Was ist neu in der Gefährdungsbeurteilung? In den vergangenen Jahren hat die Berücksichtigung psychischer Belastungen immer mehr an Bedeutung gewonnen. Psychische Belastungen sind nach DIN EN ISO 10075–1 die „Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch auf ihn einwirken“ [12]. Die Berücksichtigung psychischer Belastungen am Arbeitsmarkt korrespondiert auch mit den Leitlinien der gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie [13]. Die Methodik zur Erfassung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz sind komplex und arbeitsrechtlich oft mitbestimmungspflichtig, da die Persönlichkeitssphäre der Mitarbeiter tangiert wird. Zumindest sollten mit der Mitarbeiter-Vertretung die
Erfassungs- und Bewertungskriterien psychischer Belastungen abgestimmt werden. Gegenüber den „Standard“-Gefährdungsfaktoren (zum Beispiel physikalisch, chemisch, technisch) müssen bei psychischen Belastungen die Mitarbeiter sehr viel stärker in die Analyse der Belastungsfaktoren einbezogen werden. Parallel können in die GBU andere Indikatoren wie zum Beispiel Fehlzeiten, Fluktuation, betriebliches Eingliederungsmanagement, Beschwerden oder Daten zum Beispiel aus einem Gesundheitsbericht, Eingang finden. Letztlich geht es nicht ohne Mitarbeiterbefragungen. Das beinhalt die Befragung der Führungskräfte und der Mitarbeiter.
Flankierend können zum Beispiel Workshops, Audits und „Beobachtungsverfahren“ durchgeführt werden (GDA). Die Berücksichtigung psychischer Belastungen bringt eine „neue Qualität“ in die GBU und birgt unter Umständen Konfliktpotential bei der Umsetzung.
Mutterschutz
Ebenfalls erheblich an Bedeutung
gewonnen hat die Berücksichtigung der Gefährdungseinflüsse werdender und stillender Mütter in der GBU. Nicht zuletzt durch das neue Mutterschutzgesetz und durch die Meldepflicht an die Gewerbeaufsichtsämter und Arbeitsschutzbehörden hat die GBU-Mutterschutz einen hohen Stellenwert. Das liegt mit an der rechtlichen Forderung, eine „anlassunabhängige“ GBU zu erstellen, auch wenn niemand in der Belegschaft schwanger ist oder schwanger werden kann. Das heißt, der Tatbestand einer Mutterschaft ist immer in der Grundbewertung eines Arbeitsplatzes mittels einer GBU zu berücksichtigen. Im Hinblick auf die Bewertungskriterien für die Schwangerschaft der Mitarbeiterin in der GBU geben die Meldedokumente der Arbeitsschutz-/GewerbeAufsichtsämter gute Vorlagen.
Ständig wechselnde Arbeitsplätze
Im Hinblick auf die Erstellung einer GBU bilden die Instandhaltungs‑, Service- und Außendiensttätigkeiten zum Teil in kritischen Infrastrukturen mit gefahrgeneigten Tätigkeiten immer besondere Probleme. In der Regel wird eine „Standard“-GBU kaum die Gefährdungslage für zum Beispiel Service-Techniker oder Monteure mit ständig wechselnden (zum Teil mehrmals pro Tag) Arbeitsplätzen in fremder Umgebung abbilden können. Letztlich muss für die Servicetätigkeit (Montage, elektrotechnische Dienstleistungen, Prüftätigkeiten etc.) mindestens eine Betriebsanweisung und eine GBU vorliegen. Und das gilt für das gesamte Tätigkeitsspektrum, für alle wechselnden Arbeitsplätze, für alle gefahrgeneigten Tätigkeiten plus der psychischen Belastungen, plus Risikoabschätzung, plus Wirksamkeitskontrolle etc.
