Mit Inkrafttreten des Arbeitsschutzgesetzes 1996 wird eine Beurteilung der Arbeitsbedingungen verlangt. Die diesbezüglich durchzuführende Gefährdungsbeurteilung ist die Grundlage, um festzustellen, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind.
Wie eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen ist und wie das Ergebnis sowie die Dokumentation zu gestalten sind, ist nicht geregelt. Eine Technische Regel zum Arbeitsschutzgesetz gibt es nicht.
Seit 1996 werden aber immer wieder in verschiedenen Rechtsnormen, überwiegend Verordnungen, Gefährdungsbeurteilungen verlangt. So sind in den entsprechenden Technischen Regeln Angaben zur Durchführung und zum Umfang von Gefährdungsbeurteilungen aufgeführt. Beispielhaft seien hier die TRBS 1111 zur Betriebssicherheitsverordnung oder die TRGS 400 zur Gefahrstoffverordnung genannt. Nun also auch eine Technische Regel zur Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen für Arbeitsstätten. Das ist nur konsequent und logisch, denn die allermeisten Tätigkeiten werden von Beschäftigten an Arbeitsstätten durchgeführt.
Während sich die Gefährdungsbeurteilungen nach der TRGS 400 um Gefahrstoffe drehen und die Gefährdungsbeurteilung nach der TRBS 1111 sich um den sicheren Betrieb von Arbeitsmitteln kümmert, fasst die Gefährdungsbeurteilung nach der ASR V3 alle diese und zusätzliche Aspekte zusammen. Sie ist quasi die umfassende Gefährdungsbeurteilung.
Arbeitsmittel, für die Gefährdungsbeurteilungen nach der Betriebssicherheitsverordnung zu erstellen sind, werden üblicherweise an Arbeitsstätten betrieben. Gefahrstoffe, mit denen die Beschäftigten umgehen und deren Gefahren sie ausgesetzt sind, sind ebenfalls üblicherweise an Arbeitsstätten vorhanden. Gleiches gilt natürlich auch für Biostoffe, deren Gefährdungsbeurteilung in der TRBA 400 geregelt ist.
Laut Anwendungsbereich gilt die ASR V3 für die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung für Einrichten und Betreiben von Arbeitsstätten inklusive der Arbeitsplätze. Es sind aber auch mögliche Wechselwirkungen mit Arbeitsmitteln, Arbeitsstoffen, Arbeitsabläufen und der Arbeitsorganisation zu berücksichtigen. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, kann die Gefährdungsbeurteilung nur systematisch und fachkundig durchgeführt werden. Die Gefährdungsbeurteilung ist natürlich vor Aufnahme des Betreibens der Arbeitsstätte durchzuführen und zu dokumentieren sowie bei Bedarf zu aktualisieren. Eine Regelmäßigkeit mit Fristen ist nicht vorgesehen. Der Bedarf zur Anpassung der Gefährdungsbeurteilung kann sich aber auch aus neuen arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen oder Veränderungen des Standes der Technik, Arbeitsmedizin und Hygiene ergeben sowie dem Erkennen kritischer Situationen. Hier sind insbesondere Beinahe-Unfälle, Fehlzeiten in Folge arbeitsbedingter Gesundheitsbeeinträchtigungen sowie Erkenntnisse aus der arbeitsmedizinischen Vorsorge zu nennen, das Bekanntwerden einer Behinderung bei Beschäftigten oder Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Auch Änderungen relevanter Rechtsvorschriften oder Technischer Regeln können eine Aktualisierung veranlassen, ebenso die üblichen Anlässe wie Umgestaltung der bestehenden Arbeitsstätte, Festlegung von Arbeitsplätzen, Änderung von Arbeitsverfahren und so weiter.
Fachkunde
Wie in Technischen Regeln anderer Bereiche auch ist für die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung eine bestimmte Fachkunde gefordert. Sofern der Arbeitgeber diese Fachkunde nicht selbst besitzt, muss er sich fachkundiger Personen bedienen. Fachkundig in diesem Sinne ist, wer über die erforderlichen Fachkenntnisse verfügt, zum Beispiel eine entsprechende Berufsausbildung, Berufserfahrung oder zeitnah ausgeübte entsprechende berufliche Tätigkeit. Die Fachkenntnisse sind durch Teilnahme an Schulungen oder Unterweisungen auf dem aktuellen Stand zu halten. Abhängig von den zu beurteilenden Gefährdungen können die notwendigen Kenntnisse mehr oder weniger umfänglich und tief sein. Das gilt insbesondere für das einschlägige Vorschriften- und Regelwerk, besonders die Technischen Regeln (hier für Arbeitsstätten, aber natürlich auch für die anderen Aspekte). Da die Anforderungen an die Fachkunde abhängig von den zu beurteilenden Gefährdungen sind, müssen diese nicht zwingend in einer Person vereint sein. Für bestimmte Aspekte kann es erforderlich sein, auch andere fachkundige Personen hinzuzuziehen.
