund 30 Jahren als Sicherheitsbeauftragter bei Airbus in Bremen. „Als das Amt eingeführt wurde, war ich unter den ersten“, erinnert sich der heutige Projektleiter im Bereich Support. Damals hatte er gerade seinen Meisterlehrgang absolviert und umfangreiche Kenntnisse in der Arbeitssicherheit erlangt. Folglich wurde ihm der damals unbekannte Job angetragen.
Ralf Precht gefällt seine Zusatzaufgabe: „Wenn ich etwas verändern will, muss ich mitmachen. Das ist mein Hauptantrieb“, erklärt der langgediente Sicherheitsbeauftragte. Zufrieden stelle ihn, wenn sein Engagement Erfolge zeige. Doch das ist seiner Erfahrung nach ein langer Prozess – auch jetzt: Das „Mindset“ ändere sich zwar, doch die Abkehr von gewachsenen Strukturen benötige Zeit.
Vom reinen Tippgeber …
Verglichen mit seiner Anfangszeit hat sich aber durchaus viel bewegt: „Heute werden Sicherheitsbeauftragte ganz anders wahrgenommen als damals“, sagt er. Seinerzeit seien sie nur „Tippgeber“ ohne weitere Mitsprache gewesen. „Man hat seinem Vorgesetzten einen Missstand gemeldet. Dann war man als Sicherheitsbeauftragter auch schon wieder raus. Den ganzen nachgelagerten Prozess, den wir heute mitbegleiten, gab es damals nicht“, erklärt Ralf Precht. „Man ist eigentlich nur als Detektor durch die Halle gelaufen.“
… zum Beteiligten
Die Beteiligung der Sicherheitsbeauftragten an Begehungen und Gefährdungsbeurteilungen, die jetzt per Betriebsanweisung festgelegt ist, findet er in jedem Fall sinnvoll. Er sehe, wie sich die Arbeit vor Ort tatsächlich gestalte, und könne auf mögliche Lücken zwischen Vorgaben und gängiger Praxis aufmerksam machen.
Umfassende Gefährdungsbeurteilung
Auch in Sachen Gefährdungsbeurteilungen begrüßt Ralf Precht den heutigen Ansatz, in multi-funktionalen Teams zu arbeiten. Neben den Beobachtungen der Sicherheitsbeauftragten fließe auch das Praxiswissen der Beschäftigten mit ein. „Es ist jetzt immer ein Kollege aus dem jeweiligen Fertigungsbereich mit dabei.“ Ein gutes Beispiel für die Verbesserung seien die vielen Bohrarbeiten im Betrieb: Mit einer Betriebsanweisung allein sei es hier nicht getan. Die Gefährdungsbeurteilung umfasse auch mögliche Risiken bei diesen Arbeiten.
Sensibilisierung der Vorgesetzten für die Arbeitssicherheit
Das Speed-Dating am Tag der Sicherheitsbeauftragten hat Ralf Precht positiv in Erinnerung: „Ich nutze gern die Gelegenheit, mich mit meinen Kollegen auszutauschen.“ Gut findet er zudem die Neuerung, dass die Führungskräfte das Programm ebenfalls durchlaufen und sie so für die Arbeitssicherheit sensibilisiert werden. Für Ralf Precht ein weiterer Schritt, um das Thema in den Köpfen der Verantwortlichen zu verankern – und zwar so fest, dass es auch unter Zeit- und Termindruck mitbedacht wird.
Großartig: „Ohr an Masse“
Weit mehr Effekt verspricht sich Ralf Precht jedoch von einer anderen Neuerung. Dass Standortleiterin Imke Langhorst das persönliche Gespräch mit den Sicherheitsbeauftragten sucht, beeindruckt ihn sehr: „Ein gewaltiger Hierarchie-Sprung, den wir so noch nicht gekannt und gelebt haben“, schwärmt der Sicherheitsbeauftragte. Er selbst hatte zwar noch nicht die Gelegenheit, bei diesem Austausch dabei zu sein, ließ sich aber davon berichten. „Man sieht sofort, wer schon bei Imke Langhorst war: Alle Gesprächspartner erhalten von ihr ein Schlüsselband mit PeopleSafety@Work-Schriftzug, unserer konzernweiten Initiative zur Stärkung der Präventionskultur.“ Ralf Precht imponiert, dass die Standortleitung den direkten Kontakt zur Basis sucht. „‚Ohr an Masse‘ nennen wir das bei uns.“ Auf diese Weise erhält die Standortleitung ungefilterte Informationen aus dem Produktionsalltag, wovon sich Ralf Precht eine große Hebelwirkung verspricht.
Mit Folgen, aber ohne Aktionismus
Tatsächlich werde beim Austausch mit der Standortleitung nicht nur geredet, sondern anschließend auch gehandelt – zum Beispiel im Bereich Ordnung, Sauberkeit, Hygiene. „Wenn die Sicherheitsbeauftragten berichten, dass Teeküchen, Toiletten oder Umkleideräume momentan in keinem tolerierbaren Zustand sind, ist schon eine Woche später eine Veränderung sichtbar.“ Solche Maßnahmen würden aber nicht breitgetreten. Aus den Gesprächsrunden folge auch kein blinder Aktionismus: „Die Standortleitung kann unsere Informationen qualifiziert filtern. Das sehe ich bei meiner täglichen Arbeit und davor ziehe ich den Hut.“