Um diesen rechtlichen Anspruch annähernd zu erfüllen, haben sich Formen von kombinierten Betriebsanweisungen und GBUen entwickelt. Diese GBU + BA sollte vor jedem Auftrag systematisiert erstellt werden. Es handelt sich im Prinzip um eine Betriebsanweisung, die einen geschlossenen Frageteil beinhaltet, auf dem der Service-Techniker/Monteur vor jeder Arbeitsaufnahme die Gefährdungslage und die Sicherheitsmaßnahmen dokumentieren muss. In der Konsequenz bedeutet das: Sind die Sicherheitsmaßnahmen nicht ausreichend, kann der Auftrag unter diesen Bedingungen nicht ausgeführt werden [7]. Zudem sind die sicherheits-technischen oder organisatorischen Ersatzmaßnahmen zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer zwingend zu klären und zu dokumentieren.
Gefahrstoffeinsatz
Eine weitere positive und neuere Entwicklung für die Erstellung einer GBU zeigt sich bei den Sicherheitsdatenblättern für Gefahrstoffe. Üblicherweise sind Sicherheitsdatenblätter in 16 Abschnitte aufgegliedert. Der 16. Abschnitt beinhaltet „sonstige Angaben“, welche insbesondere die Aufzählung aller relevanten H‑Sätze und den Volltext der im Sicherheitsdatenblatt verwendeten Abkürzungen aufführt. In jüngeren Sicherheitsdatenblättern (z. B. für Maschinenschmieröl) finden sich zudem in Abschnitt 16
Angaben über die „identifizierte Verwendung nach dem Use Descriptor System“, zum Beispiel für das Expositionsszenario-Arbeiter [14]. Dabei werden die in Tabelle 1 aufgeführten Szenarien dargestellt. Insbesondere die Risikomanagement-Maßnahmen geben wertvolle Hinweise für den bestimmungsgemäßen Umgang mit Gefahrstoffen. Dies gilt vor allem für kleine und mittlere Unternehmen oder das Handwerk, in dem keine hauptamtlichen „Fulltime“-Sicherheitsfachkräfte oder Gefahrstoffsachkundige die GBU erstellen.
EDV-Technisches
Wie dokumentiert man eine GBU? An dieser Stelle kann natürlich keine Übersicht der „unzähligen“ Software-Angebote für GBUen und Arbeitsschutz gegeben werden, die auf dem Markt erhältlich sind. Im KMU-Bereich und auch in größeren Unternehmen wird immer noch mit Papier- und Excellisten gearbeitet. Das führt oft zu einem unübersehbaren heterogen gewachsenen Konglomerat aus
Papierordnern, Exceltabellen, Outlook-Dokumenten und Share-Point-Ablagen. Nur dem Erfahrungsschatz einzelner Spezialisten ist es zu verdanken, dass in diesem „Kosmos“ separater Insellösungen für Gefährdungsbeurteilungen, Betriebsanweisungen, Gefahrstoffkataster, G‑Vorsorgedatei und Unterweisungen noch jemand „durchblickt“.
Im industriellen Bereich wird zumindest der Weg zur „digitalen Ordnung“ angestrebt, wobei die GBU in der Regel oft auf komplexeren Datenbanken basiert, wie zum Beispiel (MS)-Access oder SAP.
Diese Standardsoftwaren können angepasst und für eigene Bedürfnisse weiter programmiert werden. Natürlich muss die Software netzwerkfähig sein und die Ausgabemöglichkeiten in allen Office-
Objekten (z. B. Word, Excel) generierbar sein. In jüngerer Zeit haben sich Alternativen zu Access-Datenbanken etabliert
(z. B. Clouddienste, share points und firmen-interne soziale Netzwerke). Hier werden geringere Komplexität, höhere Bedienerfreundlichkeit sowie verbesserte Kompatibilität und Schnelligkeit versprochen.
Die große Aufgabe des Arbeitsschutzes und letztlich der rechtliche Anspruch ist die Durchführung der GBU durch die Führungskraft. Daher sollte man EDV-Systeme für die GBU wählen, mit denen Führungskräfte täglich umgehen. Das gilt insbesondere für fertigungsnahe Bereiche, in denen täglich Tabellenformate bedient werden müssen (z. B. Produktionsdaten, Budgetvorschau, Ausschussquote, Unfallzahlen etc.).