Fachkundig können insbesondere die betrieblichen Vorgesetzten oder Fachkräfte für Arbeitssicherheit oder Betriebsärztinnen beziehungsweise Betriebsärzte sein.
Gegenstand der Gefährdungsbeurteilung
Die Gefährdungsbeurteilung umfasst nicht nur den störungsfreien „Normalbetrieb“ der Arbeitsstätte, sondern geht deutlich darüber hinaus. Abnutzungserscheinungen müssen ebenso betrachtet werden wie gegebenenfalls vorhandene Wirkungsgradverluste getroffener Maßnahmen (zum Beispiel Beleuchtung, Lüftung, Kennzeichnung, Sonnenschutz), damit die Schutzziele der Arbeitsstättenverordnung zuverlässig dauerhaft erreicht werden. Auf die Veränderungen der Leistungsvoraussetzungen von Beschäftigten im Verlauf der Nutzungsdauer der Arbeitsstätte ist Rücksicht zu nehmen. So kann es bei älteren Beschäftigten schon einmal vorkommen, dass sie schlechter sehen, was mit einer höheren Anforderung an die Beleuchtungsqualität verbunden ist.
Auch Gefährdungen durch sonstige in der Arbeitsstätte anwesende Personen wie Beschäftigte von Fremdfirmen, Beschäftigte im Rahmen von Dienst- und Werkverträgen, aber auch Besucher und Kunden sind zu berücksichtigen. Ebenso trifft dies auf Beschäftigte oder Besucher ohne ausreichende Deutschkenntnisse zu, Menschen mit Behinderungen, Praktikanten, Jugendliche, werdende oder stillende Mütter und Zeitarbeitnehmer. Sind in Arbeitsstätten Beschäftigte mehrerer Arbeitgeber tätig, haben sich diese Arbeitgeber bei der Festlegung von Maßnahmen zur Vermeidung gegenseitiger Gefährdungen wie auf Baustellen abzustimmen. Das gilt aber beispielsweise auch für Bürogemeinschaften. Handelt es sich bei der Arbeitsstätte um ein Mietobjekt, sollte der Vermieter anhand einer Gefährdungsbeurteilung prüfen, ob die Vorgaben der Arbeitsstättenverordnung eingehalten werden können, weil sonst keine oder nur eine eingeschränkte Nutzung möglich ist.
Es sind übrigens auch die Informationen zu Sicherheit und Gesundheitsschutz aus der Baustellenverordnung zu berücksichtigen, wie sie in der Unterlage für spätere Arbeiten, zum Beispiel Reinigung, Reparatur oder Instandhaltung und Wartung, gefordert sind.
Diese nicht abschließende Aufzählung, deren Inhalte in der ASR V3 enthalten sind, zeigt schon, dass zur fachkundigen Informationsgewinnung viele relevante Quellen heranzuziehen sind, zum Beispiel
- Einschlägige Vorschriften und Regeln
- Technische Regeln für Arbeitsstätten und andere Technische Regeln
- Branchenspezifische Regeln und Informationen der Unfallversicherungsträger
- Herstellerinformationen wie Bedienungsanleitungen, Gebrauchsanleitungen
- Verfahrens‑, Arbeits- und Betriebsanweisungen
- Erkenntnisse über Erste Hilfe, Erkrankungen etc.
- Begehungsprotokolle, ASA-Protokolle
- Prüfbücher, Unterlagen für Instandhaltung
- Baugenehmigung und mitgeltende Unterlagen, insbesondere Brandschutzkonzepte
- Unterlage für spätere Arbeiten (nach BauStellV)
- Behördliche Anordnungen
- Messprotokolle
- Erfahrungswerte vergleichbarer Arbeitsplätze
und so weiter …
Prozessschritte der Gefährdungsbeurteilung
Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass – wie gefordert – nur ein systematisches Vorgehen zum Erfolg führt. Nach dem Vorbereiten sind entsprechend dem Handlungszyklus die Gefährdungen zu ermitteln und zu beurteilen, Maßnahmen festzulegen, deren Umsetzung zu veranlassen, ihre Wirksamkeit zu überprüfen und fortzuschreiben. Sofern erforderlich, sind neue Gefährdungen zu ermitteln und so weiter.
Dabei ist zu beachten, dass in aller Regel nicht nur eine einzige Gefährdungsbeurteilung für die Arbeitsstätte zu erstellen ist, sondern mehrere. Denn wenn beispielsweise Beschäftigte arbeitsbereichsübergreifend tätig sind wie Hausmeister oder Instandhalter sind diese Tätigkeiten sicherlich gesondert zu betrachten. Andererseits können natürlich gleichartige Arbeitsbedingungen an Arbeitsplätzen oder Tätigkeiten innerhalb einer Arbeitsstätte zusammengefasst betrachtet werden. Allerdings sind bei Bedarf auch solche Tätigkeiten zu erfassen, die temporär wie beispielsweise täglich, quartalsweise oder jährlich durchgeführt werden.
Nach dem Vorbereiten werden bei der Ermittlung möglicher Gefährdungen keine bestimmten Anforderungen an das Ausmaß (Schadensschwere) oder die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Gesundheitsschadens oder einer gesundheitlichen Beeinträchtigung gestellt. Als Gefährdungsfaktoren kommt die übliche Zusammenstellung zum Einsatz, die auch als Anhang zur ASR V3 dargestellt ist:
- Mechanische Gefährdungen
- Elektrische Gefährdungen
- Gefahrstoffe
- Biostoffe
- Brand- und Explosionsgefährdungen
- Thermische Gefährdungen
- Gefährdungen durch spezielle physikalische Einwirkungen
- Gefährdungen durch Arbeitsumgebungsbedingungen
- Gefährdungen durch physische Belastungen/Arbeitsschwere
- Gefährdungen psychische Faktoren
- Gefährdungen durch sonstige Einwirkungen
Die üblichen Untersetzungen sind im Anhang zur ASR V3 zum Teil mit typischen Beispielen verdeutlicht.
Beurteilen von Gefährdungen
Zur Beurteilung der Gefährdungen, ob Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind, sind zunächst Beurteilungsmaßstäbe erforderlich, die in der Regel aus dem einschlägigen Vorschriften- und Regelwerk so wie der Fachliteratur abzuleiten sind. Es ist also tatsächlich zuerst zu prüfen, ob die in der Arbeitsstättenverordnung aufgeführten Schutzziele durch Technische Regeln für Arbeitsstätten konkretisiert sind. Die in diesen Regeln gestellten Anforderungen, Maße und Werte bilden einen konkreten Maßstab für das Beurteilen der Gefährdung. Bei Einhaltung dieser konkreten Maßstäbe ist zu vermuten, dass die Anforderungen erfüllt sind (Vermutungswirkung der Technischen Regeln). Das gilt üblicherweise auch für andere Technische Regeln, muss aber im Einzelfall sorgfältig geprüft werden.
Sind in den Technischen Regeln keine Anforderungen zu finden, muss untersucht werden, ob andere gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse vorhanden sind, die zu der betrachteten Gefährdung passen. Das sind insbesondere Angaben zu Grenz‑, Schwellen- oder Richtwerten. Veröffentlichungen der Unfallversicherungsträger, der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) oder des Länderausschusses für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik (LASI) sind hierfür sehr hilfreich.
Fehlen solche gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse, so ist zu prüfen, ob zumindest arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse mit qualitativen Maßstäben vorhanden sind. Dazu gehören Forschungsberichte, wissenschaftliche Veröffentlichungen oder einschlägige Normen.
An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass es ohne ausreichende Fachkunde nicht möglich ist, die Gefährdungsbeurteilung sachgerecht zu erstellen. Ferner wird offensichtlich, dass die ausreichende Fachkunde häufig nicht in einer einzelnen Person verfügbar ist, sondern dass mehrere Personen zusammenarbeiten müssen, um die Gefährdungsbeurteilung sachgerecht zu erstellen.
Fehlen auch arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse qualitativer Art, ist der Arbeitgeber verpflichtet, eigenständig Beurteilungsmaßstäbe zu entwickeln und zu verwenden. Dabei sind insbesondere natürlich folgende Aspekte zu berücksichtigen:
- Art, Ausmaß, Dauer und Häufigkeit von Expositionen,
- Gefahrbringende Bedingungen, durch die eine Gefährdung bei der Arbeit wirksam werden kann (zum Beispiel Umgebungsbedingung, Zeitdruck, Unordnung oder Verschleiß)
- Durch Qualifikation oder Unterrichtung/Unterweisung erworbene Befähigung der Beschäftigten, eine Gefährdung rechtzeitig wahrzunehmen und einschätzen zu können.