Neben der Frage, wie man dokumentiert, stellt sich die Frage, was man dokumentiert. Datenbanken neigen dazu, sich im Betrieb mit der Zeit „aufzublähen“.
In der Praxis können sich durchaus GBU-Excellisten bilden, die über die Jahre über mehrere 100 (!) Eintragungen verfügen. Wenn alle diese Eintragungen mit Gefährdungen verbunden sind und definierte Abstellmaßnahmen mit Wirksamkeitskontrolle erforderlich sind, wird der Verantwortliche per Maßnahmenkatalog im Tagesgeschäft blockiert. Hier sollte hinterfragt werden: Was muss in eine GBU hinein? Die bloße Existenz einer technischen Anlage bedingt noch keine GBU.
Bei industrienaher GBU sind die Softwaresysteme betrieblich vernetzt und werden oft von einem Unternehmens-Intranet oder firmenspezifischer Serverstruktur dominiert. Da eine GBU auf Daten aus unterschiedlichen Quellen und Strukturen basiert, ist die Kompatibilität der verschiedenen Systeme unverzichtbar. Ein firmeneigenes Intranet (wenn es funktioniert) sorgt für die System-Kompatibilität und gestattet zum Beispiel die
Zusammenführung oder den Austausch verschiedener Office-Dokumente mit der aktuellen Dateiversion. Die GBU-Plattform sollte, wie schon erwähnt, einfach strukturiert, intuitiv bedienbar und benutzertauglich sein.
Ausblick
Gefährdungsbeurteilungen haben sich als Standard in der Industrie etabliert. Mit einer wachsenden Infrastruktur (Unternehmensgröße) nimmt die Komplexität der GBU zu.
Das System der industriellen GBU kann nur noch mittels EDV beherrscht werden. Viele Systeme auf Unternehmensebene sind Eigenkreationen, andere sind am Markt verfügbare adaptierte und lizensierte Systementwicklungen und Software-Lösungen. In großen Infrastrukturen ist die GBU oft Bestandteil eines unternehmensspezifischen Intranets.
Die EDV-Struktur und Vernetzung kann vielfach nur noch von Spezialisten beherrscht werden. Durchgesetzt haben sich offene netzwerkfähige Systeme mit Standardsoftware, die für eigene Bedürfnisse angepasst und weiterprogrammiert werden kann. Datenbankstrukturen sind oft nur schwer veränderbar. Diese Datenbanken blähen sich mit der Zeit auf. Dennoch wird der hohe Verbreitungsgrad und die Anbindung an Office-Anwendungen auch in Zukunft diese EDV-Systeme sichern und insbesondere in der Sparte der KMU (kleine und mittelständische Unternehmen) noch lange Anwendung finden.
Eine GBU sollte ähnlich einer FMEA („Failure Mode and Effects Analysis“; auf deutsch „Fehlermöglichkeits- und ‑einflussanalyse“) zumindest in tabellarischer Form aufgebaut sein. Letztlich bleibt eine „ehrliche“ Tabelle mit den definierten Gefährdungen und authentischen Abstellmaßnahmen der Kern einer GBU. In dieser Tabelle sollte sich der PDCA-Ablauf (Plan-Do-Check-Act) abbilden. Das bringt Rechtssicherheit und Systematik.
Neu sind positive Entwicklungen zur GBU in Mutterschutz, Gefahrstoffanwendung, Service-/Montage-Tätigkeiten, psychischen Belastungen und Brandschutz.
Dennoch bleibt es bemerkenswert, dass in Deutschland circa 45 Prozent aller Unternehmen bis heute keine GBU durchführen [15]. Das mangelnde Bewusstsein im Hinblick auf GBUen ist insbesondere in Kleinbetrieben mit weniger als 50 Beschäftigten ausgeprägt [15]. Insbesondere wird der Nutzen einer GBU gemessen am Aufwand als zu gering angesehen, sodass mehr als acht von zehn Betrieben auf eine GBU verzichten (!). Die wesentlichen Begründungen für die Nichtdurchführung von GBUen sind,
- dass die Mitarbeiter Sicherheitsdefizite ohnehin selbst erkennen und melden oder beseitigen würden, und
- dass es im eigenen Betrieb gar keine nennenswerten Gefährdungen gebe [15].
Hier zeigt sich ein zum Teil defizitäres und naives Pflichten- und Aufgabenverständnis im Arbeitsschutz, insbesondere im Bereich der Führungskräfte und Betriebsführer. Für den industriellen Sektor, insbesondere für Mittel- und Großbetriebe ist die GBU jedenfalls mit hoher Akzeptanz „angekommen“.
Literatur
Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit – Berichtsjahr 2017. Hrsg. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Berlin 12.12.2018.
Arbeitssicherheit – eine Aufgabe der Führungskräfte. Stand: März 2014. Hrsg. Die bayerischen Metall- und Elektro-Arbeitgeber (bayme vbm) www.baymevbm.de/Arbeitssicherheit
Leitlinie Gefährdungsbeurteilung und Dokumentation, Stand: 22. Mai 2017, Hrsg. Geschäftsstelle der Nationalen Arbeitsschutzkonferenz, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), Berlin.
Beurteilen von Gefährdungen und Belastung (BGHM-Information 102); Anleitung zur systematischen Vorgehensweise, sichere Schritte zum Ziel, November 2016/Nachdruck Mai 2019, BGHM Mainz 2019.
Merkblatt A017 Gefährdungsbeurteilung – Gefährdungskatalog, Stand Oktober 2017, BGRCI (Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie), Heidelberg.
Gruber, Kittelmann, Barth: Leitfaden für die Gefährdungsbeurteilung, Ausgabe Juni 2018, Hrsg. DC Verlag e.K., Bochum.
Büdicker, K.: Struktur von Gefährdungsbeurteilungen in industriellen Großbetrieben. Forum Bayerische Gewerbeaufsicht – Bayerischer Arbeitsschutztag 2018, „Gefährdungsbeurteilung – Fluch oder Segen“, 18. Oktober 2018, Nürnberg.
Unger, R., Hettrich, R.: Gefährdungsbeurteilung – Auf aktuellem Stand? etem 3.2014: Magazin für Prävention, Rehabilitation und Entschädigung, BG ETEM, Köln 2014.
Nohl, J.: Verfahren zur Sicherheitsanalyse – Eine prospektive Methode zur Analyse und Bewertung von Gefährdungen. (Veröffentlichter Teil einer Dissertation), Wiesbaden, 1989.
DIN EN ISO 12100:2011: Sicherheit von Maschinen – Risikobeurteilung und Risikominderung, Beuth Verlag GmbH, Berlin 2011.
Informationsschrift: Erstellen von Risikobeurteilungen für Maschinen, Stand: 02/2019, Berufsgenossenschaft Rohstoffe und Chemische Industrie (BGRCI), Referat Maschinen und Produktsicherheit, Langenhagen 2019.
DIN EN ISO 10075–1–2018–01: Ergonomische Grundlagen bezüglich psychischer Arbeitsbelastung – Teil 1. Beuth Verlag GmbH, Berlin 2018.
GDA-Leitlinie Beratung und Überwachung bei psychischer Belastung am Arbeitsplatz. Stand: 11. Januar 2018, Herausgeber: Geschäftsstelle der Nationalen Arbeitsschutzkonferenz, c/o BAuA, Berlin 2018.
Sicherheitsdatenblatt: Handelsname Shell Morlina S2 BL 5, Produkt-Nr. 001D7736, Maschinenschmieröl, Shell Deutschland Oil GmbH, Hamburg 2017.
Sommer, S., Kerschek, R., Lenhardt, U.: Gefährdungsbeurteilung in der betrieblichen Praxis: Ergebnisse der GDA – Betriebsbefragungen 2011 und 2015, Ergo Med/Prakt. Arb.med. 43. Jahrgang Nr. 03/2019, Seite 13–19.
Autor: Dr.-Ing. Klaus Büdicker
Beratender Ingenieur für Betriebssicherheit, Umweltschutz und Führungskräfte-
entwicklung, Maßbach