An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass bei der Durchführung der Beurteilung alle Betriebszustände wie Normalbetrieb, Auf‑, Um‑, Abbau, Reinigung, Wartung, Störung etc. zu betrachten sind. Ebenso gilt dies für alle den Gefährdungen ausgesetzten Beschäftigten inkl. besonderer Personengruppen, wie sie oben bereits aufgelistet sind, und Gefährdungen durch die Anwesenheit sonstiger Personen, sowie auch Wechselwirkungen der verschiedenen Aspekte.
Das Ergebnis der Beurteilung der Gefährdungen kann in die Beurteilungsergebnisse
- Maßnahmen sind erforderlich,
- der ermittelte Beurteilungsmaßstab ist eingehalten und
- eine Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz ist anzustreben
eingeteilt werden.
Festlegen von Maßnahmen
Hierbei wird auf die übliche Maßnahmenhierarchie abgestellt, wobei zunächst Gefährdungen an der Quelle beseitigt oder reduziert werden sollen und zum Schluss Gefährdungen durch Qualifikation der Beschäftigten minimiert werden. Die festzulegenden Maßnahmen müssen dem Stand der Technik, der Arbeitsmedizin und der Hygiene sowie den Anforderungen der Ergonomie entsprechen. Insbesondere sind die in den Technischen Regeln für Arbeitsstätten bekannt gemachten Erkenntnisse zu berücksichtigen. Auch gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse sind einzubeziehen; die ASR entfalten Vermutungswirkung.
Insgesamt müssen die Maßnahmen geeignet sein, die ermittelten Gefährdungen soweit zu beseitigen oder zu reduzieren, dass das Schutzziel erreicht wird. Dabei kann der Arbeitgeber von den Maßnahmen in den Technischen Regeln abweichen, sofern er die gleiche Sicherheit und den gleichen Schutz der Gesundheit der Beschäftigten durch andere Maßnahmen sicherstellt. Das ist zu dokumentieren.
Im Übrigen ist die Unterweisung der Beschäftigten integraler Bestandteil jeglicher Maßnahmen.
Weitere Schritte im Handlungszyklus
Die festgelegten Maßnahmen sind wie die Gefährdungen selbst zu priorisieren und entsprechend umzusetzen. Dabei sind die sich aus der Maßnahme ergebenden Umsetzungsschritte zu konkretisieren. Umsetzung und Wirksamkeit der festgelegten Maßnahmen sind, wie in jeder Gefährdungsbeurteilung, zu überprüfen.
Die Dokumentation ist Bestandteil der Unterlagen nach § 6 Arbeitsschutzgesetz und muss vor Aufnahme der Tätigkeit vorliegen. Die Dokumentation selbst erfolgt schriftlich und kann sowohl als Papierdokument oder in elektronischer Form vorliegen. Sie muss in einer verbindlichen Version verfügbar sein. Der Umfang der Dokumentation richtet sich unter anderem nach der Betriebsgröße und der Betriebsstruktur sowie Art und Ausmaß der Gefährdungen. Bei komplexeren Situationen und gegebenenfalls hohem Gefährdungspotenzial müssen der Dokumentation unter Umständen weitere Unterlagen beigefügt werden, um deren erforderliche Plausibilität und Aussagekraft zu erhöhen. Die ASR V3 stellt Mindestanforderungen an die Dokumentation:
- Die jeweilige Bezeichnung der erfassten Arbeitsplätze, Arbeitsbereiche und Tätigkeiten sowie gegebenenfalls der zusammengefassten gleichartigen Arbeitsplätze oder Tätigkeiten
- Die jeweils festgestellten Gefährdungen
- Die Ergebnisse der Beurteilung der festgestellten Gefährdungen
- Die bezogen auf die festgestellten Gefährdungen jeweils festgelegten Maßnahmen
- Das Ergebnis der Wirksamkeitsüberprüfung.
Die Gefährdungsbeurteilung ist kontinuierlich zu überprüfen und zu aktualisieren. Wie bereits oben beschrieben, ist eine regelmäßige Frist jedoch nicht vorgesehen.
Hier finden Sie die ASR V3 zum Download bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.
Autor: Michael Kloth
Vorstand Ressort Sicherheit im VDSI – Verband für Sicherheit und Gesundheit und Umweltschutz bei der Arbeit e. V.